Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt Wo das Interesse an Kommunalpolitik schwindet – und warum

20. Oktober 2023, 18:55 Uhr

Im kommenden Jahr finden in Sachsen-Anhalt Kommunalwahlen statt. Wie viele Bewerber es in den Landkreisen und Kommunen für Ämter in Kreistag, Stadtrat oder Gemeinderat geben wird, ist noch ungewiss. An vielen Orten ist das Interesse an Kommunalpolitik zuletzt gesunken. Der Politikpsychologe Thomas Kliche sieht dafür vielfältige Gründe. Und auch, um etwas an der Lage zu ändern, gibt es verschiedene Ansätze.

Bild einer jungen Frau
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Im kommenden Jahr finden in Sachsen-Anhalt Kommunalwahlen statt. Die Parteien und Wählergruppen beginnen vor Ort gerade damit, ihre Kandidierenden für Kreistag, Stadtrat oder Gemeinderat aufzustellen, teilte das Innenministerium auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT mit.

Ob es 2024 überall ausreichend viele Bewerberinnen und Bewerber gibt, kann man heute noch nicht sagen. "Bei den Kommunalwahlen 2019 in Sachsen-Anhalt gab es hinreichend Kandidatinnen und Kandidaten", erklärte das Innenministerium. Mehr als 10.000 Bewerber hätten landesweit für 4.442 zu besetzende Mandate in Gemeinderäten kandidiert. Auch für die 720 Kreistags- und Stadtratsmandate habe es genügend Kandidaturen gegeben. Um das kommunale Ehrenamt dauerhaft zu sichern, müssten aber vermehrt junge Menschen gewonnen werden.

Bereitschaft für Engagement in der Kommunalpolitik sinkt

Daten, wie viele Menschen sich für Ämter in der Kommunalpolitik bewerben, gibt es alle fünf Jahre zur Wahl. Weil die Gemeindegebiete in Sachsen-Anhalt 2010 reformiert wurden, sind die Bewerberzahlen aus dem Jahr 2019 aktuell nur mit denen aus dem Jahr 2014 vergleichbar.

Die Statistik zeigt, dass die Anzahl der Kandidierenden bei den Gemeinderatswahlen in diesem Zeitraum landesweit um etwa sechs Prozent gesunken ist, von rund 11.000 auf rund 10.350. Am stärksten sank das Engagement im Salzlandkreis, dem Burgenlandkreis und dem Saalekreis. In der Stadt Halle, dem Kreis Anhalt-Bitterfeld und der Stadt Dessau-Roßlau gab es dagegen 2019 mehr Kandidaturen als 2014. In den 18 Verbandsgemeinden des Landes sank die Zahl der Kandidaturen im Schnitt um knapp neun Prozent.

Für die Stadträte und Kreistage ist landesweit mit jeweils rund 4.000 Kandidaturen zwar kaum ein Unterschied zwischen den Jahren 2014 und 2019 festzustellen. Allerdings gibt es hier regionale Unterschiede: Während die Anzahl im Kreis Wittenberg um fast 15 Prozent zurückging, ist sie im Harz um knapp 16 Prozent gestiegen.

Politikpsychologe: Interesse hängt von persönlicher Betroffenheit ab

Der Politikpsychologe Thomas Kliche, Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal, schätzt das Interesse an Kommunalpolitik in Sachsen-Anhalt als stark schwankend ein – je nachdem, ob Bürgerinnen und Bürger persönlich von einer Entscheidung betroffen sind. Ansonsten bestehe oft der Eindruck, dass sowieso alles seinen Gang gehe oder dass es viel um Technisches oder Kommunalrechtliches gehe, bei dem man nicht viel gestalten könne.

Kommunalpolitik wird dann wichtig, wenn mir irgendetwas stinkt.

Thomas Kliche, Politikpsychologe
Prof. Thomas Kliche
Thomas Kliche ist Professor am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Bildrechte: imago/Future Image

Dabei seien die Möglichkeiten, auf kommunaler Ebene etwas zu bewegen, in den vergangenen 20 Jahren eigentlich immer größer geworden, vor allem in den Bereichen Bildung und Nachhaltigkeit. Als Beispiele nennt Kliche Entscheidungen über die Verkehrswende oder die Aufgaben von Stadtwerken und kommunalen Wohnungsbaugenossenschaften.

Oft würden die Menschen das aber nicht als politische Gestaltung wahrnehmen. Denn: "Kommunalpolitik wird dann wichtig, wenn mir irgendetwas stinkt." Das sei auch an der Wahlbeteiligung zu sehen. Die ist bei den Kommunalwahlen laut Statistik des Landes zwar seit 2007 stetig gestiegen, lag 2019 mit 53,6 Prozent aber deutlich unter der von 1990 (73,8 Prozent).

Parteien in Sachsen-Anhalt haben Tausende Mitglieder verloren

Ein weiteres Problem sieht Kliche im Mitgliederschwund bei den Parteien. Eine Recherche des MDR hatte im Mai gezeigt, dass CDU, SPD, FDP und Linke in Sachsen-Anhalt in den vergangenen 20 Jahren zwischen rund 40 und 65 Prozent ihrer Mitglieder verloren haben. Einer der Hauptgründe ist demnach Überalterung.

"Diese personelle Auszehrung der Parteien führt dazu, dass Kommunalpolitik nicht wirklich anziehend und attraktiv ist, gerade für Jüngere", meint Kliche. Ein Kommunalparlament mit sehr hohem Altersdurchschnitt repräsentiere die Bevölkerung nicht mehr. Und wenn Parteien bei Wahlen kurzfristig viele Neumitglieder verzeichnen, könne das dazu führen, dass Menschen schnell in politische Ämter kommen, ohne darauf angemessen vorbereitet zu sein.

Innenministerium: Ehrenamt, Beruf und Familie müssen vereinbar sein

Um Menschen für kommunalpolitische Ämter zu gewinnen, gibt es in Sachsen-Anhalt verschiedene Ansätze und Projekte. Das Innenministerium hebt hervor, dass es wichtig sei, dass das Ehrenamt mit Beruf und Familie vereinbar ist. Dafür sei unter anderem in der Kommunalverfassung verankert, dass Ehrenamtliche für ihren Aufwand und bei Verdienstausfall entschädigt werden. Künftig solle außerdem gesetzlich geregelt sein, dass die Sitzungen kommunaler Vertretungen und Gremien hybrid stattfinden können – also vor Ort und digital und auch ohne eine außergewöhnliche Notsituation wie die Corona-Pandemie.

Dass Kinder und Jugendliche an kommunalpolitischen Planungen beteiligt werden sollen, steht ebenfalls in der Kommunalverfassung. Wie das geschieht, ist den Kommunen überlassen. Eine freiwillige Abfrage der Landesregierung bei den Kommunen hatte 2022 ergeben, dass es landesweit mindestens zwölf aktive Jugendparlamente oder vergleichbare Projekte gibt, unter anderem in Bitterfeld-Wolfen, Naumburg und Schönebeck. In mehreren Orten des Landes sind die Jugendparlamente demnach jedoch inaktiv oder haben seit Jahren Startschwierigkeiten.

Bürgerbudgets und Beteiligung als Chancen für die Kommunalpolitik

Der Politikpsychologe Thomas Kliche sieht Chancen in Bürgerbudgets, wie es beispielsweise die Stadt Merseburg hat. Dabei entscheiden die Bürgerinnen und Bürger selbst, wofür in ihrer Kommune eine bestimmte Geldsumme ausgegeben wird. "Sie sehen unmittelbar, welche Folgen ihre Entscheidung hat", erklärt Kliche. Zudem halte er es für sinnvoll, sachkundige Bürger stärker in kommunalpolitische Planungsprozesse einzubinden.

Kliche betont, dass es nicht die eine Stellschraube für kommunalpolitisches Engagement gebe, denn es gebe verschiedene individuelle und strukturelle Hürden. Viele Menschen seien aufgrund langjähriger Erfahrung enttäuscht von der Politik. Oder sie würden das Wählen als eine lästige Pflicht und das Nichtwählen als eine Form der Meinungsäußerung ansehen. Häufig sei nicht ausreichend bekannt, welche Gestaltungsmöglichkeiten die Kommunalpolitik biete – und oft seien die Möglichkeiten, sich zu beteiligen, bürokratisch und unattraktiv.

Wenn jahrzehntelang etwas schiefgelaufen ist, dann können Sie das nicht mit einzelnen Maßnahmen rückgängig machen.

Thomas Kliche, Politikpsychologe

Kliche: Hedonistische Milieus betrachten Politik als Konsumgut

"Politische Sozialisation geht über Jahre bis Jahrzehnte", erklärt Kliche. In den vergangenen Jahrzehnten seien die sogenannten hedonistischen Milieus angewachsen. Dazu zählten Menschen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft, die vor allem das Leben genießen und konsumieren wollen.

"Auch Politik wird in dieser Betrachtungsweise zu einem Konsumgut und zu einer Art billiger Dienstleistung", sagt Kliche. Diese Entwicklung und auch die Entwicklung von Misstrauen in die Politik könne nicht mit einzelnen Maßnahmen rückgängig gemacht werden. "Sie können nur an verschiedenen Schrauben drehen und hoffen, dass das über mittlere bis lange Sicht etwas bewirkt", sagt Kliche, "und das ist ein sehr aufwendiges Vorhaben."

MDR (Maren Wilczek, Katharina Häckl, Katharina Forstmair)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 18. Oktober 2023 | 16:50 Uhr

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