Kommentar Lockdown und Bildungsnotstand – die Corona-Folgen für Sachsen-Anhalt werden erst sichtbar
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16. März 2023, 19:16 Uhr
Vor drei Jahren erlebte Deutschland eine Vollbremsung, verursacht durch das Coronavirus. Große Teile des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und vieler übrigen Aktivitäten von Kultur bis Sport waren lahmgelegt, auch Schulen und Kindergärten schlossen. Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat inzwischen eingeräumt, dass letztere Entscheidung wohl wenig hilfreich war. Doch manche Folgen werden erst jetzt sichtbar – auch in Sachsen-Anhalt. Ein Kommentar.
- Die Bundesländer wollen in diesem Jahr erneut die Abschlussprüfungen entschärfen. Doch das löst das Problem des Lernstaus nicht, sagt unser Autor.
- Kinder und Jugendliche werden auch in den nächsten Jahren mit den psychologischen Nachwirkungen der Pandemie zu kämpfen haben.
- Im Umgang mit den Folgen der Corona-Pandemie will die Bundesregierung zumindest für Brennpunktschulen sogenannte Mental Health Coaches finanzieren.
Eine Art Brandbrief der Schulleitung erhielten die Eltern eines Magdeburger Gymnasiums zum Halbjahreswechsel. Die vorausgegangenen Klassenkonferenzen hätten nämlich offenbart, dass sich bei vielen Schülerinnen und Schülern große Defizite zeigen würden beim Erreichen des Klassenziels, hieß es darin.
Deshalb rufe die Schulleitung nun dazu auf, frühzeitig Kontakte mit Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen aufzunehmen. Eine entsprechende Präsentation des Arbeitsamtes sei beigelegt. Einen Abschnitt später räumt die Schulleitung in dem Brief ein, dass wohl auch die fehlende Unterrichtsversorgung ein Baustein sei, der zu den schlechten Ergebnissen des ersten Halbjahres geführt habe.
Leider stand die Schulleitung nicht für ein Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT zur Verfügung. Festzuhalten bleibt jedoch, dass jene Schule nur eine ungenügende Unterrichtsversorgung gewährleisten konnte. Die Lernlücken der Corona-Zeit konnten somit kaum behoben werden.
Der Bildungsauftrag wird aus der Schule heraus verlagert
Als Folge wird nun den Eltern geraten, die betroffenen Kinder auszuschulen und lieber kein Abitur ablegen zu lassen. So verlagert man den Bildungsauftrag aus der Schule heraus und schiebt die Verantwortung den Familien zu – ein aus meiner Sicht bildungspolitisch ziemlich fragwürdiges Verfahren.
Corona-Sonderregelung für Prüfungen
Dass es nicht gelungen ist, den Lernstau aufzulösen, der durch Schulschließungen und Unterrichtsausfall verursacht wurde, zeigt sich auch an der Entscheidung der meisten Bundesländer, in diesem Jahr erneut die Abschlussprüfungen zu entschärfen. So bekommen Sachsen-Anhalts Schülerinnen und Schüler in diesem Jahr 30 Minuten zusätzliche Zeit bei den schriftlichen Prüfungen.
Doch die eigentlichen Probleme löst das nicht, sagt die Hallenserin Inés Brock-Harder, Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie: "Diese ganzen Aufholprogramme nach Corona waren ausschließlich auf Leistung orientiert. Eigentlich hätten die Kinder und Jugendlichen so eine Art Startphase gebraucht, um wieder anzukommen, im Klassenverband und im Schulalltag. Stattdessen ging es gleich wieder los, Leistung zu fordern."
Diese ganzen Aufholprogramme nach Corona waren ausschließlich auf Leistung orientiert. Eigentlich hätten die Kinder und Jugendlichen so eine Art Startphase gebraucht, um wieder anzukommen, im Klassenverband und im Schulalltag.
Als hätte es keine Pandemie gegeben, starteten die meisten Schulen zwar mit viel Unterrichtausfall – aber wenig Möglichkeiten, die Corona-Zeit aufzuarbeiten. Das habe auch etwas mit der Überlastung der Lehrerinnen und Lehrer zu tun, so Inés Brock-Harder, denn auch die hätten kaum Zeit gehabt, nach Corona innezuhalten und das Geschehene kritisch zu reflektieren.
Langzeitfolgen sind kaum noch absehbar
Dabei hatten bereits frühzeitig Kinder-und Jugendtherapeuten oder auch Sozialarbeiterinnen gewarnt, dass vor allem die heranwachsenden Generationen unter den Einschränkungen zu leiden hätten. Diese Befürchtungen würden sich nun bestätigen, sagt Inés Brock-Harder: "Im psychologischen Bereich kann man nicht einfach einen Schalter umklicken, und dann ist alles vorbei. Mit den Nachwirkungen werden wir die nächsten Jahre zu tun haben. Und einige Kinder und Jugendliche haben tatsächlich langwierige Störungen entwickelt, die behandelt werden müssen."
Dazu zählen der Anstieg psychischer Erkrankungen, zunehmende Übergewichtigkeit und der Rückzug in virtuelle Welten. Nach einer Studie der Krankenkasse DAK Gesundheit hat sich in der Pandemie die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen verdoppelt. Inzwischen sind mehr als sechs Prozent der Minderjährigen abhängig von Computerspielen und sozialen Medien. Damit zeigten bundesweit mehr als 600.000 Jungen und Mädchen ein pathologisches Nutzungsverhalten.
Soziale Kluft hat sich verschärft
Corona hat viele Probleme in Sachsen-Anhalt noch einmal deutlich schärfer zu Tage treten lassen. Es war ein Unterschied, ob man den Lockdown in einem Einfamilienhaus in Halle-Dölau erlebte oder in einer Plattenbauwohnung in der Hallischen Silberhöhe. Und ob man sich für den Online-Unterunterricht ein Laptop mit den Geschwistern teilen musste oder ob in der Familie genügend Geräte vorhanden waren, hatte ebenfalls einen Einfluss auf den Lernerfolg.
Auch diese soziale Kluft zeige sich nun als Langzeitfolge, so Brock-Harder: "Die Schere, die wir ja schon immer haben, ist größer geworden. Kinder aus bildungsungewohnten Familien lernen weniger aus Eigenmotivation und können auch durch die Eltern weniger unterstützt werden. Das hat sich jetzt noch einmal verstärkt. Kinder sind zum Teil deutlicher abgehängt und haben auch keine Perspektive mehr, das alles tatsächlich nachzuholen."
Vergisst die älter werdende Gesellschaft den Nachwuchs?
Eine unbeschwerte Kindheitsphase war die Corona-Zeit für die meisten jungen Menschen nicht, denn so ziemlich alles, was Kinder und Jugendliche für ihre Entwicklung brauchen, war erst mal nicht oder nur mit großen Einschränkungen möglich. Und das wiederum habe Folgen bis heute, erklärt Therapeutin Brock-Harder: "Zu experimentieren, sich von den Eltern zu lösen, Grenzerfahrungen zu suchen, herumzureisen, zu Party zu gehen und im Sportverein seine körperlichen Grenzen auszuprobieren. Das alles konnte nicht erfüllt werden, sodass sich viele Jugendliche in die Medien und in die Online-Welt zurückgezogen haben."
Zu experimentieren, sich von den Eltern zu lösen, Grenzerfahrungen zu suchen, herumzureisen, zu Party zu gehen und im Sportverein seine körperlichen Grenzen auszuprobieren. Das alles konnte nicht erfüllt werden, sodass sich viele Jugendliche in die Medien und in die Online-Welt zurückgezogen haben.
Jugendweihen und Konfirmationen fielen aus, Klassenfahrten fanden nicht statt, Festivals und Konzerte wurden abgesagt, auch mit dem Verweis, das sei nötig, um die älteren Generationen zu schützen. Inés Brock-Harder fordert nun einen Blickwechsel: "Ich habe schon immer gesagt, dass wir gucken müssen, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht ihre Bedürfnisse über die der nachwachsenden Generation stellt. Bei der Schul- oder Freizeitorganisation, da spürt man eben noch nicht, dass wirklich auch die Interessen von Kindern und Jugendlichen beachtet werden."
Bundesregierung plant "Mental Health Coaches"
Auch als Reaktion auf die Dauerüberlastung von Lehrerinnen und Lehrern im Umgang mit den Corona-Folgen will die Bundesregierung zumindest für Brennpunktschulen sogenannte Mental Health Coaches finanzieren. Das sind speziell geschulte Schulsozialarbeiterinnen, die vor allem die psychologischen Folgen der Pandemie in den Blick nehmen sollen.
Wo solche Fachkräfte dann zum Einsatz kommen sollen, wird in enger Abstimmung mit den Bundesländern entschieden. Inés Brock-Harder hält die Idee prinzipiell für sinnvoll: "Ein niedrigschwelliges Angebot ist richtig. Allerdings wird es eine Weile dauern, bis das etabliert ist, denn es fehlen die Fachkräfte. Wenn es aber eine Problematik gibt, die nicht mit zwei, drei Gesprächen zu lösen ist, dann fehlt die ambulante Versorgung." In Sachsen-Anhalt warten Kinder und Jugendliche derzeit bis zu einem halben Jahr auf einen Termin bei einem Psychotherapeuten.
Unlängst war Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit einer Wirtschaftsdelegation in Indien, auch um jene Fachkräfte anzuwerben, die das deutsche Bildungssystem nicht mehr im ausreichenden Maße zur Verfügung stellt. Vielleicht hätte er auch ein paar Bildungspolitiker mitnehmen sollen, denn Reisen bildet und sicherlich gilt das auch in Fragen der Bildung.
MDR (Uli Wittstock)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 16. März 2023 | 07:45 Uhr
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