Armut macht einsam Heißer Herbst vs. Wärmewinter: Der Armut auf der Spur
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19. Februar 2023, 16:58 Uhr
Energiekrise, Krieg in der Ukraine, Inflation: Nicht wenige prognostizierten im vergangenen Jahr einen "heißen Herbst". Der blieb, von ein paar Demonstrationen abgesehen, eher verhalten. Auch die Forderung einiger Politiker, Wärmehallen vorzuhalten erwiesen sich als übertrieben. Doch sind die großen Verwerfungen wirklich ausgeblieben? Der Blick auf die Armut in Sachsen-Anhalt lässt zweifeln.
- Der prognostizierte "heiße Herbst" ist ausgeblieben. Zwar demonstrieren einige wenige noch immer montags – die grassierende Armut spielt aber kaum eine Rolle.
- Die Diakonie in Halberstadt betont: Armut sieht man vielen nicht an. Das zeigt sich auch bei einem neuen Angebot: einer Art Suppenküche.
- Einige der Rentner dort haben ihr ganzes Leben gearbeitet – und kommen trotzdem. Und doch klagen sie nicht.
Es war wie so oft, wenn sich in Deutschland dramatische Änderungen abzeichnen: Der Mensch wird zum Selbstversorger. Im vergangenem Herbst profitierten davon aber nicht die Hersteller von Toilettenpapier, sondern die Anbieter von Elektroheizgeräten oder Ölradiatoren. Aber weder stieg deshalb der Stromverbrauch steil nach oben, wie von vielen prognostiziert, noch blieben Heizungen wegen Gasmangels kalt. Auch der große wirtschaftliche Niedergang ist an Deutschland vorbei gegangen, bislang jedenfalls.
Für diejenigen aber, die davon leben, solche Ängste geschäftstüchtig zu verwerten, die Weltuntergangspropheten, Heilsteinverkäufer und Anhänger aller möglichen Reichsbürgerorden, ist das jedoch kein Problem, denn ihren Gewinn haben sie längst eingestrichen. War also all das Gerede über eine neue Armutswelle übertrieben?
Protest ohne Nachhall
Montags, 18 Uhr, auf dem Alten Markt in Magdeburg – hier treffen sich die letzten Protestler, die lautstark ihren Unmut über die politischen Verhältnisse formulieren. Es geht um die Corona-Politik, um den russischen Krieg gegen die Ukraine, um die deutschen Waffenlieferungen und den sogenannten Klima-Wahn. Folgt man den Ausführungen, dann hört man immer wieder Formulierungen, die bislang zum Arsenal rechter Propaganda gehörten. Sie scheinen inzwischen auch ganz selbstverständlich von echten oder nur vermeintlichen Friedensbewegten übernommen worden zu sein. Das freilich hindert die Redner nicht, zu betonen, fälschlicherweise in der rechten Ecke verortet zu werden.
Das Wort Armut tritt allerdings eher selten auf, sondern stattdessen sehr viel häufiger der Begriff des Wohlstandsverlusts. Wer hier demonstriert, würde sich selbst kaum als arm bezeichnen. Dennoch beklagen viele Redner, dass die großen Proteste hierzulande, anders als in Frankreich oder Großbritannien, ausgeblieben sind. Vor einem Jahr war das Bild noch ein anderes. Die Corona-Politik, und vor allem die Impfpflicht in medizinischen Einrichtungen, brachte Tausende auf die Straße. Wenn es ums Impfen geht, und das Gefühl, in der persönlichen Freiheit eingeschränkt zu werden, dann wird in Deutschland demonstriert. Armut hingegen scheint kein besonderer Grund zu sein, um Massen zu bewegen.
Armut ist auch ein Virus in Sachsen-Anhalt
Spätestens seit Corona wissen wir, dass medizinische Fachbegriffe politische Folgen haben können. Eine Krankheit, die die viele Menschen bedroht, wird als Pandemie bezeichnet. Wäre Armut eine Krankheit, dann wäre sie in Sachsen-Anhalt eine Pandemie, denn jeder fünfte Mensch in Sachsen-Anhalt ist arm. Und trotz aller Versuche, diese Entwicklung einzudämmen, trotz Mindestlohn, Bürgergeld und der Neuregelung des Wohngeldes, scheint sich daran nicht viel zu ändern. Vielmehr schleicht sich nun die Armut in Bevölkerungsgruppen ein, die bislang davon eher nicht betroffen waren.
Armut sieht man nicht
"Wir müssen unsere Vorstellung von Armut ändern", sagt Gabriele Schwentek, Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes in Halberstadt. "Wir denken an Menschen, die Obdachlos sind oder die Flaschen sammeln. Das aber sind Vorurteile. Armut sieht man vielen Menschen gar nicht an." Gabriele Schwentek spricht aus Erfahrung. Seit dem Herbst hat sie einen Ansturm auf die Hilfsangebote der Diakonie erlebt, den es so bislang noch nicht gegeben hat. "Allein in unseren Beratungsstellen gab es einen Zuwachs von Anfragen um 300 Prozent. Auch unsere Kleiderkammer hat deutlich mehr Kunden, als bisher."
Wir müssen unsere Vorstellung von Armut ändern. Wir denken an Menschen, die Obdachlos sind oder die Flaschen sammeln. Das aber sind Vorurteile. Armut sieht man vielen Menschen gar nicht an.
Zunehmend seien es nun auch Hausbesitzer, oft Senioren, die sich meldeten, weil sie die Heizkosten für ihr Häuschen nicht mehr zahlen könnten. Mit einer Spende der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands bietet die Diakonie Halberstadt jetzt jeden Dienstag ab 13 Uhr eine warme Suppe an. Das ist Teil einer Aktion mit dem Namen "Wärmewinter".
Arm trotz Arbeit
Zum ersten Mal sind Liselotte Fahldeck und ihr Mann bei der Suppenküche dabei. Sie sitzen am Ende der langen Tafel, im Gespräch mit einem weiteren Ehepaar. Den Tipp, hier mal vorbeizuschauen, bekamen sie von ihrem Sohn. Die Fahldecks wohnen in Wilhelmshall im Huy, ein kleiner Ort mit gerade mal 13 Einwohnern. "Da haben wir uns von der Treuhand ein Haus gekauft und das bereuen wir nun. Damals aber waren wir noch blauäugig und dachten, wir verdienen mal gut Geld."
Tatsächlich stürzten sich die Fahldecks nach der Wende in das Abenteuer Marktwirtschaft. Zunächst starteten sie mit zwei Gartenlokalen, später betrieb Liselotte Fahldeck zwei Cafeterien in Pflegeheimen. "Da bin ich noch mit so einem Einkaufswagen von Zimmer zu Zimmer gegangen und habe die Leutchen versorgt. Jeder, was er so brauchte." Doch die, die sie da versorgte, waren alle selbst knapp bei Kasse. Reichtümer konnten die Fahldecks also fürs Alter nicht ansparen. "Unser altes Haus hat dünne Wände. Das merkt man jetzt bei den Heizkosten. Wir zahlen 400 Euro Grundsteuern, dann noch Strom und Wasser."
Auch ihr Einkaufsverhalten habe sich geändert, sie blickten nun grundsätzlich nach MHD-Ware oder preisgünstigen Angeboten. "Aber wir beklagen uns nicht. Es gibt Menschen, denen es wirklich noch schlechter geht. Wenn man jetzt von diesem Erdbeben hört oder die Leute in der Ukraine – da wollen wir mal schön ruhig sein."
Suppenangebot der Diakonie hilft auch gegen Einsamkeit
Ob die Fahldecks ohne das Suppenangebot in die Räume der Diakonie gekommen wären, ist unklar. Die Menschen, die sich hier treffen, leiden nicht unter Hunger, sondern vielmehr unter einer bestimmten Art von sozialer Vereinsamung. Wer wenig Geld hat, kann bei vielen Themen nicht mehr mitreden. Babette Friedrich ist die Leiterin des sozialen Dienstes in Halberstadt und hat das Angebot der Suppenküche auf den Weg gebracht – vor allem, um Kontakte zu knüpfen: "Wir wollen hinhören, mit Menschen ins Gespräch kommen, auch über aktuelle Nöte reden, wie zum Beispiel erhöhte Stromkosten oder Abschläge. Es geht darum, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen." Und in einem weiteren Schritt dann auch Hilfe anzubieten.
Meine Meinung als Sozialarbeiterin ist, dass es nicht sein darf, dass sich nur Menschen mit einem hohen Gehalt regionale Lebensmittel mit Qualität leisten können.
Das allerdings erfordert durchaus Fingerspitzengefühl. Denn so mancher, der es bislang gewohnt war, sein Leben auch finanziell selbst zu gestalten, hat nun erhebliche Hemmungen, als Bittsteller aufzutreten und umständliche Papiere auszufüllen. Dennoch ermuntern die Mitarbeiterinnen der Diakonie die Betroffenen, solche Hilfsangebote auch anzunehmen: "Liebe geht durch den Magen, und Diakonie bedeutet Nächstenliebe und eine heiße Suppe vermittelt ganz viel", erklärt Babette Friedrich, zumal es zu der Suppe auch noch echte Halberstädter Würstchen gibt: "Da habe ich schon das eine oder andere Mal Verwunderung gehört, dass es hier die guten Würstchen gibt. Aber meine Meinung als Sozialarbeiterin ist, dass es nicht sein darf, dass sich nur Menschen mit einem hohen Gehalt regionale Lebensmittel mit Qualität leisten können."
Suppenküche wird ab März zum "Begegnungscafé"
Der "Wärmewinter" ist ein zeitlich befristetes Angebot der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands. In Halberstadt soll das Angebot fortgeführt werden, vor allem wegen des Beratungsbedarfs. Es könnte, so die Annahme dort, nämlich sein, dass sich die eigentlichen Probleme erst nach dem Winter zeigen, wenn die tatsächlichen Nebenkosten abgerechnet werden. Dafür will die Diakonie Halberstadt vorbereitet sein: "Es gibt einen erhöhten Beratungsbedarf bei Energiekosten, Mietzuschüssen, Bürgergeld oder auch bei Pflegestufen. Viele Menschen sind mit der Antragstellung überfordert. Und da haben wir Kolleginnen und Kollegen, die beraten können."
Auch, wenn von einem heißen Herbst und einem "Wutwinter" wenig zu spüren war, so geht man in der Diakonie Haberstadt nicht davon aus, dass sich die Situation für Menschen mit wenig Geld alsbald ändern wird.
MDR (Uli Wittstock, Luca Deutschländer)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. Februar 2023 | 17:00 Uhr
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