Porträt Krieg, Flucht, Neustart: Junge Ukrainerin kämpft sich in Dresden ins Leben zurück
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22. Februar 2023, 19:00 Uhr
Rund 70.000 Flüchtlinge aus der Ukraine hat Sachsen im vergangenen Jahr aufgenommen. Unter ihnen ist auch die 23-jährige Anastasiia Halian, die seit April 2022 in Dresden lebt. Im Gespräch mit MDR SACHSEN schildert sie ihre Flucht und die Eindrücke ihrer ersten Monate in Deutschland. Und sie spricht über ihre Hoffnungen, wie es für sie und ihr Land weitergeht.
- "Die meisten Ukrainer hatten einen Widerwillen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen", sagt Anastasiia Halian und schließt sich selbst ein.
- Rund drei Wochen nach Kriegsausbruch flüchtet sie zunächst nach Griechenland. Doch die Bilder aus der Heimat lassen sie nicht los.
- Inzwischen macht die 23-Jährige große Fortschritte im Deutschkurs. Sie hofft, in Dresden bald einen Job als medizinische Laborantin zu bekommen.
Als Anastasiia Halian die Tür öffnet, ist sie nicht allein. Zwei junge Katzen schmiegen sich um ihre Beine und schauen skeptisch nach oben. Eine von ihnen ist Mika, geboren in der Ukraine, und der wichtigste Halt für Nastja - so ihr Rufname - seit ihrer Flucht. Pummel ist das Ergebnis einer deutsch-ukrainischen Liebesgeschichte. "Ja, es ging alles sehr schnell", lacht Nastja. Noch bevor sie Mika, die jetzt 14 Monate alt ist, kastrieren lassen konnte, hatte sie einem Kater in der Nachbarschaft offenbar schon den Kopf verdreht.
"Das Essen vermisse ich wirklich"
Während sich Mika schnell wieder auf ihre rote Decke verzieht und von einer Operation erholt, tobt Pummel durch die Küche und drängt sich zwischen die Gesprächspartnerinnen. Plötzlich legt sie sich quer über den Notizblock der Journalistin.
Fast scheint es so, als würde das Tier Nastja damit einen Moment Ruhe verschaffen wollen, während diese von Raketeneinschlägen, tagelangen Busreisen und dem Kampf um Unabhängigkeit erzählt. "Mein Leben vor dem 24. Februar war ziemlich gut", erzählt die junge Frau. "Ich habe in drei Städten in verschiedenen Teilen der Ukraine gewohnt. Ich konnte meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Mit Verwandten und Freunden Zeit verbringen, im Labor arbeiten und das leckerste Essen der Welt essen." An dieser Stelle muss sie lachen, doch es ist ihr wichtig zu erzählen. "Das Essen vermisse ich wirklich."
Nastja: Ukrainer wollten Situation nicht ins Gesicht sehen
Noch am 21. Februar letzten Jahres besuchte sie mit ihrer Freundin ein Konzert des Nationalen Akademischen Orchesters der Ukraine in Odessa. "Es war ein wunderbarer Abend, wir haben sehr viel gelacht." Sie freute sich auf ihren Urlaub, der wenige Tage später beginnen sollte und wo sie auch ihre Familie in ihrem Heimatort Kamjanez-Podilskyi besuchen wollte. Rückblickend, sagt sie, habe sie wohl, wie viele Ukrainer, einen gewissen Widerwillen gehabt, "der Wahrheit ins Gesicht zu sehen."
Nastja, deren Vater und jüngerer Bruder im Krieg kämpfen, spricht vom Dritten Weltkrieg und ist überzeugt, dass für die Russen in Kiew nicht Schluss gewesen wäre, hätten sie die ukrainische Hauptstadt wie geplant in wenigen Tagen eingenommen.
Verstehst du, unser Leben war ganz normal und das ist etwas verrückt. Ich denke, das Problem der meisten Ukrainer damals war ein gewisser Widerwille, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und die Situation kritisch zu beurteilen.
Erste Raketeneinschläge in Odessa
Am 24. Februar um 5 Uhr werden Nastjas Pläne von der Realität über den Haufen geworfen. "Ich wachte mit dem Gefühl eines Erdbebens auf." Auch die Region Odessa, die sich in der ukrainischen Sprache übrigens nur mit einem "s" schreibt, wird an diesem Morgen Ziel russischer Angriffe. Doch noch will es die junge Frau nicht wahrhaben. Sie macht Gymnastik, duscht und frühstückt und macht sich dann auf den Weg zu einem Geldautomaten. "Und dann wurde es zum ersten Mal schrecklich und furchtbar. Denn in der Nähe des Ortes wo ich war, fiel eine Rakete runter. Es war sehr laut und die Menschen begannen, Kinder, Katzen und Hunde unter ihrem eigenen Körper zu verstecken. Jemand schrie und ich stand da und glaubte, dass das nicht wahr ist."
Flucht im Bus bis nach Griechenland
Rund zwei Wochen später entschließt sie sich zur Flucht. Sie setzt sich mit Mika in einen Bus mit dem Ziel Griechenland. Dorthin, wo ihr Freund schon ein paar Wochen weilte, um seinen Bruder zu besuchen. Mehr als 40 Stunden dauert die Fahrt in dem mit Frauen und Kindern überfüllten Bus. "Das war wirklich sehr stressig für mich", erinnert sich Nastja. "Ich fragte immer: 'Mika, wie fühlst du dich, wie fühlst du dich?'".
Mit Remarque und Hesse in den Zufluchtsort Deutschland
In Athen durchlebt die junge Ukrainerin ein Wechselbad der Gefühle. "Wir lebten im sonnigen Griechenland mit schönen Blumen und Meer. Aber dann kamen diese Nachrichten aus der Ukraine, die immer schlimmer wurden." Nastja verfolgt die offiziellen Nachrichten aus der Heimat, sieht verstörende Bilder von verstümmelten Menschen, Berichte über Vergewaltigungen und Folterungen von Zivilisten, zerstörten Häusern und Plünderungen. Bei ihr setzen Schlafstörungen und Panikattacken ein. "Manchmal wusste ich nicht, wo ich mich befinde." Immer noch in dem Glauben, schon bald in die Heimat zurück zu fahren, packt sie die Koffer nicht komplett aus. Doch irgendwann wird das Geld knapp und Nastja und ihr Freund müssen eine Entscheidung treffen.
Auf ihren Wunsch hin machen sie sich mit den letzten 100 Euro auf den Weg nach Deutschland. "Es war mein Wunsch. Früher habe ich in der Schule Deutsch gelernt und ich mag auch sehr deutsche Literatur. Meine Lieblingsschriftsteller sind Erich Maria Remarque und Hermann Hesse." Dieses Mal sind es "nur" rund 30 Stunden Busfahrt, zunächst bis Prag. Von dort sollte es eigentlich nach Görlitz gehen, wo Nastja Kontakt zu einer Frau hatte, die ihnen helfen wollte. Als dieser Plan platzt, fahren sie nach Dresden und nehmen Kontakt zu einer Gruppe auf, die ukrainischen Menschen hilft.
Sprachbarrieren: Deutsche Sprache ist kein Kinderspiel
Schließlich werden sie zu Michael vermittelt, der die seit dem Auszug seiner erwachsenen Töchter leerstehenden Kinderzimmer in seinem Haus im Dresdner Norden zur Verfügung stellt. Für Nastja ist das nach wie vor ein "großes Glück", denn bei Michael und seiner Familie bekommt sie Hilfe und kann zur Ruhe kommen, um die Schrecken des Krieges zu verarbeiten.
Doch schon bald fällt der ehrgeizigen jungen Frau, die in der Ukraine als medizinische Laborantin gearbeitet hat, die Decke auf den Kopf. Sie muss die bittere Erfahrung machen, dass ihre Deutschkenntnisse doch nicht so gut sind, wie sie dachte. Und Englisch hat sie nie gelernt. "Ich habe Angst bekommen. Ich dachte doch am Anfang, dass ich nur einen Monat brauche, um die deutsche Sprache zu lernen." Und noch etwas belastet sie: Ihr Freund will nicht länger in Deutschland bleiben. Er verlässt das Land, Nastja bleibt.
Mit dem Integrationskurs kommt wichtige Routine ins Leben
Im August hat zumindest das Warten auf einen Deutschkurs ein Ende. Seitdem geben ihr fünf Kurstage in der Woche wichtige Routine. Von den 20 Kursteilnehmern sind 18 aus der Ukraine, fast alles Frauen. Den A2-Abschluss hat sie in der Tasche, nun strebt sie A1 ein. "Am 24. April habe ich die letzte Prüfung. Ich hoffe, dass ich ein Zertifikat bekomme."
In der Pause sprechen wir natürlich nur in unserer Muttersprache. Aber so lernen wir nicht gut Deutsch. Ich versuche deshalb viel Zeit mit deutschen Menschen zu verbringen.
"Ich wünsche mir Arbeit in einem Labor in Dresden"
Und dann? Wie soll es für sie weitergehen? "Ich mag meine Arbeit sehr. Ich habe in der Ukraine schon drei Jahre Erfahrung. Zuletzt war ich in einem Privatklinikum, wo die Schichten 24 Stunden gingen. Das war etwas schwer für meinen Körper, aber es war sehr interessant und ich vermisse es sehr. Mein Beruf ist nicht nur mein Beruf, sondern mein Leben."
Vor einigen Wochen hatte sie die Gelegenheit, an einem mehrstündigen Seminar teilzunehmen, das ins Ausland geflohene ukrainische Ärzte gegeben haben. "Das hat meine Stimmung sehr verbessert." Sie wolle sich nun Stück für Stück in ein normales Leben zurückkämpfen. Und das bedeutet für sie vor allem auch, arbeiten zu können. "Ich hoffe sehr, dass ich eine Möglichkeit bekomme, hier in einem Labor in Dresden Arbeit zu finden. Das ist mein Plan, das ist mein Wunsch, das ist mein Ziel. Das ist sehr wichtig. Ich fühle mich besser, wenn ich arbeiten kann."
Russische Fahnen in Dresden verstören Ukrainer
Im Moment kann sie sich ein Leben in Deutschland vorstellen. "Ich fühle mich hier normal, ruhig, gut." Sie hat eine Freundin gefunden, eine Deutsche, mit der sie auch ihre Sprachkenntnisse weiter verbessern kann. Doch immer wieder gehen die Gedanken auch zu den Verwandten und Freunden in der Ukraine, die entweder im Krieg kämpfen oder so wie ihre Mutter den Alltag voller Entbehrungen mit sehr viel Mut und Entschlossenheit meistern. "Aber ich verstehe auch, dass unser Land diesen Krieg braucht. Denn unser Land braucht diese Unabhängigkeit. Aber es ist schwer und es macht mir Schmerzen." Sie selbst hält Friedensverhandlungen mit Putin für aussichtslos und hofft für ihr Land auf weitere Unterstützung für das ukrainische Militär durch die internationale Gemeinschaft.
Was sie so gar nicht verstehen kann, sind Versammlungen, auf denen russische Fahnen geschwenkt werden. "Warum lässt der Oberbürgermeister von Dresden das zu? Hier wohnen sehr viele ukrainische Menschen. Sie haben ihre Wohnungen oder Häuser verloren, an denen sie ihr ganzes Leben gebaut haben. Und sie haben sich das nicht freiwillig ausgesucht."
Deutschland punktet mit Brot und Brötchen
Und was vermisst sie eigentlich beim Essen am meisten? "Gemüse, Obst, Fleisch, Milchprodukte - ich weiß nicht warum, aber es schmeckt in der Ukraine besser, es hat eine andere Qualität." Verwundert sei sie gewesen, dass man hier in den Supermärkten zwischen einem Dutzend Sorten Cola wählen kann. Das halte sie auch ökologisch für wenig sinnvoll. In einem Punkt haben sie die Deutschen dann kulinarisch aber doch überzeugt: "Es gibt sehr leckeres Brot und Brötchen."
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 24. Februar 2023 | 19:00 Uhr