Perspektive für das Plattenbaugebiet Wie ein Verein mit Tiny Houses Wolfen-Nord wiederbeleben will
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09. Juli 2022, 10:44 Uhr
Wolfen-Nord, einst eines der größten Plattenbaugebiete der DDR, schrumpft seit Jahrzehnten. Nun will ein Verein dort Tiny Houses bauen und den Stadtteil mithilfe von innovativen Ideen zukunftsfähig machen. Ein Ortsbesuch.
- Ein Verein will in Wolfen-Nord Tiny Houses errichten und mit modernen Wohn- und Arbeitsformen experimentieren.
- Auch ein Gemeinschaftsgarten ist Teil des Projektes.
- Bevor die Tiny Houses gebaut werden können, sind noch rechtliche und finanzielle Fragen zu klären.
Eine leer stehende Videothek war es, die Sebastian Schröder nach Wolfen-Nord brachte. "Eigentlich eine totale Schrottimmobilie", sagt Schröder und lacht, "aber für uns war es damals genau das richtige." Damals, das war 2018. Mit einem Geschäftspartner wollte Schröder zu dieser Zeit eine Motorsportwerkstatt eröffnen. In Wolfen-Nord entdeckte er die alte Videothek, die genug Platz bot und zudem günstig zu haben war. Also zog Schröder von Leipzig nach Wolfen und begann, das Gebäude umzubauen.
Vier Jahre später stehen dort, wo sich früher Videokassetten und Computerspiele in Regalen stapelten, Werkbänke und eine Hebebühne. Doch die Pläne haben sich verändert. Sie sind größer geworden. Statt in einer alten Videothek an Rennwagen zu schrauben, will Schröder nun einem ganzen Stadtteil zum Comeback verhelfen – und die Werkstatt soll dabei eine wichtige Rolle spielen.
"Ich habe schnell gemerkt, dass mich das Thema Motorsport eigentlich nicht mehr begeistert", erinnert sich Schröder. Umso mehr begeisterten den 33-Jährigen die Möglichkeiten, die sich in Wolfen auftun. Wolfen-Nord, das war einst eines der größten Plattenbaugebiete der DDR, eine Wohnstadt für die Arbeiterinnen und Arbeiter der umliegenden Chemiefabriken. Ende der 1980er-Jahre lebten dort 35.000 Menschen, heute sind es weniger als 6000. Von 11.000 Wohnungen wurden inzwischen mehr als 8.000 abgerissen.
Freiraum für Ideen
Wo sich früher Wohnblock an Wohnblock drängte, sind riesige Grünflächen entstanden. Freiraum, der, wenn es nach Schröder geht, mit innovativen Ideen gefüllt werden soll. Gemeinsam mit Gleichgesinnten hat Schröder deshalb den Wolfen-Nord e.V. gegründet. "Wir wollen Wolfen-Nord als Ganzes wiederbeleben und auch der Jugend hier eine Perspektive geben", sagt er.
Ihre Ideen haben die Vereinsmitglieder in einem 34-seitigen Papier niedergeschrieben. Von Mehrgenerationenwohnen ist darin die Rede, von Sharing Economy, von Workshops und Selbstversorgung. Im Zentrum des Projektes soll eine Tiny-House-Siedlung entstehen. Junge Familien sollen dort einziehen und in einer Gemeinschaft leben, die sich gegenseitig unterstützt. Garagenbaracken sollen zu hippen Büroräumen umgebaut werden, und die Werkstatt, in die Schröder die frühere Videothek verwandelt hat, soll allen offenstehen, egal, ob sie ihr Auto reparieren oder sich handwerklich ausprobieren wollen.
"Es ist unser Anspruch, auch einen Teil zum Kulturellen beizutragen", sagt Schröder. Dabei sollen vor allem die Jugendlichen vor Ort mitgenommen werden, die in dem überalterten Stadtteil sonst kaum eine Lobby haben. So haben Schröder und seine Mitstreitenden etwa einen Graffiti-Workshop veranstaltet, bei dem die Teilnehmenden die Wände eines Garagenkomplexes in Wolfen-Nord besprühen durften. Und bei einem Skate-Event, das der Verein organisiert hat, kamen Profi-Skater in den Stadtteil, um gemeinsam mit Jugendlichen auf dem Skate-Park in Wolfen-Nord zu trainieren.
Mehr Park als Plattenbau
Mitten in dem Plattenbaugebiet hat der Wolfen-Nord e.V. ein fünf Hektar großes Areal von der Stadt Bitterfeld-Wolfen gepachtet. Wenn Sebastian Schröder über das Gelände führt, stoppt er alle paar Meter, um zu erklären, was hier früher einmal stand und in Zukunft wieder entstehen soll.
Nur wenige Schritte entfernt von seiner Werkstatt hält er auf einer großen, von Bäumen umrandeten Wiese an. Hinter den Baumwipfeln scheinen ein paar der wenigen verbliebenen Wohnblöcke durch, ansonsten erinnert hier mehr an einen Park als an ein Plattenbaugebiet. Früher gehörte die Fläche zum Außengelände des benachbarten Jugendclubs 84, der seit ein paar Jahren geschlossen ist und nun ebenfalls vom Wolfen-Nord e.V. verwaltet wird. Hier soll das Zentrum des neuen Wolfen-Nord entstehen, die Tiny-House-Siedlung.
Experimente erwünscht
Eine Computeranimation, die Schröder mitgebracht hat, zeigt 22 weiße Quadrate, die wie ein Hufeisen auf der Wiese angeordnet sind. Jedes Quadrat steht für ein künftiges Tiny House. Dass nicht näher definiert ist, wie die Häuser aussehen, hat einen Grund: Es soll bewusst mit verschiedenen Bauformen und -stilen experimentiert werden, über die die späteren Bewohner mitentscheiden sollen.
Während die Tiny Houses bislang nur auf Plänen existieren, ist der Gemeinschaftsgarten bereits Realität. Mais und Gemüse gedeihen auf der Grünfläche, an der auch das Christophorushaus beteiligt ist und die irgendwann mal die neuen und alten Anwohner zumindest teilweise mit Lebensmitteln versorgen soll.
In einer Ecke kümmert sich Silke, die ihren Nachnamen nicht nennen will, um zwei Kaninchen, die in einem Gehege leben. Silke wohnt und arbeitet in Berlin, verbringt aber fast jede freie Minute in Wolfen-Nord. Bei einer Veranstaltung lernte sie einen der Gründer vom Wolfen-Nord e.V. kennen.
"Die Idee, gemeinsam zu gärtnern und zu leben, fand ich sehr spannend", sagt sie. Inzwischen ist die 53-Jährige selbst Vereinsmitglied und lebt zeitweise in einer der drei Plattenbauwohnungen, die der Verein in Wolfen-Nord angemietet hat. Bald möchte sie dauerhaft nach Wolfen ziehen. Sie könne sich gut vorstellen, eines Tages eine der Tiny-House-Flächen zu bewohnen, am liebsten in einem dauerhaften Kuppelzelt, sagt sie noch.
Arbeit am rechtlichen und finanziellen Rahmen
Zuvor müssen allerdings die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Der gelernte Fluggerätemechaniker Schröder hat sich daher in den vergangenen zweieinhalb Jahren tief ins Bau- und Kommunalrecht eingearbeitet und erste Erfolge erzielt: Gerade hat die Stadt Bitterfeld-Wolfen einen neuen Flächennutzungsplan verabschiedet, der auch die Tiny-House-Siedlung in Wolfen-Nord möglich macht. Nun muss als Nächstes der Bebauungsplan genehmigt werden, damit im nächsten Jahr ein erster Tiny-House-Prototyp errichtet werden kann.
Und auch die Finanzierung der Projekte ist noch weitestgehend offen: Bislang finanziert der Verein seine Aktivitäten aus privaten Geldern der Mitglieder und durch regionale Sponsoren. Künftig sollen verstärkt Fördermittel eingeworben werden, sagt Sebastian Schröder. Außerdem wolle der Verein auf Crowdfunding setzen. Gerade sei man deshalb dabei, hauptberufliche Stellen für die Social-Media-Arbeit des Vereins zu schaffen.
Schröder ist trotz der Hürden zuversichtlich, dass die Ideen bald Realität werden. Der Verein spüre die Unterstützung der Stadtverwaltung und der Region. "Die Zusammenarbeit mit der Stadt ist auf Augenhöhe, wohlwollend und konstruktiv. Egal, wohin man kommt, man hat überall das Gefühl, dass man offene Türen einrennt", sagt Schröder. Dass einzelne Ideen scheitern oder sich ändern, damit müsse man bei solch einem Projekt aber immer rechnen. Auch das sagt Sebastian Schröder – der einst nach Wolfen-Nord kam, um eine Motorsportwerkstatt zu eröffnen.
Über den Autor
Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.
Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über gesellschaftliche und politische Themen aus den Regionen des Landes.
MDR (Lucas Riemer)
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