Der negative Scherenschnitt eines Cannabis-Blattes ist auf das Grün einer Behelfsampel in Leipzig geklebt.
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Verkehr Kiffen und Auto fahren – Der Streit um den richtigen THC-Grenzwert

28. März 2024, 15:45 Uhr

Mit bis zu 0,5 Promille Alkohol im Blut darf man Auto fahren. Das ist klar geregelt. Beim Kiffen werden derzeit 1 ng THC/ml im Blutserum toleriert. Doch dieser Grenzwert ist umstritten, auch weil Alkohol und Marihuana sehr verschieden wirken. Eigentlich zuständig ist dafür die Grenzwertkommission (GWK). Doch die ist uneins, einige Wissenschaftler schlagen eine Erhöhung vor, andere sind dagegen. Nun wird Cannabis teillegalisiert, und eine neue Expertenrunde soll einen Kompromiss finden.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Andreas Sandig
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Aktualisierung: Ende März hat eine Expertenkommission Vorschläge für einen künftigen THC-Grenzwert im deutschen Straßenverkehr gemacht. Er soll demnach bei 3,5 Nanogramm pro Milliliter Blut liegen.

Auf Forderung des Verkehrsgerichtstags ist 1993 ein Fachgremium ins Leben gerufen worden, das den Einfluss von Drogen und Medikamenten auf Verkehrsteilnehmer untersuchen und Empfehlungen zu Fahrverboten geben soll. Die sogenannte Grenzwertkommission (GWK) setzt sich aus Rechts- und Verkehrsmedizinern sowie Toxikologen und Forensikern zusammen. Später kamen Vertreter vom Bundestraßenamt sowie der Bundesministerien für Verkehr und Justiz dazu.

Kiffen am Steuer – das gilt aktuell

2002 legte die GWK den THC-Grenzwert auf 1,0 ng/ml Blutserum für eine Ordnungswidrigkeit fest. Das wurde vom Bundesverfassungsgericht 2004 in einem Urteil bestätigt, ist aber nicht gesetzlich festgeschrieben. Die Grenzwertkommission sollte eigentlich den Paragraf 24a Abs. 2 im Straßenverkehrsgesetz um Cannabis erweitern. Ähnlich dem Alkoholgrenzwert von 0,5-Promille im Blut soll künftig auch für Straßenverkehrsteilnehmer nach dem Kiffen ein amtlicher THC-Grenzwert gelten.

Mitglieder im Bundesverkehrsausschuss drängen auf eine THC-Grenzwerterhöhung. Es sei unverhältnismäßig, wenn jemand bei einer Verkehrskontrolle mit 1 ng erwischt werde und es dann mindestens 500 Euro Bußgeld, einen Monat Fahrverbot, zwei Punkte in Flensburg und oft auch eine medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) gebe. Auch der Verkehrsgerichtstag und der Deutsche Anwaltverein kritisieren, Betroffene würden derzeit "in einem nicht vertretbaren Umfang" sanktioniert. Die Bundesanstalt für Straßenwesen verweist auf neuere Studien, die unter zwei Nanogramm kaum Fahrbeeinträchtigungen sehen und erst bei 3,8 Nanogramm ähnliche Einschränkungen wie bei 0,5 Promille Alkohol.

Experten uneins zur Erhöhung des THC-Grenzwerts

Mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen relativierte die GWK 2022 ihre Position. Angesichts unklarer Datenlage sei es unmöglich, einen allgemeinen THC-Grenzwert mit vertretbarer wissenschaftlicher Begründung festzulegen.

Stefan Tönnes
Stefan Tönnes als Chef der Expertenkommission tritt für eine moderate Erhöhung des THC-Grenzwerts ein. Bildrechte: Stefan Tönnes

Der Toxikologe Stefan Tönnes vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main sagte MDR AKTUELL, er und weitere Kommissionsmitglieder hätten als Kompromiss eine Grenzwerterhöhung auf zumindest 3,5 ng/ml Blutserum vorgeschlagen. Später wurden in der öffentlichen Debatte als Kompromiss 3,0 ng diskutiert. Doch andere GWK-Experten sprachen sich gegen eine Erhöhung aus.

GWK-Mitglied Frank Mußhoff vom Forensischen Toxikologischen Zentrum München sagte MDR AKTUELL, er könne sich mit einem 1-Nanogramm-Grenzwert anfreunden. Der Vizepräsident der Gesellschaft für Verkehrsmedizin erklärt das mit großen individuellen Unterschieden bei der Wirkung von THC. So sei ein gelegentlicher Konsument nach dem Kiffen für etwa sechs Stunden nicht ganz so leistungsfähig. In diesem Zeitraum hätte er auch etwa 1 ng THC pro ml im Blut. Problematisch sei es bei gewohnheitsmäßigen Kiffern, da baue sich das THC im Blut langsamer ab. Sie könnten auch noch am nächsten Tag über dem Grenzwert liegen, obwohl sie längst wieder verkehrstauglich seien.

Knackpunkt ist also: Orientiert sich der Grenzwert am Gelegenheits- oder Dauerkiffer? Auch Dieter Müller, Professor für Straßenverkehrsrecht an der Hochschule der Sächsischen Polizei, unterstützt die 1-ng-Grenze. Er verweist auf Studien, nach denen bei drei Nanogramm das Risiko deutlich steige. Doch die Studienlage ist heterogen und insbesondere für Gelegenheitskonsumenten relativ dünn.

Patt in der GWK: Wissing beruft neue Expertenrunde

Angesichts der unvereinbaren Haltungen in der Grenzwertkommission berief Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) eine neue interdisziplinäre Arbeitsgruppe ins Leben, die zeitnah zur Inkraftsetzung des Cannabis-Gesetzes im April einen Vorschlag machen soll. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) teilte MDR AKTUELL dazu auf Anfrage mit: Die Gruppe solle "prüfen, wie die Grundlage für einen THC-Grenzwert im Rahmen der Ordnungswidrigkeitenvorschrift des § 24a Straßenverkehrsgesetz (StVG) auf wissenschaftlicher Basis ermittelt und geschaffen werden kann". Ergebnisse der Experten aus Medizin, Recht, Verkehr und Polizei sollen "im Frühjahr 2024 vorliegen und bleiben abzuwarten. Die Festlegung des Grenzwertes im Straßenverkehrsgesetz erfolgt anschließend durch den Gesetzgeber".

Mitglieder der AG zur Findung eines Cannabis-Grenzwerts im Straßenverkehr

  • Prof. Dr. med. Markus Backmund, Leiter des Praxiszentrums im Tal (pit), Lehrpraxis an der LMU München
  • Dr. med. Maurice Cabanis, Ärztlicher Direktor der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten, Klinikum Stuttgart
  • Prof. Jan Ramaekers, Leitung des Instituts für Psychopharmakologie und Neuropsychologie, Universität Maastricht
  • Dr. med Franjo Grothenhermen, Vorsitzender der AG Cannabis als Medizin e.V., Geschäftsführer International Association for Cannabinoid Medicines e.V. (IACM)
  • Prof. Lorenz Böllinger, Emeritierter Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bremen
  • PD Dr. rer nat. Stefanie Iwersen-Bergman, Leitung der Toxikologie im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf
  • Thomas Seidel, AG Verkehrspolizeiliche Angelegenheiten, Hessisches Ministerium des Innern und für Sport
  • Dazu kommen Vertreter von BMDV, BMG und der Bundesanstalt für Straßenwesen sowie der Chef der Grenzwertkommission

Demnach ist auch der Vorsitzende der Grenzwertkommission, Stefan Tönnes, mit seiner jahrelangen Expertise in der neuen Arbeitsgruppe vertreten. Der Rechtsmediziner am Frankfurter Uniklinikum sagte dazu MDR AKTUELL, er sei beratend aktiv. Zum Arbeitsstand könne er keine Informationen geben.

Deutliche Kritik am neuen Gremium kommt von GWK-Mitglied Frank Mußhoff. Der Toxikologe sagte MDR AKTUELL, diese AG tage hinter verschlossenen Türen, Protokolle würden nicht herausgegeben. Ob es die eigentliche Grenzwertkommission überhaupt noch gebe, sei unklar. Die Mitglieder seien nicht informiert worden.

Grenzwerte für Ordnungswidrigkeit und Straftat

Hauptproblem für einen festen THC-Grenzwert ist die individuell stark unterschiedliche Wirkung von Tetrahydrocannabinol (THC). Mußhoff erläutert dazu: Schon bei geringen Konzentrationen seien bei gelegentlichen Konsumenten verkehrsrelevante Auffälligkeiten nicht auszuschließen. Jedoch nähmen diese Auffälligkeiten bei polizeilichen Fällen mit steigender THC-Konzentration im Gegensatz zu Alkoholfällen nicht in vergleichbarem Maße zu. Das mache es nahezu unmöglich, einen Grenzwert für die absolute Fahrunsicherheit als Straftatbestand zu finden – analog zu den 1,1 Promille beim Alkohol.

Mußhoff zufolge geht es in der aktuellen Debatte auch nicht um diese strafbare THC-Grenze, sondern um den Grenzwert für einen Ordnungswidrigkeitstatbestand, wenn Auffälligkeiten noch nicht als Straftat ausreichend erscheinen. Es gehe um die Gefahrenabwehr im Straßenverkehr, auch bei gelegentlichem Konsum.

Früher lag der Alkohol-Grenzwert bei 1,5 Promille

Die Promillegrenzen in Deutschland wurden seit 1953 schrittweise gesenkt, von anfangs 1,5 auf aktuell 0,5 Promille Alkohol im Blut. Auto- oder Motorradfahrer über 0,5 Promille begehen eine Ordnungswidrigkeit, ab 1,1 Promille ist es eine Straftat. Es drohen Fahrverbote und heftige Geldstrafen. Doch auch schon bei 0,3 Promille ist eine relative Fahruntüchtigkeit gegeben, wenn Verkehrteilnehmer sich auffällig verhalten.

THC wirkt je nach Konsumgewohnheiten individuell sehr unterschiedlich

Ein Problem ist, dass es laut Studien beim gelegentlichen Kiffen schon gut eine Stunde nach dem Konsum zu einer Halbierung der THC-Konzentration kommen kann. Anders als beim Alkohol ist Mußhoff zufolge keine wissenschaftlich fundierte Rückrechnung möglich. Außerdem wirkt THC bei seltenem Konsum stärker.

Andererseits haben chronische Cannabis-Konsumenten quasi einen Dauer-THC-Pegel im Blut, der sich auch nach einigen Tagen nur langsam abbaut – selbst wenn in dieser Zeit nicht gekifft wird und längst keine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit mehr besteht. Sie vertragen auch mehr THC, die Beeinträchtigungen sind bei normalem Konsum im Schnitt geringer. Dazu kommen noch Wirkunterschiede abhängig von der Art des Konsums (Rauchen oder Essen/Trinken). Bei oraler Einnahme setzt die THC-Wirkung in der Regel später ein.

Der Chef der Grenzwertkommission, Tönnes, verweist noch auf andere Wirkungsunterschiede zwischen THC und Alkohol. So belegten Untersuchungen, dass Cannabis-Konsumenten ihren Konsum besser regulieren können, weil es beim Joint eine schnellere Rückmeldung der Rauschwirkung gebe. Da eine Überdosierung für Konsumenten unangenehm sei, hörten sie eher auf und es komme im Unterschied zu Alkohol auch selten zur Vergiftung. Außerdem wirke Alkohol stärker enthemmend als Cannabis und verleite eher zu Selbstüberschätzung. Doch Tönnes verschweigt auch nicht die Risiken: Cannabis könne beispielsweise bei sensiblen Konsumenten psychotische Reaktionen auslösen.

Nach wem soll sich der Grenzwert richten: Gelegenheitskiffer oder regelmäßige Konsumenten?

Toxikologe Frank Mußhoff
Der Toxikologe Frank Mußhoff plädiert angesichts der Probleme bei der THC-Grenzwertfindung im Zweifel für einen niedrigen Wert. Bildrechte: IMAGO / Michael Westermann

Als Kompromiss gibt es laut Mußhoff "nicht-evidenzbasierte Vorschläge" zu einem Grenzwert mit einem Sicherheitsabschlag für eine Messunsicherheit. Doch die grundsätzliche Frage einer individuell unterschiedlichen THC-Wirkung sieht Mußhoff bereits durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts geklärt: Demnach muss der Cannabiskonsument als Verursacher des Risikos "die verbleibende Unsicherheit" tragen. Zur Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer sei das "eine verhältnismäßige Beschränkung seiner Rechte". Der Schutz der Allgemeinheit stehe über einem individuellen Recht auf Rausch.

Problem der Wechselwirkung von THC und Alkohol

In der Praxis trinken viele Kiffer parallel Alkohol. Wie Mußhoff ausführt, wird die Kombination in vielen Studien als fatal dargestellt, das heißt mit einer Wirkungsverstärkung. Er fordert deshalb beim Mischkonsum eine Berücksichtigung der Wechselwirkungen. Das gelte ebenso für andere zentral wirksame Mittel. Eine Anpassung sei nicht nur bei den Grenzwerten nötig, sondern auch bei der Überprüfung der Fahreignung durch Verkehrsbehörden.

Doch es gibt nach Aussage von GWK-Chef Tönnes noch zu wenig Daten zur Gefährlichkeit der Wechselwirkung, um repräsentierende Kombi-Grenzwerte abzuleiten. Die einfachste Regelung wäre, für Cannabiskonsumenten eine Alkohol-Nulltoleranz zu fordern – wie es auch für Fahranfänger gilt.

Was gilt für medizinisches Cannabis?

Der Konsum von medizinischem Cannabis ist in Deutschland seit 2017 erlaubt und dabei gilt das sogenannte Medikamentenprivileg. Ein Patient kann nicht für eine Ordnungswidrigkeit herangezogen werden, solange er bestimmungsgemäß sein Cannabis einnimmt. Ist er aber auffällig und es gibt Leistungsdefizite, so kann ein Straftatbestand festgestellt werden. Das gilt ebenso bei anderen Medikamenten. Zur Einordnung: 2021 wurden bundesweit 372.000 Rezepte für Cannabis-Arzneimittel ausgestellt.

Zwei Finger drehen eine Zigaretter mit Canabis 4 min
Bildrechte: IMAGO / Aton Chile

Erwartete Folgen durch die Legalisierung

Ein Polizist zeigt einen positiven Drogen-Test auf THC (Cannabis) eines Autofahrers.
Polizist mit einem Cannabis-Drogentest Bildrechte: picture alliance/dpa | Julian Stratenschulte

Drogenbedingte Unfälle haben in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen. Es wird befürchtet, dass die Zahlen nach der Cannabis-Legalisierung weiter steigen. Eine gleichzeitige Grenzwerterhöhung hält der Experte Mußhoff für ein schlechtes Signal, es käme einer Verharmlosung gleich. Nach seinen Worten haben sich schon jetzt die Zahlen cannabisbedingter Psychosen drastisch erhöht. Da drohe ein neuer Schub. Das hätte dann gesamtgesellschaftliche Auswirkungen, bei Strafverfahren, einem möglichen Strafmaßregelvollzug und belaste natürlich das Gesundheitssystem.

Mußhoff sieht das Cannabisgesetz der Ampel insgesamt skeptisch. Er befürchtet in der Praxis eine leichtere Verfügbarkeit auch für Minderjährige. Einsparpotenzial bei Polizei und Justiz erkenne er nicht. Im Gegenteil, das komplizierte Gesetz müsse schließlich überwacht und durchgesetzt werden.

THC-Grenzwerte für Autofahrer im Ausland

Die Informationen im Internet über THC-Grenzwerte international sind widersprüchlich. Es wird teils nicht unterschieden zwischen höheren Grenzwerten im Blutserum/Urin zu entsprechenden, aber niedrigeren Werten im Vollblut. Hier einige ausgewählte Grenzwerte im Blutserum (wie in Deutschland) bzw. Urin auf Basis von Angaben des Instituts für Rechtsmedizin der Uni Basel vom Dezember 2020:

  • Portugal: 6,0 ng
  • Niederlande: 5,0 ng
  • Polen, Großbritannien, Tschechien: 4,0 ng
  • Schweiz: 3,0 ng
  • Dänemark, Frankreich, Griechenland, Irland, Finnland: 2,0 ng
  • Belgien: 1,0 ng
  • Österreich, Italien, Ost- und Südosteuropa: nicht definiert, praktisch gilt dann meist die 0,2-EU-Richtlinie
  • Kanada: Anfänger 2 ng/Blut, erfahrene Fahrer 5 ng/Blut
  • einige US-Bundesstaaten: 10 ng

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 23. Februar 2024 | 19:30 Uhr

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