Reportage Wenn die Wunden des Krieges klaffen: Im Flixbus Richtung Ukraine

22. Februar 2023, 19:00 Uhr

Ein ganz normaler Fernbus mit Stopp in Dresden vereint viele Schicksale – alle führen in den Krieg. Wer fährt heute in die Ukraine und warum? Eine Fahrt mit Anastasia, Karina, Sophia, Dimitri und Larissa im Flixbus Richtung Kiew.

Der Krieg ist wie eine klaffende Wunde, deren Ränder immer mehr ausfransen. Eine Wunde, deren Blut in den Verästelungen Europas tröpfchenweise zu Schicksalen gerinnt. Das wird klar im Flixbus 1304, der am Montag, den 6. Februar um 9:15 Uhr Richtung Warschau und von dort nach Kiew startet.

Nachfrage nach Flixbus-Tickets in die Ukraine weiter hoch

Während sich in Dresden der Verkehr durch die Fritz-Löffler-Straße wahlweise stadtein- oder auswärts schiebt, Tausende Menschen ihre Arbeitswoche beginnen und fast jeder auf ein bisschen Sonne hofft, warten am Hauptbahnhof Dresden Frauen und junge Männer auf den Fernbus Richtung Kiew. Im Gepäck: ihre mit dem Krieg verwobenen Leben.

Sechsmal am Tag startet ein Flixbus in Richtung Ukraine mit Umstieg in Warschau, Berlin oder Prag. Etwa 27 Stunden dauert die Fahrt nach Kiew. Die Tickets sind bereits eine Woche vorher knapp. "Die Nachfrage nach Verbindungen zwischen Deutschland und der Ukraine ist seit dem Frühjahr sehr hoch", schreibt Isabella Domke, Sprecherin von Flixbus, auf Anfrage von MDR SACHSEN.

Am 24. Februar 2022 hat Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Tausende Menschen verlassen seitdem jeden Tag ihr Heimatland. Etwa acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind laut UN bislang aus ihrem Land geflohen. Jetzt hievt der Busfahrer letzte Gepäckstücke in den vollgestopften Laderaum. Die Luke fällt zu, der Motor springt an, der Bus gleitet wie ein Schiff im Verkehr.

Anastasia sitzt schon länger im Bus, beißt in ihr Brötchen und schaut aus dem Fenster. Sophia steckt sich die Kopfhörer in die Ohren. Karina scannt ihr Handy und schaut mit pinkleuchtender Jacke in die Runde. Dimitri mustert seinen skeptischen Sitznachbarn und Larissa schließt die Augen, als der Bus startet. Larissa ist die Älteste. Fröhliche Falten, rosafarbene Mütze, eine Seniorin. Es ist 9:25 Uhr und mucksmäuschenstill. Fast alle Plätze sind besetzt. Der Bus wiegt Larissa in den Schlaf und sich selbst aus der Stadt.

Der Tagesschau-Ukraine-Ticker meldet: +++ Erster Leopard-Panzer aus Kanada trifft in Polen ein +++ Bildungsministerin Stark-Watzinger in Kiew eingetroffen +++

Kriegsanfang und Flucht

Anastasia beginnt zu erzählen. Vom Anfang des Krieges, den ersten Tagen mit 40 Personen - darunter vielen Kindern -  im Keller des Krankenhauses in Kiew, dem Abschied vom Mann, vom Vater und der Großmutter, der Flucht mit dem Zug von Kiew nach Polen und weiter nach Deutschland. Zusammen mit der Mutter, der Schwester und ihrer fünfjährigen Tochter.

Sie wohnen jetzt in Leipzig. Im September konnte die 30-jährige Anastasia nach Monaten ihren Mann wieder in die Arme schließen. Doch der Anlass war ein trauriger "Er durfte ausreisen, weil er sehr krank ist", erzählt sie in Englisch. "Natürlich bin ich glücklich ihn zu sehen, doch es geht ihm nicht gut." Sorge schwingt mit. Er sei früher so stark und athletisch gewesen, jetzt sitze er im Rollstuhl. Anastasia tippt in ihr Handy die Übersetzung. Diagnose Hüftnekrose. Die Knochen ihres Mannes sterben im Hüftgelenk ab.

Die Erinnerungen der Großmutter

"Niemals habe ich gedacht, dass ein Krieg kommt", sagt sie. Ihre Oma habe immer von den  Luftschutzbunkern im Zweiten Weltkrieg erzählt. Wie sie in den Feuerpausen nach Nahrung suchte, sich selbst über eine einzelne Möhre freute. "Krieg war für mich gestern, Vergangenheit, ganz weit weg. Jetzt ist er ganz nah." Der Krieg hat Anastasia ihrer Heimat beraubt und ihrer Existenz. Sie zeigt auf dem Handy die Bilder aus dem Notlager im Keller, viele Menschen auf Pritschen, dazwischen Kinder, die spielen, Kuscheltiere, die festgehalten werden. Lange Schlangen vor dem Supermarkt, bombardierte Häuser, in einem davon war ihr Kosmetikstudio.

Der Krieg ist ein Machtspiel

Anastasia lernt gerade Deutsch, danach will sie arbeiten - als Kosmetikerin. Deswegen sitzt sie im Bus. "Ich habe eine Weiterbildung in Lviv (Lemberg)", erklärt sie. In drei Tagen wird sie zur Spezialistin für "Permanent Make-up". Klappt alles, will sie ihr eigenes Studio in Leipzig eröffnen. "Deutsche legen weniger Wert auf Kosmetik als Ukrainerinnen. Doch das ist das, was ich kann. Es muss weitergehen." Anastasia glaubt nicht mehr daran, dass der Krieg schnell vorbei ist. "Der Krieg ist ein Machtspiel, alles dreht sich ums Geld. Viele verdienen an den Waffen."

Familien verlieren ihre Väter

Ihr Mann habe nie in den Krieg gewollt, "wie viele andere Männer in der Ukraine nicht in den Krieg wollen". Anastasia tippt in ihr Handy, da ihr in Englisch die Worte fehlen. "Er will nicht kämpfen, weil er nie dafür ausgebildet wurde. Er hat niemals eine Waffe in der Hand gehabt", schreibt sie. Die Gefahr, dass er sterbe, sei hoch. "Er will nicht, dass seine Familie und seine Tochter ohne Vater zurückbleiben." Anastasia wünscht sich den Sieg der Ukraine, doch "unglücklicherweise verlieren viele Familien ihre Väter und das ist sehr schmerzvoll."

Sophia aus Kupjansk

Sophia links vom Gang wird hellhörig. Sie stöpselt ihre Kopfhörer aus und fragt: "Redet ihr über den Krieg?" Die 20-Jährige stammt aus Kupjansk in der Oblast Charkiw in der Ostukraine nahe der russischen Grenze. Kupjansk wurde gleich nach Kriegsbeginn von der russischen Armee besetzt und im September in Teilen westlich des Flusses Oskil von der Ukraine zurückerobert. "Noch immer wird die Stadt beschossen, gibt es Raketenangriffe", erzählt Sophia.

Und es klingt, als erzähle sie von einem Ausflug mit Freunden. Ihr Vater sei noch dort, auch ihre beiden Großmütter. "Sie wollen partout nicht weg." Ob Krieg oder nicht Krieg, habe die eine Oma gesagt, ich bleibe hier. Sophia schüttelt den Kopf, kann nicht verstehen, wieso die Alten sich nicht retten lassen wollen und in dieser gefährlichen Stadt bleiben. Ihr Vater liege in Charkiw im Krankenhaus. "Er hat gesundheitliche Probleme, er kann nicht mehr laufen", erzählt Sophia. "Nein, keine Verletzung durch den Krieg, Knochenprobleme." Und die Mutter? Was ist mit der Mutter? Sophia stockt kurz. "Sie ist tot."

Im Garten begraben

Nach kurzer Pause: "Sie ist bei einem Raketenangriff gestorben", sagt Sophia und lächelt tapfer. Bestürzung. Das tut mir leid! Sophia kämpft gegen die Trauer, die in ihr aufsteigt, ihren Körper versteift und ihr Gesicht einfriert. Sie entschließt sich gegen die Tränen und für die Flucht nach vorn, fährt fort. "Sie ist nicht sofort gestorben", erzählt sie. "Sie war schwer verletzt, doch es gab keine Krankenhäuser, keine Versorgung. Sie starb langsam." Sophias Mutter wurde 41 Jahre alt. "Sämtliche Infrastruktur war kaputt. Mein Vater musste sie im Garten begraben", erzählt Sophia. "Mittlerweile ist sie exhumiert und auf dem Friedhof."

Anastasia klinkt sich ein, spricht ihr Beileid auf Russisch aus. Plötzlich ist der Krieg und mit ihm der Tod gegenwärtig. Inmitten des Flixbus 1304. Der Bus hat noch nicht einmal Görlitz erreicht.

Passkontrolle an der Raststätte

Der Bus wird langsamer, blinkt und biegt auf eine Raststätte ein. Vorn öffnet sich die Tür. Zwei Bundespolizisten steigen ein. Passkontrolle! Alle Passagiere zücken ihre Pässe als täten sie dies jeden Tag. Ukraine, Ukraine, Ukraine, Georgien, Kanada, Ukraine - ein roter deutscher Pass ist nicht in Sicht. Die Beamten studieren genau, sind aber sehr freundlich. Lächeln. Zwei Pässe werden genauer geprüft. Weiterfahrt nach 15 Min. Es ist 10:20 Uhr.

Die Tagesschau meldet im Ticker: +++ Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Rafael Grossi, wird diese Woche zu Gesprächen in Moskau erwartet. Zentrales Thema werde die Errichtung einer Sicherheitszone rund um das Atomkraftwerk in Saporischschja im Süden der Ukraine sein +++

"Gestern, heute, morgen – jeden Tag sterben Menschen, das ist Realität", erklärt Sophia.

Fabrikarbeit in Wurzen

Nach ihrer Flucht ist Sophia in Wurzen gelandet. Sie arbeitet in einer Fabrik und führt ihr Studium der Sozialarbeit digital fort. Welche Fabrik? Die Frage ist ihr unangenehm. "In meinen Ferien besuche ich jetzt meine beste Freundin in Wroclaw." Alle seien in ganz Europa verstreut, ihr Freund lebe in Dublin. "Wir haben uns ewig nicht gesehen", erklärt Sophia. Anastasia nickt. Auch ihre Freunde sind verstreut. "Eine Freundin lebt in Liverpool, eine andere ist mit dem Programm 'United for Ukraine' in die USA gegangen", erzählt sie. Allerdings brauche man für den Aufenthalt einen finanziellen Bürgen und das Programm dauere nur zwei Jahre. "Was ist danach?", fragt Anastasia.

Neben Sophia sitzt Karina. Auch sie stammt aus der Ukraine. Auch sie ist geflüchtet. Gerade hat sie ihren Vater besucht, der nach der Flucht in Mainz gelandet ist. Karina lebt heute in Wroclaw. Ihre neue Heimat.

Flucht mit dem Evakuierungszug

Larissa ist aus dem Schlaf erwacht. Schon länger sitzt die ältere Dame wachen Blickes und verfolgt das Geschehen. Jetzt will sie mitreden. "Ich komme aus der Nähe von Saporischschja", erklärt sie. Mit ihrem 96-jährigen Mann sei sie im Evakuierungszug gen Westen gefahren, später ging es nach Deutschland weiter. "Wir haben Freunde in Altenburg, sie leben seit 30 Jahren hier. Wir jetzt auch. Beethovenstraße", erzählt Larissa. Sie ist 72 Jahre alt. "Wir danken allen Deutschen für ihre Unterstützung. Wir haben so viel Hilfe und erfahren. An allen Ecken", erklärt sie mit glänzenden Augen und nickt. Ihr Mann sei sehr gut von Ärzten versorgt worden. "Ein Segen! Das werden wir niemals vergessen." Sophia und Anastasia übersetzen vom Russischen ins Englische.

Larissa hat gehört, wie Sophia vom Tod ihrer Mutter erzählte. Die 72-Jährige streichelt der 20-Jährigen über den Kopf. "Sophia, dieser Name steht für Weisheit."

Der Ticker von Tagesschau.de läuft. 10:37 Uhr. +++ London: Moskau will in besetzten Gebieten wählen lassen. +++

Zehn Minuten Pause

10:45 Uhr: Der Bus hat Görlitz passiert, sich durch die Straßen des polnischen Stadtteils Zgorzelec gewuchtet, sich wieder auf die Autobahn befreit und biegt jetzt auf eine Raststätte ein. "Ten minutes", ruft der Fahrer durch sein Mikro, die Türen öffnen sich. Der Bus spuckt junge Menschen und Larissa aus. Endlich kurz stehen. "Wo ist die Toilette", fragt Larissa. Sophia und Anastasia ziehen ihre E-Zigarette heraus, unterhalten sich weiter, auf Russisch mit leiser Stimme, nicken, Leichtigkeit sieht anders aus.

Transit im aufgewühlten Europa

Der Rasthof ist voll mit Menschen, auch andere Busse halten hier. Ein Nichtort ohne Seele, Transit ohne Heimat und doch ein Platz, an dem sich für wenige Minuten die Lebensläufe vieler Menschen kreuzen. Man könnte auch sagen: Wer wissen möchte, wie Europa morgen tickt, wie sich der Krieg reinfrisst in die Seelen, wohin die Menschen wollen, was sie hoffen, kann hier ein paar Stunden verbringen, ist hier am Nerv der Zeit. Die Buslinien ziehen sich wie Lebensadern durch Europa – Lebensadern auf denen sich immer mehr Geflüchtete bewegen.

Busse steuern mehrere Orte in Ukraine an

Mit den Städten Lviv (Lemberg), Riwne, Schytomyr, Kiew, Poltawa liegen fünf Flixbus-Ziele allein in der Ukraine. Andere internationale Busunternehmen nicht mit betrachtet. Flixbus steuert auch die polnische Stadt Przemyśl an sowie das Dorf Medyka an der ukrainischen Grenze, wichtige Orte auf der Fluchtroute. Mobilität sei für die Menschen in der Ukraine seit dem Frühjahr enorm wichtig, erklärt Flixbus-Sprecherin Isabella Domke. Genaue Zahlen würden nicht veröffentlicht. "Wir bieten aus vielen deutschen Städten Fahrten in die Ukraine."

Über 70 Euro hat Anastasia für ihr Ticket von Leipzig nach Lviv in der Westukraine gezahlt. Insgesamt etwa 200 Euro hin- und zurück. "Das geht", sagt Anastasia. "Nicht sehr teuer, aber auch nicht günstig, besonders nicht für uns Ukrainer." Die Löhne in der Ukraine seien niedrig, ein mittleres Einkommen betrage etwa 500 Euro", sagt Anastasia. Die Lebensmittelpreise seien jedoch ähnlich wie in Deutschland und auch ähnlich wie in Deutschland gestiegen.

52 Enkel und Enkelinnen in vielen Ländern

Längst sitzen alle wieder im Bus. Die Fahrer starten pünktlich, niemand möchte riskieren, an der Raststätte zurückgelassen zu werden. Larissa erzählt, dass sie jetzt ein Smartphone hat und ihr Mann aus erster Ehe 52 Enkel und Enkelinnen. "Sie leben überall", sagt Larissa. "Polen, Deutschland, Ukraine, England."

Liebe und Familien machen nicht an Grenzen Halt. Überall ist irgendjemand. Weltgemeinschaft. Es geht uns alle an, es betrifft uns alle. Die Buslinien, die Familienverbindungen, die Liebe, die Kultur, die Wirtschaft, die Medizin - alles zieht sich in Verästelungen über den Globus. "Wozu sind Kriege da?", sang Udo Lindenberg 1981 mit dem zehnjährigen Pascal Krawetz. Mehr als 40 Jahre später gibt es noch immer Krieg, überhaupt es gab immer Krieg, doch dieser scheint besonders gefährlich.

Der Tagesschau-Ticker berichtet täglich zum Ukraine-Konflikt. An diesem Nachmittag um 16:35 Uhr wird er melden: "UN-Generalsekretär Guterres befürchtet eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs: 'Ich befürchte die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg hinein – ich befürchte sie tut dies mit weit geöffneten Augen.'"

Die schwerste Entscheidung des Lebens

Dimitri sitzt auf dem Platz vor Anastasia und schaut aus dem Fenster. Draußen fliegen polnische Landschaften vorbei, ein Amazon-Logistikzentrum, Fahnen von Gewerbeparks, letzte Ausläufer einer Stadt und Wolkenumrisse eines grauen Himmels. Dimitris Gesicht ist jung, sein Ausdruck ernst, seine Stimme unerwartet tief. Kein Zucken um den Mundwinkel, keine Lachfalte, kein Lächeln, nichts. Dimitri ist 17 Jahre alt und steht vor der schwersten Entscheidung seines jungen Lebens.

Für den Pass nach Warschau

Larissa hat derweil ihr Smartphone gezückt, sie will zeigen, was sie schon gelernt hat. Larissa, warum sitzt du eigentlich hier in diesem Bus? "Ich? Ich will nach Warschau, ich brauche einen neuen Pass." Eine 72-jährige Ukrainerin ist im Krieg nach Deutschland geflüchtet und holt sich in Warschau ihren neuen Pass?

Anastasia sieht die Fragezeichen in den Denkschleifen. "Es ist ganz einfach", sagt sie stellvertretend für Larissa. "Wir brauchen alle Papiere, in Berlin gibt es jedoch keine Termine. Also fahren wir nach Warschau - oder direkt wieder in die Ukraine, um Pässe und Papiere zu erneuern." Ihre Mutter und ihre Schwester hätten dies auch gemacht, als sie zum Jahreswechsel in Kiew waren. Endlich den geliebten Mann und Vater wiedersehen. "Sie haben gleich alles Praktische mit organisiert."

Kiew - ist es dort nicht gefährlich? "Ja, ist es. Immer gab es Luftalarm. Das Wiedersehen war schön, doch die Angst vor den Bomben und Raketen war für sie schrecklich." Anastasia sieht stur geradeaus. Nein, für sie kommt eine Fahrt nach Kiew nicht in Frage. Sie habe ihre Tochter, die brauche ihre Mutter. Lviv und keinen Meter weiter.

Flucht aus Kiew und zurück

Kurz vor zwölf. Noch etwa zwei Stunden bis Wroclaw. "Niemals habe ich mit diesem Krieg gerechnet. Das war unvorstellbar", sagt Dimitri. "Wir machten uns über Putin lustig, diesen 'old crazy guy'. Die Annexion 2014 sei für ihn ganz weit weg gewesen. Kein Wunder. Zu diesem Zeitpunkt war Dimitri neun Jahre alt. Als er 16 war, flogen die Bomben auf seine Stadt, kurz darauf verlässt seine Familie mit ihm Kiew. Sie finden Aufnahme in Rheinland-Pfalz, kehren im August wieder zurück nach Kiew. "Dorthin fahre ich gerade, nach Hause", sagt Dimitri.

Jeden Tag fliegen Raketen

Dimitri studiert Logistik an der Universität Kiew. Jeden Tag loggt er sich für Seminare auf seinem Bildschirm ein. "Ich bin der Fernarbeit so müde." So jung und so weit weg vom Leben. "Es ist so verrückt, dieser Krieg mitten im 21. Jahrhundert", erklärt er. "Die Angriffe sollen nicht die ukrainische Armee töten, sie gelten der Bevölkerung." Trotzdem. Dimitri lebt in Kiew, bei seinen Eltern und Freunden. "Ich glaube nicht, dass der Krieg ohne Putin vorbei ist. Russland ist imperialistisch." Der Beitritt der Ukraine zur Nato sei die einzige Hoffnung für die Ukraine. Jeden Tag fliegen Raketen. Manchmal kommen die Warnungen zu spät, bleibt zu wenig Zeit für den Luftschutzkeller. "Wir müssen damit leben", sagt Dimitri wie ein weiser erwachsener Mann.

Kämpfen als Soldat?

Bald muss er sich entscheiden. Ihm bleiben noch fünf Monate bis zum 18. Geburtstag. Dann darf er nicht mehr ausreisen. Dann muss er sich bereithalten, als Soldat zu kämpfen. Will er gehen, muss er das vorher tun. Warum warst du in Deutschland? "Papiere verlängern. Damit ich eventuell ausreisen kann." Und? "Hat nicht geklappt. Kein Wohnsitz mehr hier." Plötzlich spricht die Angst aus dem jungen Mann. Er sieht um sich, blickt nach vorn und sackt schließlich in sich zusammen." Jetzt sieht er verdammt traurig aus.

Im Ticker laufen die Meldungen. 12:30 Uhr.  +++ NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag zu Gesprächen in den USA +++

"In der Ukraine kannst du dir alles erkaufen"

Anastasia denkt ständig nach. Über Deutschland, die Ukraine. "In der Ukraine kannst du dir alles kaufen, wenn du Geld hast", sagt Anastasia. "Du kannst Dir Führerscheine kaufen, Gerichtsurteile, Uniabschlüsse." Natürlich auch Arzttermine, es brauche nur etwa 20 Euro und schon dürfe man sofort beim Arzt vorsprechen. In Deutschland hingegen warte sie ewig auf einen Termin, zwei, drei Monate. "Das kennen wir nicht, alle bezahlen, niemand wartet lange auf einen Termin."

Der Bus schiebt sich weiter in den Tag und durch die polnische Landschaft. Die Zeit dehnt sich in die Ewigkeit. Es ist mittlerweile kurz vor 14 Uhr. Wroclaw naht.

Herzliche Aufnahme in Polen

Anastasia erinnert sich besonders gern an die herzliche Aufnahme in Polen. "Die Menschen in Polen waren sehr nett. Das habe ich nicht gedacht." Warum? "Wir dachten, die Polen betrachten uns immer nur als billige Arbeitskräfte." Jetzt hoffe ihre Mutter den 52-jährigen Vater nach Deutschland zu bekommen. "Er ist jünger als 60 Jahre, er darf nicht ausreisen. Doch eine Option gibt es vielleicht", sagt Anastasia. Ihre 82-Jährige Großmutter lebe auch noch in Kiew. Es sei wohl Männern erlaubt, die eigenen Eltern in Sicherheit zu bringen, wenn sich niemand anders findet. "Doch dazu müsste er seine Mutter überreden zu gehen - und ältere Menschen können bekanntlich stur sein." Die Chancen seien eher mittelmäßig.

Im Hintergrund unterhalten sich Larissa und Sophia. Der Bus fährt in Wroclaw ein. Karina packt ihre Sachen. Sophia auch. Selbst Dimitri holt seine Tasche. Für ihn geht es mit dem Zug weiter. "Das ist bequemer. Es gibt eine Direktverbindung von Wroclaw". Larissa und Anastasia bleiben sitzen.

Es ist 14:29 Uhr. Der Ticker meldet: +++ Die Bundesregierung rechnet mit gemeinsamer "Leopard 2"- Lieferung +++

Krieg oder nicht Krieg?

Dimitri feiert seinen 18. Geburtstag im August. Was geht in einem jungen Mann vor, der sich entscheiden muss, ob er in den Krieg zieht? Wird er seine Familie verlassen, allein ins Ungewisse ziehen und ausreisen aus der Ukraine? Oder wird er kämpfen? Dimitri schaut gequält. "Ich weiß es nicht."

Jetzt geht alles ganz schnell. Der Bus lenkt sich in den Keller des Busbahnhofs in Wroclaw. Sophia steigt aus, Karina auch. Dimitri folgt. Larissa winkt. Anastasia zieht draußen schnell an ihrer E-Zigarette. Transit zwischen Krieg und Frieden. Fünf Stunden. Ein Bus, viele Schicksale. Alles Gute! Der Krieg ist zwischen uns.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 17. Februar 2023 | 19:30 Uhr

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