Kommentar Die Würde von Gebärfähigen bleibt antastbar
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24. Juni 2022, 19:20 Uhr
Ein großer Schritt für eine Bundesregierung, ein kleiner Schritt für die Selbstbestimmung. Der umstrittene Paragraf 219a ist Geschichte – die Kriminalisierung von medizinischen Informationen ist beendet. Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen geht aber weiter. Doch statt Menschen mit Uterus unter Generalverdacht zu stellen, brauchen wir dringend eine ehrliche Auseinandersetzung zum Thema Selbstbestimmung.
Im folgenden Text werden auch Aspekte von sexualisierter Gewalt thematisiert. Hilfe bekommen Betroffene, Angehörige oder Fachkräfte kostenlos und vertraulich beim Hilfetelefon: 08000 116 016. Tatgeneigte Personen können sich ebenfalls anonym beraten lassen unter der Hotline 0800 70 222 40 (montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr).
Das Hilfetelefon "Schwangere in Not" bietet rund um die Uhr vertrauliche Unterstützung: 0800 40 40 020.
- Die Kriminalisierung von Abbrüchen nutzt niemandem.
- Die Bedürfnisse der Betroffenen gehören in den Fokus.
- Auch Vorstellungen von Männlichkeit brauchen ein Update.
Männer können nicht anders, aber Frauen sollen verdammt nochmal aufpassen. Das ist in etwa das ideologische Fundament, auf dem Diskussionen über Schwangerschaftsabbrüche bis heute oft geführt werden. Nun ist also Paragraf 219a StGB Geschichte. Medizinische Informationen werden entkriminalisiert und nicht mehr als Werbung diffamiert. Das soll Fortschritt sein? Allein die Diskussionen zeigen, wie weit wir von echter Gleichberechtigung entfernt sind. Die Paragrafen 218 und 219 mit ihren durchbuchstabierten Begleiterscheinungen sind nie ein Kompromiss gewesen, sondern ein Geschenk an die Plagegeister, die sich in ein vermeintlich goldenes Zeitalter der Geschlechterordnung zurück träumen, das es bei näherem Hinsehen ohnehin nie gab. Wo sind eigentlich die Mitverursacher von Konfliktschwangerschaften in den Diskussionen über Abtreibungen?
Gesetzlich verordnetes Nachdenken offenbart Doppelmoral
Natürlich geht es mir nicht darum, dass künftig Männer über den Uterus ihrer Ehefrau, Partnerin, Love-Affair entscheiden sollen. Das kriegt das deutsche Strafgesetzbuch schon selbst ganz gut hin. Denn anders als manche meinen, sind Schwangerschaftsabbrüche eben nicht legal. Straffrei ist das Höchste der Gefühle, das Betroffenen gegönnt wird. Und selbst das unter strikten Voraussetzungen: So müssen Schwangere nach Paragraf 218a StGB nachweisen, "dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff (haben) beraten lassen".
Gesetzlich verordnetes Nachdenken. Wer sich solche Regeln ausdenkt, hat wohl noch nie mit einer Betroffenen gesprochen – oder zumindest sehr effektiv weggehört. Wie wäre es denn mit einer Pflichtberatung für die Mitverursacher von Konfliktschwangerschaften? Oder geht es schlicht um eine einseitige Ausübung von Kontrolle? Dabei bräuchte es nicht einmal drei Tage Bedenkzeit, um zu der Erkenntnis kommen zu können: Wirklich niemand hat Lust auf einen Schwangerschaftsabbruch.
Kriminalisierung von Abbrüchen hilft niemandem
Die Gründe für eine solche Entscheidung sind vielfältig: Ob Betroffene grundsätzlich keine Kinder haben wollen, sich noch nicht bereit fühlen, die Familienplanung schon abgeschlossen ist, oder medizinische Notwendigkeit für einen Abbruch besteht. All das sind valide Gründe. Dafür, einen anderen Menschen zum Austragen einer Schwangerschaft zu zwingen, gibt es keinen einzigen. Selbstverständlich darf auch umgekehrt niemand zu einem Abbruch gedrängt werden. Zu den hässlicheren Rahmenbedingungen, die eine Schwangerschaft überschatten können, zählt das enorme Armutsrisiko für Alleinerziehende. Dieses Problem löst man aber nicht, indem man Abtreibungen kriminalisiert.
Für echte Selbstbestimmung braucht es sehr viel mehr als freien Zugang zu sachlichen Informationen und einen unkomplizierten, kostenfreien Zugang zu medizinischer Versorgung. Statt Betroffene permanent unter Rechtfertigungsdruck zu setzen und vorzuverurteilen, sollten wir lieber nach ihren Bedürfnissen fragen. Das beginnt schon bei der Frage, wie Menschen mit Uterus möglichst gar nicht erst in die Situation kommen, über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken zu müssen.
Biologische Unterschiede schreiben keine Gesetzesparagrafen
Zwar lässt sich das nicht immer verhindern und wer überhaupt schwanger werden kann, ist nun mal biologisch festgelegt. In einer medizinisch und rechtlich hoch komplexen Gesellschaft gibt es dennoch viele Möglichkeiten, mit diesem Risiko umzugehen und Verantwortung aufzuteilen. Schon bei Präventionsfragen treten irritierende Denkmuster zutage. Wie oft hören etwa die einen "Pass auf, dass du nicht schwanger wirst"? – wie oft hören die anderen "Pass auf, dass du niemanden schwängerst" oder werden sie vielmehr mit "Boys will be boys"-Botschaften schon mal vorsorglich entlastet, sollten sie sich ihrer Verantwortung entziehen wollen?
Nicht zuletzt die Forschung zu Verhütungsmitteln für Männer könnte längst weiter sein. Und wie wäre es überhaupt mit kostenlosen Verhütungsmitteln freier Wahl für Menschen mit wenig Geld? Immerhin Projekte, die sich die Ampel-Koalition vorgenommen hat – die konkrete Umsetzung bleibt abzuwarten.
Männlichkeitsbilder, die auch Männern Unrecht tun
Es geht ohnehin noch weiter. Denn neben Restrisiken bei der Verhütung gibt es auch Formen gezielter Manipulation und Überrumplung, die jenseits feministischer Teil-Öffentlichkeiten erstaunlich wenig beachtet werden. Wenn Sie zum Beispiel selbst noch nie etwas von Stealthing gehört haben, sehen Sie es als Beleg für die defizitäre Aufklärung in diesem Land. Stealthing beschreibt das heimliche Entfernen eines Kondoms gegen den Willen der Partnerin oder des Partners. Schon klar: Im Zweifelsfall lässt sich ein solcher Übergriff nicht so einfach nachweisen wie eine Schwangerschaft. Aber wenn sich unsere Gesetzgebung und Strafverfolgung nur für so unübersehbare Angelegenheiten wie einen dicken Bauch interessieren, können sie ohnehin einpacken.
Noch 2020 sprach ein Richter in Kiel einen Mann frei, obwohl dieser nicht einmal Anstalten machte, die Vorwürfe zu leugnen. Vielmehr fantasierte der Angeklagte, wie die Betroffene angeblich doch noch kurzfristig und stillschweigend ihre Meinung hätte geändert haben können - nachdem sie zuvor mehrfach ausdrücklich auf Kondome bestanden hatte. Man könnte fragen, was bei denen schiefläuft, die das erste Nein nicht verstehen, das zweite auch nicht, das dritte immer noch nicht und sich schließlich über das Nein hinweg setzen. Der Richter befand, zwischen Sex mit oder ohne Kondom gebe es keine wesentlichen Unterschiede - frei nach dem Motto: Wer einmal zugestimmt hat, muss sich danach alles gefallen lassen.
Ein Urteil, das zumindest Fragen aufwirft. Wie konnten jahrzehntelange Aufklärungskampagnen zu Safer Sex an einem Richter spurlos vorbeigehen? Steht hinter einem solchen Urteil nicht vor allem die Ansicht, Männer seien grundsätzlich verantwortungsunfähige Samenschleudern, vor denen Frau sich nun mal irgendwie selbst schützen muss? Wer so denkt, tut jedenfalls vielen Männern Unrecht.
Selbstbestimmung - die große Unbekannte?
Dennoch traf der Richter auch einen wichtigen Punkt: Dass er in seinem Urteil den Mangel eines eigens festgelegten Tatbestandes Stealthing hervorhob, offenbart eine jahrzehntelange Leerstelle. Denn neu dürfte das Phänomen des Stealthing genauso wenig sein wie die Erfindung von Kondomen selbst. Fast zehn Jahre nach dem legendären Satz "Das Internet ist für uns alle Neuland" und 25 Jahre, nachdem die "Vergewaltigung in der Ehe" explizit unter Strafe gestellt wurde, ist sexuelle Selbstbestimmung offenbar schlicht ein weißer Fleck auf der Landkarte.
Immerhin hob die nächste Instanz das Kieler Urteil auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung zurück ans Amtsgericht. Die Art und Weise aber, in der Stealthing-Fälle strukturell auf die Betroffenen individualisiert werden, steht in krassem Gegensatz dazu, wie ein Uterus im Fall einer Konfliktschwangerschaft vergemeinschaftlicht wird.
Wer schweigt, wenn Möchtegern-Alphas ihr ABC des "Ich dachte, du willst es auch" durchspielen, der sollte an anderer Stelle zumindest nicht so tun, als ginge es ihm um den Schutz von ungeborenem Leben. Denn für dieses interessieren sich Abtreibungsgegner und -gegnerinnen ohnehin nur genau so lange, bis daraus eine anstrengende Person wird, die Selbstbestimmung über den eigenen Körper einfordert. Eine Diskussion über Schwangerschaftsabbrüche, die den Schutz vor ungewollten Schwangerschaften nicht wenigstens mitdenkt, ist aber unseriös.
MDR AKTUELL
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. Januar 2022 | 15:30 Uhr