Frauenärztin zu Abbrüchen und Paragraf 219a Schwangerschaftsabbruch – "Die meisten Frauen sind erst mal erleichtert"
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12. Februar 2022, 05:00 Uhr
In der Praxis von Christiane Tennhardt können Frauen eine Schwangerschaft abbrechen lassen. Die Ärztin hat in Lateinamerika gesehen, wie Frauen sterben, die keinen Zugang zu medizinischer Hilfe beim Schwangerschaftsabbruch haben. Heute gibt Tennhardt ihr Wissen an angehende Ärztinnen und Ärzte weiter. Sie sagt: Die Paragrafen 218 und 219a sind aus medizinischer Sicht nicht gerechtfertigt.
- Erster Schritt: Pflichtberatung für Schwangere
- Wie geht es Betroffenen bei einem Schwangerschaftsabbruch?
- Paragraf 219a aus medizinischer Sicht
MDR AKTUELL: Wie sind Sie mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch in Berührung gekommen?
Christiane Tennhardt: Ich habe in Guatemala und Nicaragua studiert. Und da habe ich von Anfang an die Konsequenzen von illegal, also von unsicher durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen gesehen – in Form von schwer erkrankten und auch toten Frauen, vor allem nach schweren Infektionen.
In Ihrer Praxis führen Sie und Ihre Kolleginnen Schwangerschaftsabbrüche durch. Was sollte eine Betroffene, die einen Abbruch machen lassen will, als Erstes tun?
Ich sage immer: Gehen Sie auf jeden Fall schon mal zur Beratungsstelle. Dann haben Sie auf jeden Fall schon mal den notwendigen Schein und viele zusätzliche Informationen.
Erster Schritt: Schwangerenberatung
Für Schwangere, die diesen Schein brauchen, ist diese Konfliktberatung Pflicht. Ist das Gespräch ergebnisoffen?
In den zugelassenen Beratungsstellen bekommen sie – fast überall – eine neutrale Beratung.
Was bringt diese Pflicht zur Schwangerenkonfliktberatung den Frauen?
Gar nichts. Die meisten Frauen gehen in die Konfliktberatungsstelle und haben erstmal Schiss, dass sie den Beratungsschein nicht bekommen. Sie wissen aber schon, dass sie einen Abbruch wollen und bleiben bei ihrer Entscheidung. Das zeigt die Studie "Frauen Leben 3" [der BZgA, Anm. d. Red.]. Diese Zwangsberatung finde ich nicht gut.
Ich finde aber, dass die Beratungsstellen eine sehr gute Anlaufstelle für Frauen sind - auch für die, die ihr Kind behalten wollen. Da bekommen die Frauen ganz viele Informationen an die Hand, welche Hilfen sie anfordern können und welche Möglichkeiten sie haben.
Nach der Beratung müssen Frauen eine Wartefrist von drei Tagen einhalten. Ergibt das aus medizinischer Sicht Sinn?
Da gibt es keinen evidenz-basierten, medizinischen Grund dafür. Das ist irgendwie irgendjemandem mal in den Kopf geschossen.
Diese drei Tage sind grundsätzlich nicht ganz so schlimm. Oft braucht es eh drei Tage, um alles zu klären. Aber manchmal wird es eben auch knapp. Stellen Sie sich vor, die Frau stellt es nach 13 Wochen 5 Tagen* fest. Eigentlich könnte ich den Abbruch morgen machen. Wenn man dann noch drei Tage warten muss, dann ist sie schon drüber.
(*gerechnet ab dem Tag der letzten Regelblutung. Der Gesetzgeber rechnet hingegen vom Tag der Empfängnis, das entspricht der 12. Woche.)
Praxis-Erfahrungen einer Frauenärztin
Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland bis zur 12. Woche straffrei. Das Mittel für einen medikamentösen Abbruch ist aber nur bis zur 9. Woche zugelassen. Ist aus ärztlicher Sicht ein medikamentöser Abbruch auch darüber hinaus noch möglich?
Misoprostol hat in Deutschland eine Zulassung bis zur 9. Woche. Alles, was ich mit Medikamenten tue, wofür die Zulassung nicht gegeben ist, ist sogenannter "off-label-use". Wenn ich als Ärztin Medikamente so verwende, ist das meine medizinische Freiheit. Aber das muss ich gut untermauern können. Da müssen Studien dazu vorliegen.
Die Studien zur Anwendung von Misoprostol sind heute viel weiter, als es die Zulassung hergibt. Ich kann es sehr viel weiter benutzen – also bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Das geht in anderen Ländern wie Schweden oder wie Frankreich ganz legal.
Wichtig ist: Misoprostol ist auch ein lebensrettendes Medikament. Die Frauen können auch nur mit diesem Medikament eine Abtreibung machen. Das ist das meistbenutzte Abtreibungsmedikament der Welt. Dies hat eine Untersuchung aus Brasilien bewiesen [Viggiano et cols. 1996, Anm. d. Red.]: der Misoprostol-Verkauf geht hoch, die Zahl der toten Frauen geht runter.
Sie kümmern sich seit vielen Jahren um Frauen, die einen Abbruch machen möchten. Aus Ihrer Erfahrung: Wie geht es den Frauen danach?
Da ist ein ganz großes Gefühlschaos, das die Frauen da haben. Aber die meisten sind erst mal erleichtert und froh, dass sie es hinter sich haben.
Merkt man es einer Betroffenen an, dass sie einen Abbruch hatte?
Das kann sie gut verstecken. Dass man einer Frau eine Schwangerschaft ansieht – sie wird bisschen runder, bisschen weicher – das kommt meist später. Wenn es durchgesickert ist, dass die Frau schwanger ist, kann sie auch sagen, sie hatte eine Fehlgeburt.
Weniger Ärzte und Ärztinnen nehmen Abbrüche vor
Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche vornehmen, nimmt ab. Welche Gründe gibt es dafür?
Es läuft gerade eine Studie zu diesem Thema. Das heißt, wir vermuten bislang nur. Das kann zum einen sein, dass viele Ärztinnen keinen politischen Hintergrund mehr haben. Medizinerinnen aus der 68er-Generation waren da viel politischer. Es gibt vielleicht auch eine etwas überhebliche Herangehensweise im Sinne von: Es gibt so viele Verhütungsmittel für Frauen, die nicht schwanger werden wollen.
Die Tabuisierung ist zu groß geworden in Deutschland.
Ich habe aber auch ein Beispiel von zwei Ärztinnen, die eine Praxis in Bayern auf dem Land haben. Die sagen: "Das geht hier gar nicht". Die Tabuisierung ist zu groß geworden in Deutschland.
Hinzu kommt, was Abbrüche angeht: Das meiste ist organisatorischer Mist und viel Aufwand. Und viele Praxen sind organisatorisch schon Unterlippe Oberkante. Aber auch haben viele Ärztinnen und Ärzte einfach keine Ahnung, wurden nie dazu ausgebildet. Man muss sich beim Schwangerschaftsabbruch auch erstmal einarbeiten.
Das Wissen über Schwangerschaftsabbrüche weitergeben
Sie bieten Seminare an, in denen Sie Medizin-Studierende über Schwangerschaftsabbrüche unterrichten. Wie kommen Sie dazu?
Ich bin jetzt 66. Es müssen ja Leute kommen, die das weitermachen. Diese Kurse sind für mich eher eine politische Sache als eine medizinische. Ich will den StudentInnen näher bringen, dass das Teil unseres Jobs ist. Und dass wir aufpassen müssen, dass uns Frauen das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch nicht flöten geht. Denn die Gegenseite ist gut vernetzt und hat unheimlich viel Geld.
Im Studium werden Schwangerschaftsabbrüche nicht gelehrt. Geht die Ausbildung bloß über Initiativen wie bei Ihnen mit Doctors for Choice?
Ich weiß, Frau Hänel nimmt immer wieder PraktikantInnen. Wir in der Praxis nehmen PraktikantInnen. Es gibt sicher ganz viele ÄrztInnen, die das individuell weitertragen.
Es fehlt viel an Fortbildungen. Vor dieser 219a-Geschichte haben Sie in Deutschland nach Fortbildungen zum Abbruch suchen müssen. Wir haben uns dann anlässlich der Diskussion um den 219a eingeklinkt. Dann wurde Doctors for Choice gegründet.
Geht die Gesellschaft heute offener mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch um als zum Beispiel in den 60er oder 70er-Jahren?
Man konnte damals abends beim Essen zusammen sitzen und sagen: 'Wenn jetzt alle geboren worden wären, würden jetzt fünf Kinder um den Tisch rennen.' Das würde heute niemand mehr sagen. Dass eine Frau offen sagt: 'Ich habe einen Schwangerschaftsabbruch gemacht', das ist extrem selten. Da ist ein totaler roll-back. Da wird nicht mehr drüber geredet.
Tennhardt: 219a ist so unnötig wie ein Kropf
Sind Paragraf 219a und 218 aus medizinischer Sicht gerechtfertigt?
Nein. (Winkt ab.)
Ich versuche immer vorsichtig zu sein: Selbst wenn sie keine Gesetze mehr haben, heißt das nicht automatisch, das Thema ist gegessen und alles ist gut. Die Stigmatisierung und Tabuisierung fällt damit nicht automatisch.
Ich denke, wir brauchen keine Gesetzgebung. Der 219a ist so unnötig wie ein Kropf. Das ist so absurd: Wenn Sie bei uns auf die Webseite kommen, dann steht da: 'Wir führen Abbrüche durch. Wenn Sie mehr erfahren wollen, klicken Sie bitte hier.' Dann kommt man zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder Pro Familia. Das ist so eine Entmündigung der Frauen.
Und der 218 im Strafgesetzbuch – wer sieht sich als Arzt oder Ärztin gern hinter Mord und Totschlag? Und dann diese Begründung: Eigentlich verboten, aber unter gewissen Bedingungen doch erlaubt. Das kann ja nur einem deutschen Hirn einfallen, so ein Quatsch.
Zur Person Christiane Tennhardt, 66, ist Frauenärztin und seit Kurzem im Ruhestand. Mit der Initiative Doctors for Choice e.V. informiert sie Medizinstudierende zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Teil der Seminare ist auch das praktische Üben an einer Papaya.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. Januar 2022 | 16:06 Uhr