Aktuelle Analyse Ukrainer finden in Deutschland seltener einen Job als in anderen EU-Ländern

07. Oktober 2023, 01:00 Uhr

Die Integration von ukrainischen Kriegsflüchtlingen in den deutschen Arbeitsmarkt läuft im europäischen Vergleich schleppend. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung. Während in Deutschland gerade 18 Prozent eine Arbeit gefunden haben, sind es in Ländern wie Polen, der Tschechischen Republik, aber auch Dänemark zwei Drittel und mehr. Die Gründe seien neben der Bürokratie auch falsche Anreize.

Arbeitsbeteiligung der Flüchtlinge stagniert in Deutschland

In Deutschland "stagniert die Arbeitsbeteiligung der Kriegsflüchtlinge, während sie in anderen Ländern von Monat zu Monat zunimmt", heißt es in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung "Mit offenen Armen - die kooperative Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Europa. Eine Alternative zum Asylregime?". Seit Oktober 2022 sei der Anteil der Erwerbstätigen um gerade einmal einen Prozentpunkt gestiegen, trotz der überdurchschnittlichen guten Ausbildung der Flüchtlinge und der großen Nachfrage nach Arbeitskräften. In Dänemark haben dagegen 74 Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge bezahlte Beschäftigung gefunden. In Polen und Tschechien – neben Deutschland die beiden wichtigsten Aufnahmeländer in Europa – liegt der Anteil bei etwa zwei Drittel. In den Niederlanden, Großbritannien und Irland arbeiten mehr als die Hälfte. In der Schweiz sind es wie in Deutschland 18 Prozent, in Österreich gerade mal 14 Prozent.

Arbeit sei Schlüssel zur Integration

Die niedrige Arbeitsbeteiligung sei besorgniserregend, so Dietrich Thränhardt, Autor der Analyse, und das nicht nur wegen der verschenkten Arbeitskraft. "Arbeit ist ein Schlüssel zur Integration. Wenn man eigenes Geld verdient, erwirbt man Selbstvertrauen und Respekt, hat Kontakte auf gleicher Ebene und lernt damit auch die Sprache schneller", so die Überzeugung des emeritierten Professor für Politikwissenschaft.

Zudem könne ein fester Arbeitsplatz auch ein entscheidender Vorteil sein, wenn Ukrainer langfristig in Deutschland bleiben möchten und nach dem Ablauf des vorläufigen Schutzes in einen anderen Rechtsstatus wechseln wollen. In der deutschen Debatte entstehe oft der Eindruck, Flüchtlinge müssten immer eine Belastung sein. Das staatliche Polnische Wirtschaftsinstitut dagegen, sagt Thränhardt, erwartet für 2023 von den Flüchtlingen aus der Ukraine mehr Steuereinnahmen als Ausgaben.

Wenn man eigenes Geld verdient, erwirbt man Selbstvertrauen und Respekt, hat Kontakte auf gleicher Ebene und lernt damit auch die Sprache schneller.

Dietrich Thränhardt, Autor der Studie "Mit offenen Armen - die kooperative Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Europa. Eine Alternative zum Asylregime?"

Geringere finanzielle Unterstützung in Polen und Tschechien

Thränhardts Analyse beschäftigt sich auch mit den Ursachen der unterschiedlichen Arbeitsbeteiligung innerhalb der EU. Grundsätzlich seien die rechtlichen Voraussetzungen erstmal ähnlich: In allen EU-Ländern bekommen ukrainische Flüchtlinge einen vorübergehenden Schutzstatus. So können sie ohne aufwendiges Asylverfahren im Aufnahmeland leben, sind in die Gesundheits- und Sozialsysteme integriert und dürfen sofort arbeiten. Dass Polen und Tschechien im Vergleich zu Deutschland einen so großen Vorsprung haben, liege auch daran, dass die finanzielle Unterstützung  in Polen und Tschechien deutlich geringer als in Deutschland und auch zeitlich begrenzt sei.

So bekommen ukrainische Flüchtlinge in Tschechien zunächst eine monatliche Soforthilfe von umgerechnet 200 Euro. Nach fünf Monaten sinkt der Betrag auf 130 Euro. Auch die Krankenversicherung und die Kosten für die Unterbringung in einer Sammelunterkunft werden inzwischen nur noch befristet übernommen.

In Polen kann auf Antrag eine Einmalzahlung von umgerechnet 66 Euro sowie Kindergeld in Höhe von 110 Euro pro Monat ausgezahlt werden; darüber hinaus gibt es keine Sozialhilfe mehr. Wer länger als vier Monate in einer Sammelunterkunft lebt, muss die Kosten zur Hälfte selbst übernehmen. Das bedeutet: Viele Geflüchtete sind gezwungen, einen Job anzunehmen, in der Regel auch im Niedriglohnsektor.

In Deutschland sind diese finanziellen Anreize deutlich geringer. Seit Juni 2022 bekommen Ukrainer unbefristet den regulären Bürgergeld-Satz, der aktuell bei 502 Euro für alleinstehende Erwachsene liegt. Pro Kind gibt es bis zu 420 Euro zusätzlich. Auch die Wohn- und Nebenkosten werden bei Bedarf übernommen.

Deutschland setzt auf Sprach- und Integrationskurse

Hinzu käme aber auch eine andere Strategie: Statt die Geflüchteten, so schnell wie möglich in Lohn und Brot zu bringen, wie es Polen und Tschechien verfolgen, setzt Deutschland auf Sprach- und Integrationskurse. Hintergrund ist, dass Ukrainer nicht gezwungen sein sollen, Hilfsjobs anzunehmen, sondern sie sollen nach Möglichkeit in ihren entsprechenden Qualifikationen arbeiten. Etwa 60 Prozent der nicht erwerbstätigen Ukrainer nehmen laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) derzeit an solchen Kursen teil. Sie dauern meist ein halbes Jahr oder länger.

Bei so manchem trete dann ein "Gewöhnungseffekt" ein, vermutet Vika Zolotarevska, die bereits vor 22 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kam. Sie selbst arbeitet als Steuerfachangestellte und engagiert sich ehrenamtlich als Integrationsbeirat in Dessau-Roßlau. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit kenne sie viele kleinere und mittelständische Betriebe, die derzeit händeringend Arbeitskräfte suchen – dennoch käme es kaum zu Vermittlungen. Bei vielen Projekten der Integration ginge es weniger darum, eine Arbeit anzunehmen sondern eher um Freizeitbeschäftigungen, kritisiert Zolotarevska. Hinzu käme, dass bei den Sprachkursen ihre ukrainischen Landsleute meist unter sich blieben und in den Pausen weiterhin in ihrer Muttersprache kommunizieren würden. Dabei ist sich Vika Zolotarevska aus eigener Erfahrung sicher, die Sprache lerne man am besten während der Arbeit, im ständigen Kontakt mit deutschen Arbeitskollegen, statt monate- oder jahrelang die Schulbank zu drücken.

Auch in den Niederlanden und Dänemark höhere Erwerbsquote

Die vergleichsweise großzügige Sozialhilfe könne aber nur eine Ursache sein, warum hier so wenige Ukrainer arbeiten: So ist etwa in den Niederlanden oder in Dänemark, wo die finanzielle Unterstützung ähnlich hoch ist wie in Deutschland, inzwischen ebenso ein großer Teil der Geflüchteten erwerbstätig, so die Analyse der Friedrich-Ebert Stiftung. Und hier kommt die schwerfällige deutsche Bürokratie ins Spiel, die schleppender sei als in anderen EU-Ländern.

Bürokratische Verfahren verzögern Arbeitsaufnahme

In Österreich und der Schweiz ist die Arbeitsaufnahme immer noch genehmigungspflichtig. In Österreich verlieren Flüchtlinge die Krankenversicherung, wenn sie mehr als 110 Euro verdienen. Damit geraten sie in die "Inaktivitätsfalle", so Thränhardt. In Deutschland ist die Genehmigungspflicht zwar am 1. Juni 2022 abgeschafft worden, aber es sei trotzdem weiterhin kompliziert. Anders als in allen anderen EU-Ländern sei zudem eine zeitaufwendige Sicherheitsüberprüfung vorgesehen.

Polen, die Tschechische Republik, Dänemark, die Niederlande und Irland schufen dagegen einfache digitale One-Stop-Verfahren. Das heißt, der gesamte Prozess der Aufnahme – vom Rechtsstatus bis zur Arbeitserlaubnis – wird in einem Schritt erledigt. So hatten in Tschechien einen Monat nach der russischen Invasion bereits 200.000 ukrainische Flüchtlinge eine Arbeitsgenehmigung erhalten. In den Niederlanden genügte zunächst die Anmeldung in der zuständigen Gemeinde, Polen schuf eine spezielle Meldekategorie für ukrainische Flüchtlinge.

Hohe Hürden auf dem Weg in die Selbständigkeit

Der Analyse zufolge beklagen Ukrainerinnen, die selbständig arbeiten wollen, lange und komplexe Verfahren mit vielen beteiligten Institutionen. In Polen gibt es dagegen eine große Zahl an Unternehmensgründungen. Ukrainische Frauen gründen hauptsächlich in den Bereichen Friseurin und Handel, Männer bei Bau und Lagerverwaltung, beide im IT-Bereich.

Die aktivsten Flüchtlinge gehen nicht nach Deutschland

Ukrainischen Kriegsflüchtlinge können ihr Aufnahmeland frei bestimmen. Eurostat berechnet jeden Monat, wie viele ukrainische Flüchtlinge die einzelnen Länder pro Kopf der einheimischen Bevölkerung aufgenommen haben. Mit Abstand führt die Tschechische Republik mit 3,2 Prozent der Bevölkerung, jeder 30. Einwohner des Landes kommt aus der Ukraine. In Polen, Estland, Lettland, Litauen und Bulgarien machen ukrainische Flüchtlinge mehr als zwei Prozent der Bevölkerung aus, in der Slowakei 1,9, in Irland 1,7 und in Deutschland 1,3 Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei 0,9 Prozent, Frankreich bildet mit 0,1 Prozent das Schlusslicht.

Spannend dabei sei, so Thränhardt, die Spitzenländer würden alle, im Vergleich zu Deutschland, weniger Sozialleistungen und niedrigere Löhne zahlen. Für den Politikwissenschaftler spricht diese Entwicklung gegen die These von den Sozialleistungen als Hauptanziehungsmoment und eher für die Aktivität der Flüchtlinge. Wenn die geschilderten Unterschiede sich verfestigen, müsse man allerdings davon ausgehen, dass die Aktivsten sich eher nicht nach Deutschland orientieren werden.

Kaum Arbeit in qualifizierten Berufen

In keinem europäischen Land ist es allerdings bisher gelungen, die gute Ausbildung der Ukrainerinnen fruchtbar zu machen, so Thränhardts Fazit. Zumeist arbeiten sie im Niedriglohnsektor. Obwohl Ärzte und Krankenpfleger fehlen, blieben diese Berufskompetenzen weitgehend ungenutzt. Dabei gehe es immerhin um sieben Prozent der Flüchtlinge, europaweit also um etwa 50.000 ausgebildete Gesundheitsfachkräfte. Ähnlich ist es im Erziehungsbereich, aus dem 13 Prozent stammen.

MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 27. Juli 2023 | 09:00 Uhr

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