Fehlende Beratung Armut im ländlichen Raum: "Das ist wirklich schrecklich"

20. Februar 2023, 17:16 Uhr

Das soziale Netz in Deutschland gilt als beispielhaft. Und doch sind in Sachsen-Anhalt Zehntausende von Armut bedroht oder betroffen. Zwar gibt es Hilfe vom Staat – vieles davon kommt aber nicht bei den Betroffenen an. Darunter leiden vor allem Menschen im ländlichen Raum. Eine Analyse.

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Calbe (Saale), Lessingstraße – in ehemaligen Laden-Räumen hat die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ein Nachbarschafts-Zentrum eingerichtet. Das Wohngebiet ist großzügig geplant, sogenannter Stalin-Barock, nach dem Krieg errichtet für die Arbeiter eines Hüttenwerkes, das jedoch schon 1970 seine Produktion einstellte. Einen armen Eindruck macht die Gegend nicht. Die Gebäude sind saniert und wirken gepflegt, kein Müll liegt herum, auch Spuren von Vandalismus sind kaum zu sehen. Der soziale Frieden scheint hier also ziemlich intakt zu sein.

Immer mehr Senioren gehen mit niedrigerem Einkommen in Rente

Doch die Fassaden verdeckten die wirklichen Probleme, sagt Holger Schwenzfeier, der seit vielen Jahren für die AWO im Salzlandkreis unterwegs ist, überwiegend mit Angeboten für ältere Menschen. Inzwischen habe sich die Situation dramatisch verändert, erklärt Holger Schwenzfeier: "Wir haben es jetzt mit Senioren zu tun, die mit einem weitaus geringeren Einkommen in die Rente gehen, als das, was wir vor fünf, sechs, sieben, acht Jahren noch hatten, so dass es nicht möglich ist abzuschätzen, wie es weitergeht."

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Altersarmut als tickende Zeitbombe

Was Altersarmut zu einem besonderen Problem macht, ist, dass man aus eigener Kraft kaum etwas an dieser Situation ändern kann – es sei denn, man ist fit genug, etwas hinzu zu verdienen. Was da an Altersarmut nun aufscheint, ist aber keine plötzliche Entwicklung, sondern die Spätfolge der Deindustrialisierung in den 1990er Jahren, als die ostdeutsche Wirtschaft den Wende-Schock nicht überlebte.

Man spricht vornehm von gebrochenen Erwerbsbiografien. Armut ist in Sachsen-Anhalt aber vor allem eine Einkommens-Armut, gekennzeichnet durch einen hohen Niedriglohnsektor. Doch konnte sich so mancher noch einigermaßen durch den Monat hangeln, ist das nun deutlich schwieriger geworden. Der Reallohn-Verlust im Jahr 2022 betrug nach offiziellen Berechnungen 4,1 Prozent.

Und weil nunmehr im dritten Jahr in Folge die Reallöhne gesunken sind, dürfte auch ein etwaiges finanzielles Polster deutlich geschmolzen sein. Für die Betroffenen ist das aber nicht nur ein finanzielles Problem, sondern auch ein psychologisches, sagt Holger Schwenzfeier: "Zuzugeben: Dass man ein ganzes Leben lang gearbeitet hat und dennoch keine auskömmliche Rente bekommt, ist ein Riesen-Problem. Diese Menschen, die gehen nicht zur Tafel, weil sie der Meinung sind, sie möchten keine Almosen. Es ist schwierig an diese Menschen heranzukommen. Sie gehen kaum noch raus, weil das Geld für gesellschaftliche Aktivitäten fehlt."

Ländlicher Raum – arm und einsam

Calbe (Saale) gehört zum Salzlandkreis und in den Städten wie Aschersleben, Bernburg, Staßfurt oder Schönebeck gibt es zahlreiche Hilfsangebote für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Doch in kleineren Orten wie Pömmelte, Zuchau oder Gröna ist die Situation um einiges schwieriger.

Das bestätigt auch Liselotte Fahldeck. Sie wohnt in Wilhelmshall bei Halberstadt im Landkreis Harz und kann nur in der Stadt die Hilfsangebote nutzen. "Solange wir arbeiteten, hatten wir ja immer Menschen um uns. Und dann bist du plötzlich zu Hause und weniger mobil. Auf dem Land ist es wirklich schrecklich. Wenn Sie in so einem Kaff wohnen wie wir, da kümmert sich kein Mensch. Da hat auch nicht während der Coronazeit mal jemand gefragt."

Bislang galten die Sozialstruktur der Dörfer, der größere Zusammenhalt und die Nachbarschaftshilfe als wichtige Säule des Zusammenlebens. Doch vor allem die Dörfer leiden unter dem demografischen Wandel und das zeigte sich eben beispielhaft in der Coronapandemie, als vor allem der ländliche Raum zunächst von Impf-Angeboten ausgeschlossen war. Auch Holger Schwenzfeier bestätigt das Problem: "Leider ist es so, dass wir nicht alle erreichen, gerade auch in den ländlichen Regionen. Es besteht die große Gefahr, dass die Leute einfach in Vergessenheit geraten."

Kaum soziale Hilfe im ländlichen Raum

Dass der ländliche Raum von sozialen Hilfsangeboten kaum erreicht wird, bestätigt auch die Präsidentin des AWO-Landesverbandes, Barbara Höckmann. Dabei ist Sachsen-Anhalt überwiegend ländlich geprägt und alle Parteien im Magdeburger Landtag werden nicht müde zu betonen, dass diese Regionen nicht als abgehängt gelten dürften. Doch in der Praxis erweist sich das nicht selten als eine leere Worthülse.

Barbara Höckmann sieht erhebliche Probleme: "Die Leute haben es schon mal schwer, einen Bus zu finden, der sie irgendwohin bringt, damit sie eine Beratung in Anspruch nehmen können. Viele wissen auch gar nicht, dass es Beratungen gibt. Es wäre sinnvoll, mobil zu beraten, also dorthin zu gehen, wo die Leute sind. Man könnte Räumlichkeiten nutzen, die jedes Dorf eigentlich zur Verfügung hat, immer im Wechsel mit anderen Dörfern."

Aufsuchende Sozialarbeit nennt man solche Konzepte, die in den Städten seit vielen Jahrzehnten erprobt sind, im ländlichen Raum bislang aber keine Rolle spielen. Es mangelt nicht so sehr am Willen, sondern an den Finanzen. Denn Beratung kostet Geld, sofern sie nicht ehrenamtlich erfolgt.

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Sozial-Beratung fehlt

Doch es gibt noch ein weiteres Problem. Beratung finden eigentlich nur jene, die sich in einer konkreten Notlage befinden. Wer in der Schuldenfalle steckt, wer Drogenprobleme hat, wer spielsüchtig ist oder Probleme mit Gewalt löst, der findet Hilfe. Wer aber noch nicht verschuldet ist und seine Probleme nicht mit Hilfe von Drogen vergessen will, der bleibt zunächst auf sich selbst gestellt. Höckmann fordert deshalb eine allgemeine Sozial-Beratung, um den Betroffenen den Weg durch den Paragrafen-Dschungel zu weisen und zu informieren, welche Ansprüche es nach geltendem Recht gibt.

Wohngeld: Viel zu wenige Informationen

Das aktuelle Beispiel des Wohngeldes zeige, was alles schief laufe in diesem Bereich. Das Gesetz sei gut, doch die Information darüber mangelhaft. "Viele können Wohngeld beantragen, aber sie wissen es oft gar nicht. Und dann ist die Frage, inwieweit derjenige, der Gesetze erlässt, auch in der Lage ist, Leute zu informieren, dass die ihre Rechtsansprüche wahrnehmen können. Und man bräuchte vielmehr Kampagnen, wo die Leute wirklich darauf hingewiesen werden, ihre Rechtsansprüche zu nutzen. Und da fehlt es ganz eindeutig."

Als Corona auf dem Höhepunkt war, startete die Bundesregierung eine breite Kampagne zu Maskenpflicht und Schutzimpfungen. Zur Neuregelung des Wohngeldes gibt es in Sachsen-Anhalt noch nicht mal einen Flyer. Ohne in das Reich von Verschwörungs-Erzählungen abzudriften, könnte man beinahe eine Art Absicht vermuten, bestätigt auch Barbara Höckmann: "Da könnte man vermuten, dass das Interesse nicht sehr groß ist, dass alle ihre Leistung wirklich in Anspruch nehmen."

Könnte ein Armuts-Beauftragter helfen?

Gelegentlich hilft sich die Landesregierung, indem sie komplexe Probleme bündelt und mit einem Beauftragten zu mehr politscher Schlagkraft verhelfen will. So hat Sachsen-Anhalt neben der Gleichstellungsbeauftragten, dem Kinderbeauftragten, dem Behindertenbeauftragten, der Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur neuerdings auch einen Antisemitismusbeauftragten. Einen Armuts-Beauftragten gibt es hingegen bislang nicht, übrigens nirgends in Deutschland.

Sachsen-Anhalts Sozialverbände haben sich unter einem Dach zusammengeschlossen, der "Liga". Deren Geschäftsführer, Uwe Leicht, sieht die Idee eines Armuts-Beauftragten durchaus kritisch: "Wenn es lediglich um die Produktion von Stellungnahmen für eine Schublade geht, dann könnte man das Geld direkter verwenden. Insofern ist die Frage, welche Befugnisse er oder sie hat, ganz wichtig. Interessanter und viel wichtiger wäre für uns, dass die Ministerien die Ursachen der Armut bekämpfen und nicht nur die Folgen beschreiben."

Für Uwe Leicht stehen da vor allem das Bildungs- und das Sozialministerium im Fokus. Bildung und Ganztagsbetreuung, damit Eltern arbeiten können, seien wichtige Stellschrauben, damit das Thema Armut sich nicht mehr stelle.

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Sachsen-Anhalts Sozialministerium sieht die Debatte ebenfalls kritisch. Sozialministerin Petra Grimm-Benne sagte MDR SACHSEN-ANHALT: "Aus meiner Sicht braucht es keinen neuen Beauftragten, um Einkommens-Armut und die Zahl armutsgefährdeter Kinder zu senken." Die Ministerin verwies in diesem Zusammenhang auf das Kinderförderungsgesetz der Landesregierung. Und mit Blick auf die Altersarmut fügt sie hinzu: "Gut bezahlte Arbeit ist der beste Schutz vor geringen Renten. Für all die Menschen, bei denen die Rente nicht ausreicht, wurde auf bundespolitischer Ebene die Grundrente erkämpft."

Mehr zum Thema: Armut in Sachsen-Anhalt

MDR (Uli Wittstock, Luca Deutschländer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. Februar 2023 | 17:00 Uhr

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