Alte Gartenstadt auf der Halbinsel Wustrow. Hier wohnten erst die Offiziere der Flakartillerieschule der Wehrmacht, später dann die sowjetischen Offiziere mit ihren Familien. Seit zwanzig Jahren ist Wustrow verlassen.
Hier wohnten erst die Offiziere der Flakartillerieschule der Wehrmacht, später dann die sowjetischen Offiziere mit ihren Familien auf Wustrow. Bildrechte: MDR/Lutz Hofmann/Hoferichter & Jacobs GmbH

Lost places Geisterinsel Wustrow – Wie eine Ostseeinsel zum Ladenhüter und Investorentrauma wurde

29. März 2023, 12:33 Uhr

Seit 90 Jahren ist sie gesperrt, seit 30 Jahren unbewohnt – die Halbinsel Wustrow ist nicht umsonst bei vielen vor allem unter ihrem Beinamen "die verbotene Halbinsel" bekannt. Unter den Nationalsozialisten dient sie als Kaderschmiede, später als Sowjetkaserne. Heute gehört das Millionen-Eiland einem Investor, der nichts damit anfangen kann.

Kurt Köhler verbrachte auf der Halbinsel Wustrow seine Kindheit - von 1938 bis 1949. Als 1949 Wustrow sowjetische Garnision wird, werden alle Zivilisten umgesiedelt.
Kurt Köhler verbrachte auf der Halbinsel Wustrow seine Kindheit - von 1938 bis 1949. Als 1949 Wustrow sowjetische Garnison wird, werden alle Zivilisten umgesiedelt. Bildrechte: MDR/Lutz Hofmann/Hoferichter & Jacobs GmbH

Hohes Gras wuchert um das Haus in der Hindenburgstraße 11, in dem Kurt Köhler in den 1930er-Jahren seine Kindheit verbracht hat. Die Wege sind verwildert, das ehemals imposante Haus, gebaut nach dem Vorbild der Hellerauer Gartenstadt, ist verfallen. Eine baufällige Steintreppe führt hinein – vermooste Wände, morscher Boden. Der alte Kachelofen in der Küche steht noch. Bei dessen Anblick werden Bilder aus den Kriegstagen bei Köhler sofort lebendig: "Auf unsere Ofenplatte hat immer der Leuchtturm von Fehmarn geschienen. Und wenn der längere Zeit aus gewesen ist, dann wusste meine Mutter: Es muss in nächster Zeit Alarm geben."

Dann hat sie uns geweckt und dann sind wir ab in den Keller. (…) Und dann hat sich dort praktisch die ganze Hausgemeinschaft getroffen, ungefähr 15 Personen, und dann hat alles fürchterlich geschüttet und gerauscht.

Kurt Köhler

Sein Kontakt zum heutigen Besitzer macht es möglich, noch einmal an den Ort seiner Kindheit zu kommen. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, als der Zweite Weltkrieg dem Ende zuging und die zehn Kilometer lange Halbinsel noch in der Hand der Nationalsozialisten war.

Die Flakartillerieschule – Vorzeigeobjekt des "Dritten Reichs"

Für die Nazis ist Wustrow ein wichtiger militärischer Dreh- und Angelpunkt. Hier, zwischen Ostsee und Salzhaff, errichtet die Wehrmacht zwischen 1933 und 1938 die größte Flakartillerieschule des Deutschen Reichs (FAS I) – und mit ihr eine ganze Militärstadt. Ab Mitte der 1930er-Jahre leben auf der Halbinsel viele Offiziere und Angestellte der Flakschule, gemeinsam mit ihren Familien. Kurt Köhler ist einer von ihnen. Sein Vater Fritz ist damals in der Kfz-Werkstatt der Militäreinrichtung angestellt. Die Flakschule gilt als Prestigeobjekt des "Dritten Reichs" – nicht nur deutsche, sondern auch italienische Soldaten werden hier ausgebildet. Im September 1937 besucht Faschistenführer Benito Mussolini die Halbinsel.

Was ist die Flakartillerie?

Als Flakartillerie werden Geschütze bezeichnet, die insbesondere zur Abwehr feindlicher Flugzeuge bestimmt sind. Diese Art Waffen – Fliegerabwehrkanonen oder auch Maschinenkanonen – wurden erstmals im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Laut Versailler Vertrag wurde ihr Einsatz dem Deutschen Reich untersagt. Daher ist Hermann Göring beim Bau der Flakartillerieschule auf Wustrow um strenge Geheimhaltung bemüht.

Wustrow wird zur Militär- und Gartenstadt

Alte Gartenstadt auf der Halbinsel Wustrow. Die Häuser wurden 1935 von der Wehrmacht gebaut. Hier lebten dann die Offiziere und Angestellten der Flakartillerieschule  der der deutschen Wehrmacht.
Alte Gartenstadt auf der Halbinsel Wustrow. Die Häuser wurden 1935 von der Wehrmacht gebaut. Hier lebten dann die Offiziere und Angestellten der Flakartillerieschule der deutschen Wehrmacht. Bildrechte: MDR/Lutz Hofmann/Hoferichter & Jacobs GmbH

Bevor die Nationalsozialisten die Halbinsel übernehmen, ist diese von jahrhundertelanger Landwirtschaft geprägt. Die einstigen Besitzer, Bernhard und Balduin von Plessen, werden von Reichsminister Hermann Göring zum Verkauf gezwungen. Der Kaufpreis – 1,4 Millionen Reichsmark – wird ihnen bar in einem Koffer übergeben, weil die Rüstungspläne so lang wie möglich geheim gehalten werden sollen. 1933 rückt der Reichsarbeitsdienst ein und baut innerhalb von fünf Jahren eine Militärstadt, die Platz für bis zu 4.000 Menschen bietet.

Die Siedlungen im zivilen Teil werden von dem Architekten Heinrich von Tessenow entworfen. Die Häuser entstehen nach dem Vorbild seiner Gartenstadt Dresden-Hellerau. Das bedeutet – für damalige Verhältnisse modern konzipierte Wohnungen mit fließendem Wasser, Balkonen, und teilweise Zentralheizung. Auch für Unterhaltung ist gesorgt, die Stadt bietet ein Kino und das seinerzeit modernste Schwimmbad Deutschlands.

Die Ostsee- Halbinsel Wustrow in der Mecklenburger Bucht zwischen Rostock und Wismar,gemeinsam mit Rerik
Die Ostsee-Halbinsel Wustrow in der Mecklenburger Bucht zwischen Rostock und Wismar, gemeinsam mit Rerik Bildrechte: MDR/ Sebastian Kraulendes

Ein Gang über den menschenleeren Strand weckt bei Kurt Köhler Kindheitserinnerungen: "Die großen Jungs haben uns von der Hafenmole runtergeschmissen und dann sind sie nachgesprungen und haben uns wieder rausgeholt. Da mussten wir schwimmen lernen, da hat es nichts anderes gegeben."

1943 – Bomben über Wustrow

Am 25. Juli 1943 wird die Halbinsel zum Ziel britischer Bomber. Die Artillerie-Geschütze der Wehrmacht am Strand können dem Angriff nicht viel entgegensetzen. Etwa 100 Bomben werden über Wustrow abgeworfen, die meisten davon landen jedoch im Meer. Der zivile Teil der Stadt bleibt bei dem Angriff weitestgehend verschont. Das NS-Offizierskasino wird hingehen völlig zerstört. Bei der Bombardierung kommen etwa 100 Menschen ums Leben.

Einzug der Roten Armee

Der achtjährige Kurt Köhler ist allein zu Hause, als die Russen kommen. Er schaut aus dem Fenster und sieht seine Mutter vorm Haus stehen. Den Moment kann er beschreiben, als sei es gestern gewesen: "Ich habe einen Reiter gesehen. Und wie der immer näher kam, habe ich gesehen, das ist kein Deutscher, der hat keine deutsche Uniform an. Dann habe ich Angst bekommen um meine Mutter und angefangen zu weinen." Kurt Köhler ist sicher, dass seine Mutter vor seinen Augen sterben wird.

Für mich war klar: Der Russe erschießt jetzt deine Mutter. Doch der ist an meiner Mutter vorbeigeritten, als ob er sie gar nicht gesehen hätte. Dann bin ich runter gelaufen und ihr um den Hals gefallen (…).“

Kurt Köhler

Am 2. Mai 1945 wird Wustrow von Oberstleutnant Deckwitz kampflos an die Rote Armee übergeben. Noch vor dem Kriegsende waren viele Angehörige der Wehrmacht in den Westen geflohen – Köhlers Familie aber bleibt.

Wustrow unter sowjetischer Besatzung

Nach Kriegsende wird der Familie eine der exklusiven Offiziersvillen zugewiesen. Sein Vater Fritz produziert aus alten Autoreifen Schuhe für die Besatzer. "Als uns das Haus zugewiesen wurde, haben wir gleich mal eine große Überraschung erlebt":

Im Keller haben die Russen Schweine gehalten.

Kurt Köhler

Im ehemaligen Esszimmer zeigt Köhler auf einen großen verglasten Eingang, der zum Garten des Grundstücks führt: "Hier an der Treppe haben die Russen Sand aufgeschüttet", er macht eine Handbewegung in die Mitte des Raumes: "Und dann sind sie mit dem Jeep hier reingefahren. Von dem Jeep war hier ein ziemlich großer Ölfleck auf dem schönen Parkettboden, den hat meine Mutter mit der Hand abgeschrubbt."

1949 müssen alle Deutschen das Terrain verlassen, auch Kurt Köhlers Familie. Die Sowjets errichten auf Wustrow eine Militärgarnison. Wustrow wird erneut zum Schieß- und Ausbildungsplatz, diesmal für sowjetische Flakartillerieeinheiten. In der Konsequenz wird die Halbinsel von der Außenwelt abgeschottet und zum Sperrgebiet für Zivilisten.

Grenzstrand 9 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
9 min

Tagsüber badete man am Strand. Doch nachts galt er als Sperrzone, teils bewacht und mit Scheinwerfern abgesucht. Viele Fluchten starteten in den Dünen.

Mo 06.07.2009 22:05Uhr 09:00 min

https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/videowand/video-128458.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Die Sowjets ziehen ab – was nun?

1993 verlassen die letzten sowjetischen Soldaten die Halbinsel. Zurück bleiben heruntergewirtschaftete Gebäude und gefährliche Altlasten im Boden – Munitionsreste, Chemikalien, Sperrmüll. Revierförster Marius Hein stößt bei seinen Streifzügen immer wieder auf Relikte aus der Besatzerzeit.

Die Russen haben hektarweise Unrat und Müll produziert und hier auf der Halbinsel verklappt. Das hat keiner weggemacht und deshalb liegt das hier immer noch.

Marius Hein, Revierförster auf Wustrow
Anno August Jagdfeld (karierte Jacke, Brille), auf Wustrow mit Ruinen im Hintergrund
Anno August Jagdfeld ist ein Immobilienunternehmer aus dem Rheinland. 1998 kaufte er die Halbinsel Wustrow vom Bund für 12,5 Millionen D-Mark. Bildrechte: MDR/Lutz Hofmann

1998 wird Wustrow von der Treuhand an den Aachener Immobilienunternehmer Anno August Jagdfeld verkauft. Der Großinvestor, der auch beim Hotel Adlon in Berlin beteiligt war, will das Eiland zu einem Luxusressort ausbauen. Doch insgesamt drei Bebauungspläne scheitern an den fehlenden Baugenehmigungen.

Wustrow im Dornröschenschlaf

Stahlhelm auf Baum
Spuren der Vergangenheit, aus dem Kalten Krieg zwischen Ost und West. Stahlhelm der Sowjetarmee im Naturschutzgebiet Wustrows. Bildrechte: MDR/Lutz Hofmann

Marius Heins Revier – ganze 900 Hektar – wird noch von der letzten DDR-Regierung unter Naturschutz gestellt. Für die Tierwelt ist es das Paradies. Die Hausschweine der Russen haben sich mit den einheimischen Artgenossen gepaart, scherzhaft "Russensau" genannt. Heute werden geführte Touristengruppen über die geschundene Halbinsel gelotst.

Großinvestor August Jagdfeld musste seine ambitionierten Pläne auf Eis legen. Solange der munitionsverseuchte Boden nicht beräumt ist, kann hier nichts Neues gebaut werden. Seit drei Jahrzehnten wird die Halbinsel größtenteils sich selbst überlassen. Und so gehen die Jahre auf Wustrow ins Land – auf der "Ladenhüter-Insel", die wohl auch in nächster Zeit noch Sperrgebiet bleiben wird.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke, wo du lebst | 14. März 2023 | 21:00 Uhr