Geschichte vor der Haustür Wie Wittenberg "Lost Places" zugänglich macht

25. März 2023, 14:50 Uhr

Vergessene Orte – auch bekannt als Lost Places – das sind verfallene Häuser, alte Werkshallen oder Bunker, zu denen sich mutige Spaziergänger trauen, um schaurig schöne Fotos zu schießen. Oft ist es illegal, sie zu betreten. Auch in Wittenberg gibt es solche Orte. Hier laden allerdings offizielle Führungen ein, die Lost Places zu erkunden und etwas über deren Geschichte zu erfahren. MDR-Reporterin Jana Müller war bei einer dabei.

Eine junge Frau mit schulterlangen braunen Haaren schaut freundlich in die Kamera, ihre Arme sind verschränkt
Bildrechte: MDR/Jana Müller

Wir laufen durch den Wittenberger Stadtwald, quer durchs Gelände. Das trockene hohe Gras raschelt unter den Schuhen, immer wieder müssen wir über abgeknickte Bäume steigen. Einen Waldweg oder Trampelpfad gibt es hier, im südwestlichen Teil des Stadtwalds, nicht. Kein Wunder also, dass das Ziel unseres Ausflugs, das sogenannte "Franzosenlager", jahrzehntelang völlig in Vergessenheit geraten war.

Nach einem kurzen Fußmarsch bleibt der Führer unserer Tour, Andreas Keller, unvermittelt stehen. "Hier befinden wir uns direkt am Eingang des Lagers" sagt er und hält eine alte Postkarte in die Runde. "Auf der Karte sieht man die sogenannte Waldschänke und die stand genau hier". Der Hobby-Historiker zeigt auf den Boden und tatsächlich ragen zu seinen Füßen moosbewachsene Fundamente aus der Erde. Die ersten Handys werden gezückt, Fotos gemacht, von den verbliebenen Spuren der Geschichte.

Eintauchen in die Geschichte

Es sind Spuren einer unrühmlichen Geschichte, wie Keller in den kommenden eineinhalb Stunden ausführt. Ab 1940 wurde das sogenannte "Franzosenlager", Keller bevorzugt den Begriff "Camp Neumühle", im Waldgebiet zwischen Wittenberg und Reinsdorf errichtet. Zwei Jahre später bezogen die ersten französischen Arbeiter die Baracken, zu Spitzenzeiten lebten in knapp 30 Häusern etwa 1.800 Männer und Frauen. Die meisten von ihnen waren zum Dienst in der Westfälisch-Anhaltischen Sprengstoffwerke AG, der Wasag, im benachbarten Reinsdorf verpflichtet.

In der Waldschänke, vor deren Überreste wir stehen, wurden sie versorgt, erklärt Andreas Keller und zeigt nach links, wo die Überreste des alten Kartoffelkellers zu sehen sind. Wieder werden die Handys gezückt.

Eine junge Frau hat sogar die Spiegelreflex-Kamera dabei, macht Fotos für ein Album, wie sie mir erzählt. Lost Places finde sie faszinierend, aber oft seien die Gelände umzäunt, die Gebäude abgesperrt und zugenagelt, Betreten verboten! Beim Lager im Wittenberger Stadtwald kommt man aber ganz dicht ran.

Mitten im Wald ragt eine Beton-Kuppel etwa einen halben Meter aus der Erde heraus. Im Vordergrund wachsten Schneeglöckchen.
Massiver Beton mitten im Wald – Reste eines Bunkers. Bildrechte: MDR/ Jana Müller

Auch an eine Beton-Kuppel, die plötzlich aus dem Waldboden ragt. Früher dachte er immer, das sei Müll, sagt Olaf Kurzhals, unser zweiter Führer. Doch dann erzählte ihm ein alter Bekannter von dem Lager und die Recherche begann. Die Beton-Kuppel konnte recht schnell als Überbleibsel eines alten Ein-Mann-Splitter-Bunkers identifizieren werden. Auch einige der Teilnehmer der "Lost-Places-Tour" kennen solche Beton-Kolosse bereits.

Touren zu "Lost Places" für Einheimische

Insgesamt 35 Männer, Frauen und Jugendliche haben sich für die erste Führung zu dem Lager angemeldet. Eine kurze Abfrage vor Ort ergibt: Fast alle kommen aus Wittenberg. Und genau so soll es auch sein, sagt Kristin Ruske, Leiterin der Wittenberger Tourist-Information, die die Touren koordiniert: "Nach dem Reformationsjubiläum 2017 wollten wir uns mehr auf die Wittenberger konzentrieren und tatsächlich gab und gibt es in der Stadt so viele Orte, die wir selbst schon immer mal ansehen wollten und zu einigen davon haben wir dann Touren organisiert."

Nach dem Reformationsjubiläum 2017 wollten wir uns mehr auf die Wittenberger konzentrieren.

Kristin Ruske, Leiterin der Tourist-Information Wittenberg

Noch mehr Wanderungen an vergessene Orte geplant

Los ging es mit Führungen auf dem alten Wasag-Gelände, die in Kooperation mit dem dort engagierten Geschichts- und Forschungsverein entstanden und seit Jahren immer wieder ausverkauft sind. Doch auch die Touren in den Schweizer Garten sind laut Ruske immer wieder beliebt. Das über 100 Jahre alte Gasthaus ist in Privatbesitz. Nur zu den Lost-Places-Touren werden die Türen geöffnet und der Blick auf den großen Festsaal mit Bühne und Empore wird möglich. Neustes Ausflugsziel: Der Historische Friedhof Dresdener Straße, auf dem historische Denkmäler und Grabinschriften alte Geschichten erzählen.

Es sei eine Art Heimatkunde, die man in Wittenberg mit den Lost-Places-Touren anbietet, sagt Kristin Ruske. Immer wieder würden sich Fragmente der eigenen Geschichte in den alten Mauern und Gemäuern finden lassen.

Interesse an der eigenen Geschichte

Zurück im Wald erzählt mir eine Frau, Mitte 50, dass ihre Urgroßeltern das Lager noch selbst gekannt hätten. Ein Ehepaar, das ganz in der Nähe wohnt, hatte demnach schon auf eigene Faust versucht etwas über die Fundamente im Stadtwald herauszufinden, allerdings erfolglos.

Auch Andreas Keller und Olaf Kurzhals brauchten viel Zeit, um Zeitzeugenberichte und Archivfunde zu einem Bild zusammenzusetzen und für ihre Mitbürger aufzubereiten. Doch die Mühe hat sich gelohnt. Weitere Touren zu dem Lager im Wittenberger Stadtwald sind geplant, irgendwann soll eine Gedenktafel an das Lager und das Schicksal seiner Bewohner erinnern. Aus dem "Vergessenen Ort" irgendwo im Wittenberger Stadtwald soll ein Ort der Erinnerung werden.

MDR (Jana Müller)

MDR SACHSEN-ANHALT

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