Helfer in Sachsen-Anhalt berichten Energiekrise und Inflation: Das sind die Folgen für Wohnungslose
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26. Februar 2023, 12:00 Uhr
Wenn Strom immer teurer wird, auch sonst alles immer teurer wird, trifft das Menschen mit geringem Einkommen am härtesten. Experten rechneten deshalb im Zuge von Energiekrise und Inflation mit einem Anstieg der Zahl der Obdachlosen. Verlässliche Zahlen dazu liegen noch nicht vor, doch Erfahrungsberichte zeigen: Bislang kam es in Sachsen-Anhalt anders.
- Im Zuge der Inflation und Energiekrise rechneten Experten mit einem Anstieg der Zahl der Obdachlosen.
- Verlässliche Zahlen gibt es dazu bislang nicht. Aber Erfahrungsberichte aus Sachsen-Anhalt zeichnen ein anderes Bild.
- Woran das liegt und welche Probleme es dennoch gibt.
Das Schlimmste war zu befürchten. Marcel Perner ist ehrlich: "Ich dachte, dass die Obdachlosenunterkunft übervoll sein wird." Der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, die Inflation – all das kam im vergangenen Jahr zusammen. Auswirkungen ungewiss.
Also "haben wir uns Gedanken gemacht, wie wir uns auf diesen Fall vorbereiten können", sagt der Leiter des Sozialzentrums Bernburg. "Einige Zimmer, die bislang anderweitig genutzt wurden, haben wir freigehalten, um sie zur Not zu räumen und als Unterkunft nutzen zu können."
Das war im Herbst vergangenen Jahres. Die Zimmer sind bis heute frei. Denn: "Wir haben durch die ganze Situation nicht mehr Obdachlosigkeit zu verzeichnen als in den vergangenen Jahren", sagt Marcel Perner, der die Unterkunft leitet, und schiebt hinterher: "Zum Glück!"
Wenn Strom immer teurer wird, auch sonst alles immer teurer wird, angefangen bei Lebensmitteln bis hin zur Kleidung, dann trifft das Menschen mit geringem Einkommen am härtesten. Experten rechneten deshalb im Zuge der Inflation und Energiekrise mit einem Anstieg der Zahl der Obdachlosen.
Verlässliche Zahlen gibt es dazu noch nicht. Doch Berichte wie der von Marcel Perner zeigen: Zumindest bislang kam es in Sachsen-Anhalt anders.
Teurerer Alkohol? "Wird meistens sowieso geklaut"
Ein Dienstag Mitte Februar in Bernburg. Treffpunkt Obdachlosenunterkunft, gegenüber vom Bahnhof, mitten im Stadtzentrum. Zwölf Wohnungslose leben derzeit hier. Über die eigene Situation sprechen will niemand von ihnen. Dafür empfängt Marcel Perner zum Interview. Vor 20 Jahren absolvierte der heute 41-Jährige während des Studiums ein Praktikum in der Obdachlosenunterkunft. Nun leitet Perner seit acht Jahren das Sozialzentrum, dem auch die Unterkunft und die Bernburger Tafel angehören.
Stichwort Tafel: Ja, dort habe es in den vergangenen Monaten eine stärkere Nachfrage gegeben, erzählt Perner. Aber: "Wir verzeichnen auch eine höhere Spendenbereitschaft", sagt er. "Mittlerweile haben wir mehrere Transporter, die jeden Tag rausfahren und alles einsammeln. Das ist wie ein kleines Logistikunternehmen. Aber noch können wir das alles stemmen."
Vom Angebot der Bernburger Tafel würden auch die Wohnungslosen profitieren. Was Lebensmittel angeht, spiele die Inflation für sie also kaum eine Rolle, erzählt Perner.
99 Prozent der Menschen hier haben irgendein Stoffproblem. Es wird immer schlimmer.
Doch wer über Obdachlosigkeit und deren Gründe spricht, landet schnell bei Suchterkrankungen, zum Beispiel der Alkoholsucht. Und auch der Alkohol ist teurer geworden. Wirkt sich das also aus? Nein, glaubt der Leiter des Sozialzentrums, denn: "Es wird sowieso meistens geklaut. Die Beschaffungskriminalität ist wirklich riesig. Die meisten beschaffen sich ihren Stoff nicht legal."
Weit mehr Obdachlose seien heutzutage drogenabhängig als früher, sagt Perner. "99 Prozent der Menschen hier haben irgendein Stoffproblem. Es wird immer schlimmer", sagt er. "Früher hatten wir hauptsächlich ältere Alkoholiker. Heute sind es Leute Mitte 40 oder ganz jung, gerade 18 oder 19 Jahre alt. Aktuell ist Crystal Meth im Kommen. Die Leute, die das konsumieren, sind total undurchsichtig. Du musst immer damit rechnen, dass sie ein aggressives Verhalten an den Tag legen und kannst kaum mit ihnen arbeiten."
Die Angst vor der Post
Anders ist das im Magdeburger Stadtteil Buckau. Ein fünfgeschossiges Wohnhaus beherbergt dort das Pilotprojekt "Begleitetes Wohnen". Im Erdgeschoss hat Anke Glowinski ihr Büro. Täglich arbeitet die Sozialpädagogin mit den Projektteilnehmern und Projektteilnehmerinnen zusammen. Die Menschen, die in den neun Wohnungen leben, waren obdachlos, aber wollen das ändern. Und sie besitzen das Potenzial dazu. Hier sollen sie das eigenständige Wohnen wieder lernen. "Und auch einfach Leben lernen", sagt Glowinski.
Was das bedeutet? Es beginne beim Öffnen der Post, erzählt die Sozialarbeiterin. Davor keine Angst mehr zu haben, sei für viele ein großer Schritt. Denn in der Regel war die Post in der Vergangenheit für sie immer gleichbedeutend mit schlechten Nachrichten. Diese nicht mehr zu verdrängen, sondern an den Problemen zu arbeiten, ist das Ziel. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen ihren Haushalt führen, den Alltag bewältigen lernen, dem Tag einen Sinn geben.
"Die Menschen haben die Erfahrung gemacht, ihre eigene Wohnung und damit auch einen Teil ihrer Würde zu verlieren", sagt Anke Glowinski. "Viele haben alles ausgeblendet, keine Post mehr geöffnet, keine Leistungen mehr beantragt, Schulden haben sich aufgebaut. Dazu kommen oft psychische Problemlagen. Hier haben sie die Möglichkeit, sich erstmal zu stabilisieren, sich ihren Problemen zu stellen und eine Perspektivplanung zu machen."
Lernen, Hilfe anzunehmen
Einmal pro Woche besucht Glowinski die Bewohner und Bewohnerinnen in ihren Wohnungen. Außerdem ist wöchentlich ein weiterer Gesprächstermin in ihrem Büro angesetzt. Auch sonst ist die Sozialarbeiterin immer ansprechbar, wenn sie gebraucht wird. 13 Personen seien im vergangenen Jahr eingezogen, erzählt sie. Manche bleiben zwei, drei Monate, andere brauchen länger.
So oder so: "Mit dem Erleben, dass es wieder Hoffnung gibt, ist es vielen Projektteilnehmern gelungen, sich von dem Projekt zu lösen und das Leben wieder Stück für Stück in die eigenen Hände zu nehmen", erzählt Glowinski. "Die Probleme sind mit dem Auszug hier nicht komplett beseitigt. Aber die Menschen haben dann viele Dinge an die Hand bekommen und viel gelernt, vor allem, Hilfen anzunehmen." Das reiche von der Zusammenarbeit mit der Schuldnerberatung über Psychotherapien bis hin zur Zusammenarbeit dem Jobcenter.
Noch bis 2024 läuft das Projekt. Dann wird evaluiert und der Stadtrat muss entscheiden, ob es weitergeht. Schon jetzt sagt Anke Glowinski: "Der Bedarf ist da und das Projekt wird sehr gut angenommen."
Wohnungslosigkeit – Obdachlosigkeit – Wohnungsnotfall
Wohnungslose Menschen verfügen über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum. Dazu gehören Personen, die obdachlos sind, vorübergehend bei Verwandten oder Bekannten unterkommen, in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege oder in kommunalen Einrichtungen leben. Die Begriffe Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit werden häufig synonym verwendet. Als obdachlos wird allerdings nur ein Teil der wohnungslosen Menschen bezeichnet. Als obdachlos gelten Personen, die im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten. Weiter gefasst ist dagegen der Begriff des Wohnungsnotfalls. Von einem Wohnungsnotfall spricht man, wenn eine Person wohnungslos ist, beispielsweise durch eine Räumungsklage von Wohnungslosigkeit bedroht ist oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt, beispielsweise in einer Wohnung mit erheblichen baulichen Mängeln.
Das große Problem: zu wenig Wohnraum
Simone Schäfer ist Leiterin der Abteilung Wohnen im Sozial- und Wohnungsamt Magdeburg. Ob die Energiekrise und Inflation eine Auswirkung auf die Obdachlosigkeit hat? "Nein", sagt Schäfer, "das können wir nicht feststellen. Die Energiekrise führt bislang in der Regel nicht zu Verlust von Wohnraum. Auch wir hatten das vermutet, aber es hat sich nicht bewahrheitet."
Auch bei der Schuldnerberatung seien Energiekosten kein größeres Thema als in den vergangenen Jahren, sagt Schäfer. Und: "Ich glaube auch nicht, dass da jetzt noch eine Welle zu erwarten ist. Was wir aber von den Suppenküchen und Tafeln hören, ist, dass jetzt mehr Menschen diese Angebote wahrnehmen, um über die Runden zu kommen, weil eben alles teurer wird, gerade auch ältere Menschen mit geringer Rente sind dort mehr vertreten."
Ein weit drängenderes Problem als Inflation oder Energiekrise: die Wohnungsnot. Gerade auch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes "Begleitetes Wohnen", die im Anschluss ja ein normales Mietverhältnis anstreben. Zwar sieht die Wohnungswirtschaft in Sachsen-Anhalt keine flächendeckende Wohnungsnot im Land, eher das Problem des Leerstandes, doch Anke Glowinski sagt: "Es steht einfach weniger Wohnraum zur Verfügung und der Vermieter hat die Wahl, eher jemanden ohne Mietschulden zu nehmen als jemanden mit Mietschulden. Früher haben auch diese Leute eher eine Chance bekommen, weil mehr Wohnraum da war. Mittlerweile erfolgt der Zuschlag deshalb aber oft nicht."
Die Folge: Obdachlose finden nur schwer zurück in ein geordnetes Wohnen und müssen auf die Angebote der Stadt zurückgreifen.
"Ich bin seit 17 Jahren in dieser Funktion und erlebe es jetzt zum ersten Mal, dass wir mit unseren 88 Plätzen in der Obdachlosenunterkunft an unsere Grenzen kommen", sagt Simone Schäfer. "Sonst hatten wir immer eine Auslastung von gut 50 Prozent. Aktuell sind wir aber ziemlich voll. Und wir erfahren erstmals, dass sich Ein- und Auszüge nicht mehr die Waage halten. Das ist eine Geschichte, wo wir perspektivisch an unsere Grenzen kommen. Eben weil es für unser Klientel immer schwerer wird, eine Wohnung zu finden."
Die Wohnungsnot habe vermutlich auch mit der Zuflucht von rund 4.500 Menschen Flüchtlingen aus der Ukraine zu tun, die in Magdeburg ein neues Zuhause suchen, sagen Schäfer und Glowinski. Einen Zusammenhang zur Energiekrise oder Inflation sehen sie hingegen nicht.
Standortwechsel. Auch in Halle sind die Erfahrungen ähnliche. Sogenannte Wärmecafés sollten dort Menschen, die mit gestiegenen Energiekosten zu kämpfen haben, einen warmen Raum bieten. Das Angebot war weniger an Obdachlose gerichtet. Trotzdem konnten auch Menschen, denen aufgrund der Energie-Krise vielleicht sogar der Verlust der Wohnung gedroht hätte, dort einen Platz finden.
Wärmecafés in Halle kaum genutzt
"Im Herbst vergangenen Jahres war die Situation ja sehr bedrängend. Man musste befürchten, dass es sehr kalt werden würde, dass es überhaupt keine Energie geben würde, damit die Menschen es irgendwie warm kriegen oder es sich nicht leisten können", sagt Pfarrerin Simone Carstens-Kant, die für das Wärmecafé an der Marktkirche Halle zuständig ist. "Deshalb haben wir gesagt, dass wir unsere Gemeinderäume öffnen, damit die Menschen nicht frieren müssen, sondern zumindest tagsüber eine Möglichkeit haben, sich aufzuwärmen."
Ein lobenswertes Angebot. Unbestritten. Nur: Bislang nutzt es kaum jemand. "Der Zustrom ist gar nicht so groß", sagt die Pfarrerin. Aber: "Zum Glück!" Denn: "Das ist ja ein gutes Zeichen dafür, dass die befürchteten Härten für die meisten Menschen ausgeblieben sind." Mitte März werden die Wärmecafés in Halle wieder schließen.
Nun stellt sich natürlich die Frage: Woran liegt es, dass die befürchteten Zustände in Bezug auf Obdachlosigkeit während der Krisen-Zeit bislang offenbar nicht eingetreten sind? Marcel Perner, Leiter des Sozialzentrums in Bernburg, sagt: "Wir haben ein relativ gutes Sozialsystem, das das abfedert. Angefangen bei Hartz IV bis hin zur Strompreisbremse."
Oft Einzelschicksale
Und dann gibt Perner noch zu bedenken: "Die meisten unserer Betroffenen haben nicht so einen riesigen Stromverbrauch." Viele leben allein, bevor sie obdachlos werden. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Einzelschicksale. Und: "Vielleicht wurde der Strom bei einigen ja auch abgestellt, weil sie ihn nicht mehr bezahlen konnten", sagt Marcel Perner, "aber das ist ja nicht gleichbedeutend mit der Folge, dass jemand obdachlos wird, solange er seine Miete noch bezahlen kann."
Jedenfalls "sind wir froh", sagt Perner, "dass unsere Befürchtungen nicht eingetreten sind."
MDR (Daniel George)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 26. Februar 2023 | 09:00 Uhr
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