Ein Besuch bei der Quedlinburger Tafel Bei Altersarmut geht es nicht nur ums Geld – sondern auch um Einsamkeit

18. April 2021, 16:48 Uhr

Bei der Quedlinburger Tafel lernt Sarah Zschernitz regelmäßig Betroffene von Altersarmut kennen. Sie sagt, viele alte Menschen verzichten lieber erst einmal auf alles, bevor sie sich Hilfe holen. Viele seien nicht nur finanziell arm, sondern auch einsam. Besonders jetzt, in der Corona-Pandemie.

Alisa Sonntag
Bildrechte: MDR/Martin Paul

Sarah Zschernitz ist vielbeschäftigt. Zwischen 12 und 13 Uhr hat sie Zeit, genau eine Stunde, dann beginnt in der Tafel in Quedlinburg die Ausgabe wieder und mehr Trubel zieht ein. Die Tür am bunt bemalten Gebäude der Tafel ist schon weit geöffnet, am Eingang steht eine Trennwand aus Plexiglas, damit die Tafel-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus geschützt sind. Gerade steht weder vor noch hinter der Scheibe jemand. Die Ruhe vor dem Sturm.

Sarah Zschernitz‘ Büro liegt in einem anderen Gebäude direkt gegenüber der Tafel. Dem Haus sieht man sein Alter an. Einige der Fenster darin sind vergittert. Früher war es ein Gefängnis, erzählt Zschernitz. Die 31-Jährige leitet den Bereich Soziale Arbeit bei der Arbeiterwohlfahrt im Harz seit 2016. Damit ist sie zuständig für die Tafeln im Landkreis Harz, aber unter anderem auch für die Begegnungsstätten und die Schuldnerberatung. Ein großer Teil der Menschen, um die sie und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich kümmern, sind ältere Menschen.

Viele schämen sich, arm zu sein

Etwa 1.500 Kundinnen und Kunden hat die Tafel im Harz, sagt die Sozialarbeiterin. Etwa ein Viertel davon seien Seniorinnen und Senioren. Anspruchsberechtigt, sagt Zschernitz allerdings, sind wahrscheinlich deutlich mehr Menschen. Der Landkreis Harz ist groß. Nicht alle, die gern zur Tafel gehen würden, haben auch die Möglichkeit. Zschernitz erzählt, sie kenne einen Tafel-Kunden, der jedes Mal mit dem Zug anreise und für die Hin- und Rückfahrt insgesamt acht Euro bezahle.

Nicht nur die weite Anreise sorgt dafür, dass manche Menschen die Tafel nicht nutzen wollen: Sarah Zschernitz hat die Erfahrung gemacht, dass viele sich für ihre finanziellen Verhältnisse schämen. Vor allem bei älteren Menschen sei das oft der Fall. Eine Frau habe ihr erzählt, dass sie drei Jahre lang immer wieder am Tor der Tafel vorbeigelaufen sei, bevor sie sich endlich getraut habe, hineinzugehen. Vielen sei außerdem nicht bewusst, dass sie die Möglichkeit haben, zur Tafel zu gehen: "Gerade ältere Menschen verbinden die Tafel oft vor allem mit der Obdachlosenhilfe."

Senioren sind diejenigen, die lieber erst einmal auf alles verzichten, bevor sie sich Hilfe suchen.

Sarah Zschernitz, AWO Harz

Armut ist ein schambehaftetes Thema. Betroffene wollen nur selten über das Thema sprechen. Armut, auch im Alter, bedeutet nicht nur, sich im Alltag einschränken zu müssen, sich das Nötigste nicht leisten zu können – sondern oft auch, sich dafür zusätzlich noch zu schämen. "Wer möchte schon als arm betitelt werden", sagt Zschernitz.

Zwei Scheiben Toast für ein ganzes Wochenende

Sie erzählt, wie ihrer Wahrnehmung nach viele ältere Menschen mit der eigenen Armut umgehen: "Anstatt Leistungen zu beantragen, sparen sie an allen Ecken. Da werden Strümpfe gestopft, statt neue zu kaufen, generell wird alle Kleidung genäht. Oder es wird sich nur noch am Waschbecken gewaschen statt unter der Dusche, um Wasser zu sparen. Das sind tausend verschiedene Kleinigkeiten."

Eine Geschichte hat sich bei Sarah Zschernitz besonders eingebrannt: "Das war eine Seniorin, sie war auch Tafelkundin. Sie hatte nur eine geringe Rente, weil sie in ihrer Ehe Gewalt erlebt hatte und sich deswegen hatte scheiden lassen. Ihr Sohn, die einzige Familie, die sie hatte, war gestorben, so dass sie quasi ganz allein war."

Gleichzeitig war die Frau durch einige ungünstige finanzielle Entscheidungen auch in eine Schuldenfalle geraten. Deswegen sei eine Mitarbeiterin von der Schuldnerberatung bei der Seniorin daheim gewesen und habe zufällig festgestellt, dass die Frau nicht mehr Essen im Haus hatte als zwei Scheiben Toast und ein bisschen Marmelade. Das Essen, sagt Zschernitz, hätte für ein ganzes Wochenende reichen sollen.

Als wir sie gefragt haben, was sie denn das ganze Wochenende essen will, hat sie nur gesagt, sie trinke dann halt viel Wasser. Statt sich Hilfe zu holen, hat sie lieber nichts gegessen. Das war wirklich traurig.

Sarah Zschernitz, AWO Harz

Zusammen für die Witwenrente

Während Zschernitz erzählt, ist auf dem Rest des AWO-Geländes alles in Bewegung. Ein Transporter parkt in der Mitte des Hofes, immer wieder stecken Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter den Kopf in das Büro der 31-Jährigen und bringen Post hinein oder stellen eine schnelle Frage. Im Flur wird geschäftig geputzt. Auch, wenn pandemiebedingt nicht alle Angebote der AWO stattfinden, gibt es viel zu tun.

Gerade im Osten, sagt AWO-Bereichsleiterin Zschernitz, sei Altersarmut wegen der niedrigen Löhne ein wichtiges Thema. "Bei vielen unserer Kunden reicht es zum Beispiel nur gerade so, weil sie Witwen- oder Witwerrente bekommen." Sie kenne ältere Paare, die aus genau dem Grund zwar getrennt lebten, sich aber nicht scheiden ließen: "Sie sind abhängig davon, später nicht nur die Rente, sondern auch die Witwenrente zu bekommen. Außerdem sind Scheidungen teuer."

Ihrem Gefühl nach begegneten ihr in ihrer Arbeit vor allem Frauen, die mit Altersarmut zu kämpfen haben. Tatsächlich sind Frauen im bundesweiten Schnitt öfter von Altersarmut betroffen als Männer. Der Grund: Frauen nehmen im Schnitt wegen der Kindererziehung öfter Auszeiten vom Job, gehen öfter in Teilzeit und verdienen durchschnittlich weniger.

Altersarmut und Kontaktarmut gehen Hand in Hand

Sarah Zschernitz ist es wichtig, beim Thema Altersarmut nicht nur über Geld zu reden. Ältere Menschen, sagt sie, leiden oft nicht nur unter Einkommensarmut. Viele sind zusätzlich auch einsam. "Kontaktarmut" nennt Zschernitz das. Finanzielle und soziale Armut gingen oft Hand in Hand. Ohne Geld sei es schwer, Menschen kennenzulernen, "gerade hier auf dem Land", sagt sie.

Wo lernt man denn im Alter Menschen kennen, wenn man nicht mehr arbeiten geht? Kaffeefahrten, Urlaube, Fitnessstudio, wenn man noch kann, das fällt alles weg, wenn man sparen muss. Selbst eine Kontaktanzeige kostet Geld.

Sarah Zschernitz, AWO Harz

Auch bei vielen Kundinnen und Kunden der Tafel sei die Einsamkeit spürbar: "Manche kommen gefühlt drei Stunden eher her, um noch Zeit zum Schnacken zu haben." Außerhalb der Pandemie hat die Arbeiterwohlfahrt in Quedlinburg einige Angebote, die Menschen aus ihrer Einsamkeit helfen sollen. Da ist zum Beispiel das "Restaurant mit Herz", in dem jede und jeder sich günstig eine warme Mahlzeit leisten und mit anderen ins Gespräch kommen kann. Ein Drittel der Restaurantgäste, schätzt Zschernitz, sind Menschen der älteren Generation.

Wegen der Corona-Infektionsgefahr ist das Restaurant allerdings schon eine Weile geschlossen. Wann es wieder öffnen wird, kann Zschernitz nicht abschätzen. "Corona macht da gerade auch einiges kaputt", sagt sie. Gerade für die Menschen, die ohnehin schon wenige soziale Kontakte haben – eben auch viele ältere Menschen –, sei die Zeit gerade sehr hart.

"Oma, es ist nicht schlimm, zur Tafel zu gehen"

Mittlerweile ist es einige Minuten nach 13 Uhr, die nächste Runde an Essensausgaben an der Tafel hat begonnen. Immer wieder gehen Menschen einzeln oder zu zweit durch die Einfahrt des Quedlinburger AWO-Geländes. Einige Zeit später kommen sie zurück, prall gefüllte große Einkaufstüten in beiden Händen. Sie haben schwer zu tragen. Eine ältere Frau transportiert ihre Tüten mit dem Fahrrad.

Was könnte helfen, damit weniger Menschen mit ihrer Altersarmut allein bleiben? Anonyme, niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten als erste Anlaufstellen für Senioren und Seniorinnen, sagt Sarah Zschernitz: "Vielleicht in einem Ärztehaus, damit die Leute da reingehen können, ohne dass für alle klar ist, wo sie hin wollen. Und natürlich in der Nähe der Menschen." Zschernitz überlegt. Dann sagt sie: "Und auch die Familie kann dabei eine Rolle spielen. Vielleicht erreichen wir mehr Leute, wenn ab und an Enkelkinder sagen: Oma, es ist nicht schlimm, zur Tafel zu gehen."

MDR/Alisa Sonntag

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