Ein Ärzteteam operiert im Operationssaal des Harzklinikum Dorothea Christiane Erxleben in Wernigerode.
2003 führte Deutschland das DRG-Fallpauschalen-System nach australischem Vorbild ein. Folge war unter anderem eine Arbeitszeitverdichtung für das medizinische Personal. Bildrechte: picture alliance/dpa | Matthias Bein

Reformvorhaben Wie die Fallpauschale die Krankenhauslandschaft verändert hat

01. August 2023, 05:00 Uhr

Mit der Einführung der DRG-Fallpauschalen 2003 hielten marktwirtschaftliche Prinzipien in deutschen Krankenhäusern Einzug. Kassen bezahlten Kliniken nur noch nach Leistungen, zugleich wurden Patienten mit Vorerkrankungen zur Goldgrube. Die Folge waren eine Privatisierungswelle und eine beispiellose Arbeitszeitverdichtung für Ärzte und Pflegekräfte. Mit einer Krankenhausreform will Bundesgesundheitsminister Lauterbach nun den ökonomischen Druck aus dem System nehmen - doch mit welchen Folgen?

"Es ist eine Art Revolution, denn es ist die Abkehr von den Fallpauschalen." Mit diesen Worten leitete Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Pressekonferenz zu seiner geplanten Krankenhausreform im Juli ein. Das Ziel: den ökonomischen Druck auf die Krankenhäuser reduzieren. Für Lauterbach ist es auch der Versuch, die Geister, die er einst rief, wieder einzufangen. Schließlich half er 2003 bei der Einführung eben jenes Fallpauschalen-Systems, das Krankenhäuser in moderne Wirtschaftsbetriebe verwandelte.

"Wir lösen das System der Fallpauschalen ab durch ein System der Vorhaltepauschalen", versprach Lauterbach in der Pressekonferenz, um nur Sekunden später einzuschränken: Die Vorhaltepauschalen würden 60 Prozent des Bedarfs decken. Die anderen 40 Prozent der Krankenhauseinnahmen sollen aber auch künftig aus Fallpauschalen kommen. Was aber könnte ein solches 60/40-Modell für Krankenhäuser bedeuten?

Kurze Liegezeiten - Die Idee des Fallpauschalen-Systems

Um das zu beantworten, muss man zunächst einen Blick auf das gegenwärtige diagnosebezogene Fallpauschalen-System werfen, das im Klinikalltag häufig nur "DRG" genannt wird ("diagnosis related groups"). Das System importierte Deutschland 2003 aus Australien. Es sollte die Liegezeiten in den Krankenhäusern reduzieren und die damit verbundenen galoppierenden Kosten einfangen.

Das hat tatsächlich dazu geführt, dass Patienten früher entlassen wurden.

Dr. Alexander Baur Oberarzt am Erfurter Helios-Klinikum

Zuvor war nach Pflegesätzen abgerechnet worden. Krankenkassen bezahlten also pro Patient und Bettentag. Das DRG-System rechnete nach Diagnosen ab. Karl Lauterbach, der 2003 noch Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie an der Uni Köln war, erklärte: "DRGs bezahlen nicht, was gemacht wird, sondern die Diagnose, mit der der Patient ins Krankenhaus kommt […] Es wird immer die gleiche Pauschale abgerechnet." Weil nur einmal bezahlt wurde, konnte es den Krankenhäuser nicht mehr egal sein, wie lange ein Patient im Haus blieb. Irgendwann wurde der Patient unrentabel.

Der Plan ging zunächst auf: "Das hat tatsächlich dazu geführt, dass Patienten früher entlassen wurden", erzählt Dr. Alexander Baur, der seit 1995 am Helios Klinikum in Erfurt arbeitet (damals noch Klinikum Erfurt GmbH), hier zum Allgemeinchirurgen ausgebildet wurde und heute Oberarzt in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie ist. "Patienten mit einer Gallenblasen-Operation haben vorher bis zu drei Wochen gelegen. Jetzt wurden sie spätestens nach acht Tagen entlassen." Das DRG-System halbierte die Liegezeiten.

Patienten im "ökonomisch ungünstigen Bereich"

Durch das DRG-System konnten Krankenhäuser, die den Aufenthalt der Patienten nach ökonomischen Prinzipien gestalteten, unter Umständen viel Geld verdienen. Denn halbe Liegezeiten bedeuten nicht nur Gewinn durch die Fallpauschale, sondern auch eine doppelte Bettenkapazität. Es konnten also mehr Patienten aufgenommen, mehr Fälle bearbeitet und demnach auch mehr Pauschalen kassiert werden. Konzerne wie Fresenius, Asklepios oder Sana, die heute die größten Krankenhausträger in Deutschland sind, erkannten das. Eine Privatisierungswelle erfasste den deutschen Gesundheitssektor.

Durch das DRG-System veränderte sich auch das Verhältnis vom Krankenhaus zu seinen Patienten. "Das ging so weit, dass Patienten in den Akten farblich unterlegt wurden, damit jeder sofort sieht: Der ist grün, der ist im guten Bereich, der ist gelb, der ist im kritischen Bereich oder der ist rot, im ökonomisch ungünstigen Bereich", berichtet Baur. Viele Kliniken stellten außerdem Kodier-Assistenten und Controller ein, die bei der Verschlüsselung von Prozeduren halfen, Liegedauern überwachten und Patienten-Abrechnung übernahmen.

Wenn Sie Hinweise zur Übersicht haben, senden Sie diese gern an online-thueringen@mdr.de

Patienten mit oder ohne Multiplikatoren

Auch das ist eine Besonderheit am DRG-System: Weil die Patienten-Diagnose maßgeblich darüber entscheidet, wie viel Geld die Krankenkasse für diesen Fall zahlt, fällt eine umfassende Dokumentation an, die teils von Ärzten und Pflegekräften übernommen wird und teils von den Kodier-Assistenten. Dabei werden in der Patientenakte die Diagnose (ICD), sämtliche Vorerkrankungen und auch die Behandlungen als Code (ICPM) hinterlegt. "Medizinisch macht das Sinn. Der Code kann international gelesen werden und dann wissen auch Ärzte in Frankreich, wie wir diesen Patienten hier in Deutschland behandelt haben", sagt Baur.

Die ökonomische Folge ist aber, dass ein Hüft-OP-Patient mit Diabetes mehr Einnahmen generiert als der gleiche Patient ohne solche "Multiplikatoren". Das ist einer der Gründe, warum seit Jahren Kinderkliniken - wie zuletzt in Sömmerda - geschlossen werden, während geriatrische Einrichtungen auf- und ausgebaut werden. Kinder haben meist keine Multiplikatoren, Alte bringen hingegen richtig viel Geld.

Keine Fälle, kein Geld

Ein weiteres Problem am Fallpauschalen-System ist, dass Krankenhäuser auf gewisse Patientenzahlen kommen müssen, um sich refinanzieren zu können. Besonders im ländlichen Bereich hat das über Jahre dazu geführt, dass Kliniken geschlossen wurden, weil sie einen Einzugsbereich mit zu wenigen Menschen hatten und schlicht unrentabel waren. Von 2003 bis 2021 sind bundesweit 304 Kliniken geschlossen worden.

Auch die Corona-Krise hat die Krankenhäuser deshalb besonders schwer getroffen: Weil Stationen schließen und zahllose Operationen verschoben werden mussten, konnten Betten nicht belegt, Fälle nicht bearbeitet und Einnahmen nicht generiert werden. Zwischen 2020 und 2022 gingen den Krankenhäusern im Mittel 14 Prozent ihrer Fälle verloren, weshalb heute mehr als die Hälfte aller Krankenhäuser in Deutschland, trotz Corona-Hilfen in Höhe von acht Milliarden Euro, rote Zahlen schreiben und eine Schließungs-Welle droht. Aus eben diesen Gründen hat gerade erst eine Klinik in Paderborn Insolvenz angemeldet.

Das halte ich für absolut sinnvoll. Eine Feuerwehr bezahlt man ja auch nicht danach, wie viele Brände sie im Jahr löscht.

Dr. Alexander Baur Oberarzt am Erfurter Helios-Klinikum

Mitarbeiter der Kreisklinik Groß-Gerau drücken ihren Protest anhand eines Plakats mit roten Händen aus
Proteste gegen die Krankenhausreform: Viele Kliniken befürchten den Beginn der Reform 2027 nicht mehr zu erleben und fordern finanzielle Zusagen von der Politik. Bildrechte: IMAGO/Marc Schüler

Die "Revolution" mit der Vorhaltepauschale

Solche systemischen Schieflagen bei der Vergütung will Lauterbach mit der Krankenhausreform beseitigen, indem er eine Vorhaltepauschale installiert. Die Krankenhäuser bekommen also Geld dafür, dass sie die Strukturen zur Patientenversorgung bereitstellen. "Das halte ich für absolut sinnvoll. Eine Feuerwehr bezahlt man ja auch nicht danach, wie viele Brände sie im Jahr löscht", sagt Alexander Baur vom Helios-Klinikum in Erfurt.

Das Geld dafür will Lauterbach aus der Fallpauschalen-Vergütung abziehen. Diese soll um 60 Prozent gesenkt und die frei werdenden Mittel sollen als Vorhaltepauschale ausgezahlt werden. Schon jetzt kritisieren Gesundheitsexperten, dass damit nur das Grundrauschen der Kosten abgedeckt werde. Der Druck, mit den geringeren Erlösen der Fallpauschalen die restlichen Kosten einzuspielen, bleibe weiterhin gegeben.

Welche Krankenhäuser profitieren, bleibt noch ungewiss

"Es ist schwer einzuschätzen, was das in Zukunft verändert. Ich denke, es wird Unterschiede nach Art des Krankenhauses geben", meint Baur. In Thüringen gibt es derzeit 45 Krankenhäuser, von denen etwa zehn Prozent in freigemeinnütziger Trägerschaft (zum Beispiel das Sophien- und Hufeland-Klinikum der Diakonie in Weimar) sind. Der Rest verteilt sich in etwa gleichen Teilen auf private und kommunale Träger.

Welche davon tatsächlich als Gewinner oder Verlierer aus der Reform hervorgehen, lasse sich ohne den konkreten Gesetzestext nicht seriös beantworten, meint auch Rainer Poniewaß, der Chef der Thüringer Krankenhausgesellschaft im Interview mit MDR THÜRINGEN. Den Gesetzentwurf will Karl Lauterbach nach der Sommerpause vorstellen. Die Abstimmung darüber soll noch in diesem Jahr im Bundestag erfolgen.

Zwei Folgen lassen sich zumindest grob abschätzen. Das neue Finanzierungssystem dürfte für Kliniken vorteilhaft sein, die sich bislang auch unrentable Stationen geleistet haben und diese bisher durch erfolgreiche Stationen querfinanzierten. Das dürfte vor allem Maximalversorger betreffen. In Thüringen sind das die Kliniken in Erfurt und Jena. Aber auch kleine Kliniken im ländlichen Raum müssen nicht zwangsläufig unter den Folgen der Reform leiden, wie es zuletzt vor allem die CSU in Bayern immer wieder kritisierte. Die Krankenhäuser könnten von der Reform langfristig profitieren und künftig als sogenannte Level-1i-Häuser auch ambulante Dienste anbieten dürfen. Das könnte für sie neue Geschäftsfelder und damit auch neue Einnahmequellen erschließen.

Mehr zur Krankenhausreform

MDR (ask)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 11. Juli 2023 | 19:14 Uhr

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