Bautzen Ein Jahr in der Oberlausitz: Wie geflüchtete Ukrainerinnen hier leben

27. Februar 2023, 19:00 Uhr

Ein Jahr liegt Putins Invasion in die Ukraine zurück. Tausende ukrainische Familien flohen vor den Raketenangriffen in Richtung Westen. MDR SACHSEN hat mit geflüchteten Ukrainerinnen gesprochen, die nun fast ein Jahr in Bautzen und Cunewalde leben und gefragt, wie es ihnen hier geht.

Für Yevheniia, Daria und Vilka hat der Krieg nicht mit Putins Einmarsch vor einem Jahr begonnen - sie sind mit dem Krieg aufgewachsen. Ihre ostukrainische Heimatstadt Popasna im Oblast Luhansk liegt in der umkämpften Donbass-Region. "Seit 2014 ist für uns Krieg", sagt die 19-jährige Yevheniia. Irgendwie arrangierten sich rund 21.000 Bewohner mit dem Leben zwischen Alltag und Luftalarm. Doch nun gibt es Popasna nicht mehr, nur eine Wüste der Zerstörung. "Die ganze Stadt ist kaputt", sagt die junge Frau. Menschen lebten dort nicht mehr.

Yevheniia: Russischer Vater hält Zerstörung für Fake

Yevheniia kam im März nach Deutschland. Sie wohnt mit Vilka und Darja in Cunewalde bei Steffi. Das sei ihre deutsche Mutter, denn die 33-jährige Cunewalderin kümmert sich um die Mädchen. Die ersten Wochen verbrachte Yevheniia im Ausnahmezustand. Plötzlich brach der Kontakt zu Mutter und Opa in Popasna ab und jemand schickte ein Foto von ihrem brennenden Haus. Yevheniias Vater, der in Russland lebt und putintreu ist, meinte nur: "Das ist nicht unser Haus, das ist Fake." Einen Monat lang hörte sie nichts.

Dann erhielt sie die erlösende Nachricht von einem Helfer, dass Mutter und Opa lebten und nach Bachmut geflüchtet waren. Yevheniias Opa ist inzwischen an Altersschwäche gestorben. Mit der Mutter hält die 19-Jährige Kontakt, auch wenn immer wieder  in der Ukraine das Stromnetz zusammenbreche und das Internet ausfalle. Zwischen ihrem russischen Vater und ihr herrscht Funkstille. "Wir haben keine Themen, worüber sollen wir sprechen?", fragt sie.

Eine junge Frau hält ein Smartphone in Händen
Das Studium setzen die Ukrainerinnen, so weit es geht, online fort, oft übers Handy. (Symbolbild) Bildrechte: Colourbox.de

Vor einem Jahr hatte Yevheniia noch an der Universität in Kiew im Managementbereich studiert. Auch in Cunewalde setzt die junge Frau ihr Studium fort, nun online, teils mit dem Handy. Außerdem besucht sie wochentags in Bautzen die Sprachschule und lernt ebenso wie Vilka und Daria Deutsch. Wenn sie die sprachlichen Voraussetzung erfüllt, möchte Yevheniia in Deutschland ein Studium beginnen.

Vilka: Ukrainische Diaspora in Cunewalde

Auch die 18 Jahre alte Vilka studiert, vor einem Jahr noch an der Universität in Bachmut. Das ist längst nicht mehr möglich. Studieren gehe nur noch online in der "ukrainischen Diaspora in Cunewalde", wie die Mädchen es nennen. Oft ist Vilka im Thespis Zentrum in Bautzen, nimmt dort an Theaterprojekten teil, trifft sich mit Leuten. "Thespis ist ein magischer Platz", sagt sie.

Als Vilka mit dem Studium in der Ukraine begann, wusste sie noch nicht, wo sie beruflich mal hinmöchte. Die Flucht wird zur Zäsur. Vilka hat viele Ideen und bringt eine Leichtigkeit in das Trio. Sie möchte in einem Tattoostudio arbeiten, sagt sie und präsentiert ihr Erstlingswerk an Yevheniias Ohr, das jetzt ein orangerotes Zickzackband ziert.

Daria: Brüder an der Front, Vater gefallen

Während die beiden Jugendlichen mitten in der Ausbildung vom Krieg ausgebremst wurden, arbeitete Daria bereits. Die 23-Jährige war Lehrerin in einer Grundschule in Popasna. Die gibt es nun nicht mehr. Ihre beiden Brüder kämpfen jetzt an der Front, der Vater ist im Oktober in Bachmut gefallen, sagt Daria mit schwermütigem, dunklem Blick. Wenn sie zu lange keine Nachricht von ihren Brüdern erhalte, packe sie die Angst und sie tue nachts kein Auge zu.

In der Ukraine sind so viele Kinder gestorben, es ist schwer, Russland nicht zu hassen.

Daria ehemals Grundschullehrerin in Popasna

Mit einem Job hier in Deutschland will sich Daria momentan nicht binden. Die 23-Jährige ist auf dem Sprung: Sollten ihre Mutter und der 93 Jahre alte Großvater sie brauchen, fahre sie sofort zu ihnen. "Das würde deine Mutter nie von dir verlangen", werfen Vilka und Yevheniia ein.

"In der Ukraine sind so viele Kinder gestorben, es ist schwer Russland nicht zu hassen", sagt Daria. Vor allem wenn sie im Internet sieht, dass dort alles normal ist, man Konzerte macht, kommt ihr die Galle hoch. "Ich verstehe, wenn Russen aus Angst vor dem Regime nichts sagen, aber sie sollen bitte nicht zu Partys gehen."

Yana: Prorussische Demos am Kornmarkt schwer zu ertragen

Yana Humenna möchte möglichst kein Russisch sprechen. Es tue ihr weh, sagt die 36-jährige Ukrainerin und legt die Hand auf ihr Herz. "Alle meine Freunde in der Ukraine sind im Krieg. Wenn dann russische Menschen kommen und sagen, das bin nicht ich, das ist Putin, dann ist das für mich schwer erträglich." Die Ukraine sei schließlich ihr Vaterland und sie habe im Krieg viele Freunde verloren.

Viele Jahre hatte die Choreografin Kunst- und Theaterprojekte im Donbass gemacht – mit Kindern und Jugendlichen, die dort Krieg und Flucht erlebten. Vor einem Jahr wurde sie selbst Geflüchtete. Mit ihren beiden Kindern verließ Yana Humenna Kiew und lebt jetzt in einer Wohnung in Bautzen. Das eine Jahr sei schwer für sie gewesen. "Alles war neu. Neue Menschen, neue Traditionen." Aber sehr viele hätten ihr geholfen, zum Beispiel mit den Papieren, der Wohnung, dem Jobcenter und auch, die Sprache zu lernen. Das sei auch heute noch so.

Beruflich ist Yana als Künstlerin weniger ortsgebunden. Ihre neue Heimstatt ist das Thespis Zentrum in Bautzen, wo sie ihre Projekte umsetzen kann. Unter anderem hat sie zwei Theaterstücke für Kinder geschrieben. Yanas elfjähriger Sohn und ihre 17-jährige Tochter gehen jetzt in Bautzen zur Schule, haben dort mittlerweile normalen Kontakt zu Klassenkameraden. Auch habe ihr Sohn Freunde übers Fußballspielen gefunden. Nur mit der Kommunikation sei es für den Elfjährigen ein bisschen schwer. Er ist mit dem Deutschlernen nicht ganz so hinterher wie Mutter und Tochter.

Die Situation in der Ukraine ist schlecht. Mit allem. Mit Essen, Strom und dann diese Scheißbomben.

Yana Humenna Choreografin

Auch wenn sie ihre Verwandten und vor allem ihren Mann vermisst, der jetzt in Kiew beim Roten Kreuz arbeitet – für die Mutter zweier Kinder war es die richtige Entscheidung, die Ukraine zu verlassen. "Ich will zurück, aber es ist nicht sicher für meine Kinder." Yana Humenna hat einen Kloß im Hals, wenn sie daran denkt, wie lange der Krieg nun dauert und wie schlecht die Situation in ihrem Land ist: "Mit allem: Essen, Strom und dann diese Scheißbomben." Aber ihre Leute seien sehr stark, betont 36-Jährige.

Schwer zu ertragen sind für Humenna die prorussischen Montagsspaziergänge am Bautzener Kornmarkt, sagt sie. "Ich verstehe diese Paraden nicht. Wenn es heißt, die Ukraine ist schuldig, weil dieses oder jenes teurer wird. Das stimmt nicht."

Olga: Putin führt mit Europa Krieg

Olga Bakukha lebt seit fast einem Jahr in Cunewalde und arbeitet dort als Grundschullehrerin. Sie unterrichtet geflüchtete ukrainische Kinder und hilft ihnen bei der Integration. Die 47-Jährige stammt aus dem ostukrainischen Städtchen Nikolajewka, in Ukrainisch Mykolajiwka, und hatte dort in einer Schule als Geschichtslehrerin gearbeitet.

Nach ihrer Flucht mit ihrer Familie hatte sie zunächst online weiter unterrichtet, dann ergab sich die Möglichkeit, in Cunewalde zu arbeiten. Ohne Arbeit fühlt sich Olga Bakukha nicht wohl. "Für ukrainische Leute ist es sehr wichtig, auch in Deutschland zu arbeiten. Wir wollen nicht zu Hause sitzen und nichts machen", sagt sie.

Nachdem die erste Zeit nach der Flucht auch für die Familie sehr schwer gewesen sei, habe sich das Leben normalisiert. "Mir gefällt Bautzen und ich habe mich ein bisschen in Cunewalde verliebt", sagt Olga Bakukha. Das Dorf ähnle ihrer Stadt in der Ukraine. "In Cunewalde wohnen meine neuen Freunde. Aber ich vermisse meine Verwandten und meinen Sohn", fährt die Mutter fort. Ihr Sohn ist 26 und musste, wie alle Männer im waffenfähigen Alter, in der Ukraine bleiben.

Als Geschichtslehrerin weiß ich, dass alles Zeit braucht, auch der Krieg.

Olga Bakukha Lehrerin

Fragt man Olga Bakukha nach ihrer Ansicht zum Krieg, zieht sie historische Vergleiche, etwa mit dem Hitler- und Mussolini-Regime. Es sei ein Krieg des Regimes. "Das Problem sind nicht die russischen Menschen, sondern der Präsident." Wenn man in einem militärischen Regime lebe, sei es schwer, etwas dagegen zu sagen.

"Als Geschichtslehrerin weiß ich, dass alles Zeit braucht, auch der Krieg", fügt sie hinzu. Und Putin habe napoleonische Pläne. Es gehe ihm um mehr als die Ukraine. "Putin führt nicht mit der Ukraine, sondern mit Europa Krieg."

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalreport aus dem Studio Bautzen | 24. Februar 2023 | 16:30 Uhr

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