Musikgeschichte Weihnachtsoratorium von Bach: So entstand das Meisterwerk vor 290 Jahren
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24. Dezember 2024, 04:00 Uhr
Vor 290 Jahren, am 25. Dezember 1734, erklang in Leipzig erstmals öffentlich das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Wenig später geriet es jedoch fast in Vergessenheit, bevor es erst im 20. Jahrhundert zu einem Riesenerfolg wurde. In unzähligen deutschen Städten wird es jedes Jahr Weihnachten aufgeführt. Jüngst wurde seine Geschichte mit "Bach. Ein Weihnachtswunder" fürs Fernsehen verfilmt. Doch seine Entstehung und spätere Wiederentdeckung bergen noch immer einige Geheimnisse.
- Einige Stücke des Weihnachtsoratoriums hatte Bach schon vorher komponiert und mit anderen Texten aufgeführt.
- Mit seinem Vertrag als Leipziger Thomaskantor hatte sich Bach verpflichtet, nicht zu lang und opernhaft zu komponieren – was zu Spannungen zwischen ihm und den Verantwortlichen führte.
- Das Weihnachtsoratorium war über etwa zwei Jahrhunderte in der breiten Öffentlichkeit weitgehend vergessen, bevor es im 20. Jahrhundert zum Sensationserfolg wurde.
Vor 290 Jahren wurde in Leipzig das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach (1685–1750) uraufgeführt – verteilt auf mehrere Tage und Kirchen. Los ging es am 25. Dezember 1734 in der Nikolaikirche mit Pauken und Trompeten, als die erste Kantate mit ihrem markanten Eingangschor "Jauchzet, frohlocket" erklang. Der sechste Teil kam erst fast zwei Wochen später beim Epiphaniasfest am 6. Januar 1735 zu Gehör.
Musik für Weihnachtsoratorium war Zweitverwertung
Wobei der Begriff "Uraufführung" eigentlich nicht ganz zutreffend ist, denn viele der hier zur Preisung Gottes und Christi Geburt dargebotenen Musikstücke erklangen schon vorher, im ganz profanen weltlichen Rahmen. Wenn auch mit einem deutlich anderen Text, wie der Bachforscher und Intendant des Leipziger Bachfestes, Michael Maul, weiß: "Viele Stücke im Weihnachtsoratorium gehen zurück auf weltliche Huldigungsmusiken, die Bach zu Ehrentagen von Mitgliedern der Kurfürsten-Familie in Dresden komponiert hat."
Schon der Opener "Jauchzet, frohlocket" sei zwei Jahre vorher in Leipzig zum Geburtstag der Kurfürstin erklungen, als Bach die Musik mit seinem Collegium Musicum aufgeführt habe. Maul findet sogar, dass der Text "Tönet ihr Pauken" mit folgendem Paukenwirbel und "Erschallet Trompeten" mit folgender Fanfare bei der ursprünglichen Glückwunsch-Kantate besser zur Musik passe als beim Weihnachtsoratorium, wo es stattdessen "Jauchzet frohlocket, auf preiset die Tage" heißt. Offenbar sei Bach beim Schreiben selbst kurz durcheinandergekommen, denn in seiner Handschrift des Weihnachtsoratoriums habe er in einer Stimme zunächst versehentlich den alten Text geschrieben und wieder durchgestrichen. Eine solche Zweitverwertung von Musikstücken mit neuen Texten hätten damals viele Komponisten betrieben, so Maul.
Viele Stücke im Weihnachtsoratorium gehen zurück auf weltliche Huldigungsmusiken, die Bach zu Ehrentagen von Mitgliedern der Kurfürsten-Familie in Dresden komponiert hat.
Nerv der Leipziger getroffen
Der Bachforscher bedauert, dass zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums keine Reaktion der Menschen überliefert sei: "Es gibt null Reaktion der Zeitgenossen. Das ist wirklich schlimm", beklagt er. Eine Musikkritik habe es damals noch nicht gegeben.
Er könne sich aber nicht vorstellen, dass die Leute damals völlig teilnahmslos dagesessen hätten. Immerhin sei die Musik für Bachs Verhältnisse relativ volksnah gewesen und sehr von Tanzmelodien geprägt. Maul sagte, er könne sich vorstellen, dass Bach damit die Nerven der Leipziger besser getroffen habe als mit den extrem komplexen, polyphonen Chören die er gleich nach Amtsantritt als Thomaskantor 1723 in Leipzig aufführen ließ und von denen, so Maul, manche Zuhörer "schlichtweg überfordert waren".
Es gibt null Reaktion der Zeitgenossen. Das ist wirklich schlimm!
Nicht zu lang und opernhaft
In seinem Anstellungsvertrag als Thomaskantor hätte Bach 1723 versprechen müssen, dass seine Kirchenmusik "nicht zu lang" und "nicht opernhaftig" werde, sondern vielmehr die Zuhörer zur Andacht ermuntern solle. Das habe auch schon Bachs Vorgänger, Johann Kuhnau, unterschreiben müssen, so Maul.
Der Hintergrund ist, so Maul, dass sich in Leipzig das erste bürgerliche Opernhaus Mitteldeutschlands befunden habe, wo bei Handelsmessen in einem Hinterhof am Brühl Opern aufgeführt wurden. Hier habe es Wechselwirkungen gegeben, beispielsweise durch Musiker, die hier wie dort musizierten, wodurch eine Art "opernhafter Ton in die Kirchenmusik" gekommen sei. Auch hätten in der Zeit die Da-Capo-Arien und das Rezitativ, ursprünglich für die Oper entwickelt, Einzug in die Kirchenmusik gehalten. "Da haben wirklich manche Theologen Zeter und Mordio geschrien", so Maul.
Zwei Jahrhunderte kaum beachtet
Nach Bachs Tod 1750 geriet dessen Schaffen für die breite Öffentlichkeit lange Zeit in Vergessenheit. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte eine Bach-Renaissance. Diese ist vor allem dem Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) zu verdanken, der Bachs Matthäus-Passion 1829 mit der Berliner Sing-Akademie erneut zu Gehör brachte.
Doch bis auch das Weihnachtsoratorium wieder populär wurde, sollte es noch länger dauern. Erfolgte dessen erste belegte Wiederaufführung in den 1850er-Jahren, könne man die Aufführungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zählen, so der Musikwissenschaftler Maul. Erst ab den 1920er-Jahren habe es an Fahrt aufgenommen und ab den 1950er-Jahren sei die Rezeption regelrecht explodiert, so dass das Weihnachtsoratorium im deutschsprachigen Raum heute wohl häufiger aufgeführt werde als die Bach-Passionen: "Es ist eine Erfolgsgeschichte im 20. Jahrhundert!"
Es ist eine Erfolgsgeschichte im 20. Jahrhundert!
Ein Grund für die Spätzündung ist laut Maul, dass die maßgeblichen Bachforscher mit dem Stück ihre Probleme hatten – auch, weil sie um die Zweitverwertung weltlicher Stücke im Weihnachtsoratorium gewusst hätten. Selbst dem wichtigen "Bach-Influencer" des frühen 20. Jahrhunderts, Albert Schweitzer, sei das Werk irgendwie nicht geheuer gewesen, so Maul. Er empfahl: Wenn schon aufführen, dann ganz schön kürzen.
Quelle: MDR KULTUR (Annett Mautner im Gespräch mit Michael Maul)
Redaktionelle Bearbeitung: op, hki
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Dezember 2024 | 18:00 Uhr