Abstiegsangst und Armutsfalle Wie belastbar ist das soziale Netz in Sachsen-Anhalt?

03. Juli 2022, 17:28 Uhr

Wer hilft bei Armut und finanziellen Problemen? Mit dem Krieg in der Ukraine und der Inflation stoßen nicht nur Haushalte an ihre Grenzen, sondern auch Hilfsorganisationen wie die Tafel. Aber es gibt auch Beratung und Unterstützung im Alltag. Uli Wittstock war in Sachsen-Anhalt unterwegs.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Sucht man die Begriffe Armut und Sachsen-Anhalt im Netz, dann landet man schnell auf den Internetseiten des Sozialministeriums. Das ist nicht verwunderlich, denn dieses ist für das Thema vorrangig zuständig. Unter der Überschrift "Kompetenzzentrum Soziale Innovation in Sachsen-Anhalt" finden sich Zahlen zur Armut in Sachsen-Anhalt. Diese sind allerdings fünf Jahre alt.

Keine aktuelle Forschung zu sozialer Innovation im Land

Unter dem Stichwort "Innovative Projekte" werden drei Beispiele vorgestellt: Die Initiative "Arbeiterkind" mit Sitz in Berlin, die die Chancen von Studierenden aus Nichtakademikerhaushalten verbessern will, die studentische Initiative "Rock your life", die sich für Chancengerechtigkeit einsetzt, sowie das Projekt "Max geht in die Oper".

Zur Erklärung dieses Projekts heißt es: "Gemeinsam mit ihrem ehrenamtlichen Kulturpaten besuchen die Kinder innerhalb eines halben Jahres vier Kulturveranstaltungen – sei es eine Aufführung im Puppentheater, in der Oper, ein Konzert oder einen Kinofilm." Armen Menschen wird ja gerne eine gewisse Kulturferne unterstellt, und dem soll so offenbar mit "Kulturpaten" entgegengewirkt werden. Sachsen-Anhalt rückt also vorbildhaft mit Wagnerklängen der Armut zu Leibe.

Ich hätte gerne mit dem "Zentrum für Soziale Innovation" weitere innovative Ideen besprochen, doch leider kam als Antwort: "Wir führen aktuell keine Forschung und Projektarbeit in diesem Feld durch." Die Armut scheint besiegt zu sein, wahrscheinlicher ist jedoch, dass die EU-Fördermittel ausgelaufen sind.

Keine einfachen Lösungen

Allerdings ist fraglich, ob man zu diesem Thema noch viel Forschung braucht. In Sachsen-Anhalt sind derzeit 25 Prozent aller Kinder sowie jeder dritte Jugendliche statistisch gesehen arm. Wer in Ausbildung ist oder studiert, der fällt besonders oft unter die Armutsgrenze. Für die meisten ist das allerdings nur eine vorrübergehende Situation.

Es fehlt also nicht an Untersuchungen zu Ursachen und Folgen der Armut, was aber fehlt sind politische Entscheidungen. Das kritisiert auch Robin Radom vom Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt: "Wir haben die Daten zum Thema Kinderarmut. Es gibt auch politische Lösungsansätze, aber sie werden nicht verfolgt."

Allerdings lässt sich Armut nicht so einfach durch Gesetz oder Verordnung abschaffen. Denn es sind ganz unterschiedliche Bereiche, die mit dem Thema in Zusammenhang stehen. Das räumt auch Robin Radom ein: "Das ist ein komplexes Problem, das in vielen Handlungsfeldern eine Rolle spielt. Wir bewegen uns da in der Wirtschaft, im Sozialen, in der Familien- und Wohnungspolitik. Und überall müssen letztendlich die richtigen Knöpfe gedrückt werden."

Am Ende des Monats: Toastbrotwoche

Nun fällt hierzulande niemand bodenlos durchs Raster. Es gibt zahlreiche Hilfsangebote – auch wenn es mitunter schwer ist, sich durch den Berg von Antragsunterlagen zu arbeiten, um einen Zuschuss zur Klassenfahrt zu ergattern. Zumal die Ämter mitunter viel Zeit für eine Entscheidung brauchen.

Allein das Bundesfamilienministerium listet insgesamt 23 Angebote auf, um Familien zu entlasten. Doch der Alltag von Betroffenen bleibt schwierig. Denn schon Kinder ahnen, dass mit einem armen Elternhaus die Lebenschancen erheblich eingeschränkt sind. Und so lernen arme Menschen sehr früh ihre Probleme zu verstecken.

Das führe nicht selten zu Rückzug aus dem schulischen Umfeld, so Robin Radom vom Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt: "Bei armen Kindern kommt es verstärkt zu sozialer Isolation. Armut ist ein schambehaftetes Thema. Man möchte seine Freunde zum Beispiel nicht nach Hause einladen.

Ansonsten haben arme Kinder und Jugendliche auch häufig einen schlechteren Gesundheitszustand – durch den Mangel an Ernährung, weil mal eine Mahlzeit ausfällt. Oder manchmal ist die Ernährung auch zu ungesund." Die letzte Woche des Monats gilt als "Toastbrotwoche", denn zu mehr Essen reicht es dann bei so manchem nicht mehr.

Tafeln in Not

Mit der Einführung der Hartz 4-Gesetze kehrten die Suppenküchen nach Deutschland zurück, allerdings mit dem Begriff "Tafel", um sich von der klassischen Armenküche zu unterscheiden. Doch inzwischen gibt bei den Tafeln kaum noch etwas aufzutafeln. Das bestätigt Ines Grimm-Hübner, Geschäftsführerin vom AWO Kreisverband Salzland.

In Schönebeck und Umgebung betreibt die AWO sechs Ausgabestellen. Viel zu verteilen gibt es nicht mehr: "So eine Tafelkiste ist für drei Personen bestimmt. Vor der Krise hatte die etwa einen Wert von rund 35 Euro. Inzwischen haben wir manchmal nur noch gefrorene Brötchen und eine Cocktailsauce drin. Also bei weitem nicht das, was wir unter Lebensmittelversorgung verstehen. Wir sind zwar immer nur eine zusätzliche Hilfe, aber eben auch eine wichtige Hilfe."

Wie wichtig diese Hilfe ist, zeigt sich an einem einfachen Rechenbeispiel: Bei einem Hartz 4-Regelsatz von 449 Euro und einer Inflation von knapp acht Prozent verliert jeder Hartz 4-Empfänger rund 35 Euro monatlich an Kaufkraft. Nun hat allerdings die Bundesregierung auch ein Entlastungspaket für Hartz 4-Bezieher auf den Weg gebracht – eine Einmalzahlung von 200 Euro. Das dürfte aber nicht reichen, um Kaufkraftverluste vollständig auszugleichen.

Verunsicherung wächst

Wer Hartz 4 bezieht, hat derzeit allerdings einen kleinen Vorteil, denn die Kosten für Miete und Energie übernimmt der örtliche Sozialträger. Mit Blick auf die Explosion der Energiepreise fängt das einen Teil der Inflationsfolgen ab. Bei Menschen mit geringem Einkommen wächst hingegen die Furcht vor dem sozialen Abstieg und Sozialverbände bemerken eine zunehmende Verunsicherung.

Der AWO-Kreisverband Schönebeck bietet eine breite Palette von Hilfsangeboten an. In der täglichen Arbeit zeigen sich die Folgen schnell, so Geschäftsführerin Ines Grimm-Hübner: "Wir sehen es bei der Erziehungsberatung, bei den niederschwelligen Hilfen oder auch bei der sozialpädagogischen Familienhilfe, dass die Familien immer mehr an den Rand ihrer eigenen Lebensabläufe kommen. Ich sehe es bei der Suchtberatung, wo wir viele Rückfälle haben, weil die Menschen einfach total verzweifelt sind, da sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Ich sehe es bei den Menschen mit einer Depressionserkrankung, die wir auch als Selbsthilfegruppen betreuen. Auch da gibt es eine große Verunsicherung und deshalb wird das Abkapseln nach außen natürlich immer stärker."

Ruf nach einer sozial-ökologischen Transformation

Nicht erst seitdem der Kanzler eine Zeitenwende verkündete ist klar, dass die bisherige Form unseres Lebens und Arbeitens sich ändern wird. Eine Wirtschaft, die auf Kosten der Umwelt produziert, wird in Zukunft nicht mehr wettbewerbsfähig sein. 

Raus aus Kohle und Gas, kein Benzin und Diesel mehr, so lauten die Schlagzeilen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Energie, Transport und Individualverkehr deutlich teurer werden. Doch auch das Energiesparen muss man sich leisten können, denn Produkte mit hoher Energieeffizienz sind zumeist in der oberen Preiskategorie angesiedelt.

Auch ein Elektrofahrzeug kann sich nur leisten, wer in einem Eigenheim wohnt und das Auto auf eigenem Grundstück laden kann. Es fehlt an der öffentlicher Ladeinfrastruktur. Und selbst ein Elektrorad dürfte derzeit für die meisten Mieter keine Option sein, denn um es sicher zu parken, bräuchte es diebstahlsichere Unterstellmöglichkeiten.

Die Energiewende muss mit einer sozialen Komponente gedacht werden, fordert Christoph Stolte, Vorstandvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland: "Ein Teil der Bevölkerung hat nicht die Chance, auch wenn sie es persönlich für richtig halten, Energie zu sparen. Wenn ich darauf angewiesen bin, immer nur das Billigste zu kaufen, dann nützen mir auch fair gehandelte und ökologisch verantwortliche Produkte nichts, weil ich sie mir gar nicht leisten kann."

Ist die Forderung nach Umverteilung eine Neiddebatte?

Für Christoph Stolte ist klar, dass zukünftige Entwicklung nur gelingen kann, wenn jene Teile der Gesellschaft, die sich schon jetzt abgehängt fühlen, mitgenommen werden. Und das könne ohne Debatte über die Umverteilung von Lasten nicht gelingen.

Angesichts der Herausforderungen gäbe es dazu keine Alternative. Den Begriff der "Neiddebatte" hält der Diakoniechef an dieser Stelle für falsch: "Wenn man so eine Debatte gleich emotionalisiert, dann kann man eigentlich nicht mehr mit der nötigen Nüchternheit darauf schauen. Es hilft nicht in der Diskussion. Denn jemand, der gut verdient, ist erstmal nicht daran schuld, dass er gut verdient. Wir müssen mit diesen Schuldfragen aufhören, sondern schauen, wie wir einen größeren Ausgleich in der Gesellschaft organisieren."

Möglicherweise wäre auch das eine soziale Innovation, statt mit armen Kindern in die Oper zu gehen. So könnte man ihnen ein kostenfreies tägliches Mittagessen ermöglichen. Die Stadt Stendal ist da Vorreiter in Sachsen-Anhalt. Dort soll es demnächst sogenannte "Freitische" für Kinder im Grundschulalter geben.    

  

MDR (Uli Witttstock,Julia Heundorf)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 03. Juli 2022 | 12:00 Uhr

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