Buchvorstellung DDR-Literatur zwischen Systemtreue und eigener Ästhetik
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30. Oktober 2024, 04:00 Uhr
Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich hat sein 1996 erschienenes Buch "Am anderen Zeit-Ort. Literatur der DDR" noch einmal neu aufgelegt und dabei um wichtige neue Quellen und Erkenntnisse ergänzt. Es ist eine Rundumschau der Literatinnen und Literaten in der DDR, ihrer Werke, Gedanken und Verstrickungen, von Christa Wolf über Heiner Müller bis zu Spätgeprägten wie Lutz Seiler.
- Der Autor des Buches "Am anderen Zeit-Ort: Literatur der DDR", Wolfgang Emmerich, hat für die Neuauflage neue Quellen und Erkenntnisse einfließen lassen.
- Emmerich betrachtet die DDR-Literatur zwischen eigenständigen literarischen Sprachen und ästhetischen Mängeln.
- Brisant ist, dass in dem antifaschistischen Staat DDR der Holocaust literarisch kaum betrachtet wurde.
Die DDR gibt es seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr, aber ihre Hinterlassenschaften werden weiter analysiert. In der Politik intensiver denn je – mit Blick auf Wahlentscheidungen etwa in den ehemaligen DDR-Regionen – und daran anschließend auch in soziologischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht.
Dirk Oschmanns Thesen von der "Erfindung der Ostdeutschen" (durch die westdeutschen Medien) haben viele Menschen bewegt. Und so erscheint es folgerichtig, dass auch ein zuletzt 1996 erschienenes Buch zur Literatur der DDR jetzt neu aufgelegt wurde.
Zeit-Ort DDR
Als Siebzehnjähriger übersiedelte Wolfgang Emmerich selbst von Ost- nach Westdeutschland und als Literaturwissenschaftler beschäftigt er sich seitdem immer wieder mit dem Phänomen DDR-Literatur. Sein Buch "Am anderen Zeit-Ort: Literatur der DDR" ergänzt die frühere Ausgabe um einige neue Quellen und Erkenntnisse.
Der "Zeit-Ort DDR", wie er im Buchtitel benannt wird, verweist auf die Herangehensweise des Literaturwissenschaftlers, der sich seinem Gegenstand zunächst nicht mit einer bestimmten These über die DDR und ihre Literatur nähert. Ihn interessiert, warum und was Autorinnen und Autoren in einem geschichtlichen Moment geschrieben haben, in welcher Form sie welchen Stoff gewählt haben.
Anders als manch andere Untersuchung geht diese also nicht von speziellen Zuschreibungen aus; Emmerich behauptet zum Beispiel nicht, dass das in der DDR Geschriebene heute sowieso kaum noch von Interesse sei, weil es zu viel Ideologie, zu viel Stillhalten, zu wenig Blick in die Welt und in die Moderne geliefert habe. Oder (was ebenfalls anderswo so zu lesen ist), dass nur die Werke der Dissidenten, Ausgereisten oder Ausgebürgerten der Rede wert seien.
Experimentierfreudige DDR-Lyrik
Emmerich benennt ästhetische Mängel, sieht aber auch die eigenständigen Leistungen etwa eines Wolfgang Hilbig, einer Brigitte Reimann oder eines Uwe Johnson. In der DDR-Lyrik ging es für Emmerich innovationsfreudiger zu als in der Prosa. Und insgesamt litten die Autoren aus der DDR eben auch darunter, dass viele Werke der westlichen Moderne im Osten gar nicht oder nur schwer zu bekommen waren.
Die DDR-Literatur beendet Emmerich nicht punktgenau mit dem Ende der DDR; vielmehr schaut er auch auf in der DDR Aufgewachsene wie Jana Simon, Jenny Erpenbeck oder Lutz Seiler, die sich in ihren Büchern ja an ihre Jahre der Kindheit und Jugend in der DDR erinnern und damit ein großes Publikum erreicht haben.
Im Wesentlichen aber dreht es sich um das, was in den 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahren von Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Volker Braun, Heiner Müller, Stephan Hermlin, Jürgen Fuchs und vielen anderen zum einen an Texten und Büchern vorgelegt, aber auch an Haltungen zur DDR gelebt wurde.
Verfechter eines wahren Sozialismus
Ein Aspekt, der die DDR-Literatur dabei kennzeichnete: Gerade die schon in der DDR etablierten und dann auch schnell im gesamtdeutschen Betrieb verankerten Christa Wolf und Heiner Müller, beide schon gestorben, oder auch Volker Braun haben sich bis zum Ende der DDR als Verfechter eines wahren Sozialismus verstanden.
Sie verwarfen nicht die Idee des Sozialismus, sondern die Form der konkreten Umsetzung. Der Gedanke der sozusagen wahren linken Praxis und Haltung nahm in der DDR-Literatur einen großen Raum ein.
Für eine neue Gesellschaft
Ein weiteres und mit der sozialistischen Utopie verknüpftes Phänomen der DDR-Literatur war ihre Hinwendung zu dem, was Emmerich, der hier den Soziologen Wolfgang Engler zitiert, die arbeiterliche Gesellschaft nennt. Ausdrücklich war sie von der Gesellschaft der Kleinbürger zu unterscheiden, war der Arbeiter als Gegenbild des Spießers zu zeichnen.
Bei vielen gab es eine Begeisterung für dieses Ideal einer proletarischen, aufs Kollektiv statt auf den Einzelnen orientierten Gesellschaft. Romane wie "Spur der Steine" von Erik Neutsch oder "Franziska Linkerhand" von Brigitte Reimann bezeugen es ebenso wie manche Gedichte von Volker Braun. Texte, die das Individuum hier, das Gemeinwohl dort dialektisch zusammenbringen wollten, aber doch auch drastisch dem Bürgersöhnchen mit seinem verfeinerten Ich-Bewusstsein eine Absage erteilten.
Allerdings, etwa bei Volker Braun und Heiner Müller, wird diese Aufbruchstimmung dann in den 80ern von Resignation überlagert, der reale Sozialismus erscheint nun als ein in sich erstarrtes System.
Holocaust in der DDR-Literatur kaum behandelt
Der womöglich interessanteste und auch brisanteste Teil dieses Buches ist der, in dem sich Emmerich dem Geschichtsverständnis der DDR-Literatur widmet – und hier vor allem der Behandlung des Themas Holocaust. In der BRD in verschiedensten Formen aufgenommen, wurde dieses Thema, was zunächst verwundert und erschreckt, bis auf wenige Ausnahmen (Jurek Beckers "Jakob der Lügner") in der Literatur kaum behandelt. Hier liefert Emmerich eine Analyse und sagt: "Die meisten Schriftsteller der DDR schreiben über vier Jahrzehnte hin, als ob es den Holocaust nie gegeben habe."
Dafür gibt es mehrere Gründe: So hat man vor allem die Rolle und die Widerstandsbefähigung der Kommunisten ins Zentrum der Literatur über den Zweiten Weltkrieg gerückt, was als politische Doktrin auch von der Literatur übernommen wurde.
Die meisten Schriftsteller der DDR schreiben über vier Jahrzehnte hin, als ob es den Holocaust nie gegeben habe.
Die DDR-Geschichtswissenschaft hat den Faschismus wesentlich als radikale Form des Kapitalismus begreifen wollen – seine irrationalen, antisemitischen und rassistischen Motivationen hingegen weniger beachtet. Und ein weiterer Aspekt dazu: "Bei den älteren jüdischen Autoren von Arnold Zweig und Seghers bis zu Heym und Hermlin ist der Drang unverkennbar, sich der ungeliebten jüdischen Identität zu entledigen und an deren Stelle die kommunistische politische Identität zu setzen."
Lebensmodelle für Literaten
Viele weitere Phänomene beschreibt und analysiert Emmerich, etwa den jeweils speziellen Status einer Christa Wolf, eines Wulf Kirsten oder eines Christoph Hein im DDR-Kulturbetrieb. Es gab, so erfahren wir, zwischen Dissidenten, Mitläufern, Geduldeten, Verbotenen, Ausgebürgerten die verschiedensten Schreib- oder auch Schweige-Modelle für Autorinnen und Autoren der DDR.
Es war denn doch ein ziemlich bewegter, über die Jahre sich stets verändernder Literaturbetrieb. Wer sich dafür interessiert und mehr will als knackige Pauschalurteile über die Literatur der DDR – dem ist dieses Buch zu empfehlen.
Quelle: MDR KULTUR (Jörg Schieke)
Redaktionelle Bearbeitung: op
Das Buch
Wolfgang Emmerich: "Am anderen Zeit-Ort"
Literatur der DDR
288 Seiten, gebunden, 28 Euro
ISBN 978-3-8353-5704-4
Wallstein Verlag
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 30. Oktober 2024 | 18:05 Uhr