Zusammenhaltsbericht Ab wann Abgrenzung zum Problem für die Gesellschaft wird

08. November 2023, 13:23 Uhr

Wie steht es um den Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland? Droht sich die Bevölkerung in abdriftende Lager zu spalten – in Blasen, die unabhängig voneinander existieren und sich immer weiter entfremden? Das untersucht der Zusammenhaltsbericht, an dem auch der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld mitgewirkt hat. Und er beschwichtigt, mit einem Appell: Kommunikation, auch wenn sie anstrengend ist. Aber zur funktionierenden Demokratie gehören immer zwei.

MDR AKTUELL: Dass wir Menschen uns mit Gleichgesinnten umgeben, das ist nichts Neues. Aber ab wann wird das gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Holger Lengfeld: Sie haben völlig Recht: Menschen mit ähnlichen Merkmalen neigen auch dazu, sich wechselseitig zu unterstützen. Man nennt das in der Terminologie der Sozialwissenschaft "Bonding", im Sinne von Bonds, also Bindungen. Das Phänomen kennt man ja auch schon aus der Pubertät. Jugendliche mit ähnlichen Merkmalen finden zusammen. Da hat das allerdings einen besonderen Aspekt, nämlich den der Identitätsfindung. Jede Form von wechselseitiger Unterstützung, von Solidarität, setzt dieses Bonding voraus. Starkes Bonding birgt aber das Risiko, dass man weniger Austausch mit Personen hat, die anders sind als man selbst, dass man weniger Einblick in deren Lebensrealität hat, in deren Sichtweisen auf die Gesellschaft, in deren Probleme. Und damit geht eine ganze Reihe von Folgeproblemen einher: Etwa mangelnder Respekt für bestimmte Personen oder Gruppen oder Lebenslagen. Die fehlende Bereitschaft, zum Beispiel in der Demokratie, die Andersartigkeit von Wertvorstellungen anderer Personen auszuhalten.

Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen treffen kaum noch aufeinander

Und wozu kann ein so starkes "Bonding" letztlich führen?

Dazu, dass die Personen, die unterschiedlich sind und oder unterschiedliche Überzeugungen haben, kaum noch aufeinandertreffen und sich austauschen und ihre eigene Sichtweise immer weiter verstärken. Das birgt das Risiko der Polarisierung: Also einer Gesellschaft, in der die verschiedenen Gruppen Grenzen ziehen zu anderen, mit denen sie nichts zu tun haben wollen. Das können Eliten sein oder Asylbewerber. Oder die "Spinner in der Großstadt mit ihrer ganzen Wokeness" oder all diese "Zurückgebliebenen auf dem Lande". Solche Bewertungen können Folge von starkem Bonding und mangelndem "Bridging".  Das bezeichnet den Austausch zwischen Personen, die unterschiedliche Merkmale haben.

Zur Person: Holger Lengfeld ist Professor am Institut für Soziologie an der Universität Leipzig und leitet den Lehrstuhl Institutionen und sozialer Wandel. Einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt in der politischen Soziologie mit Fokus auf die Motive der Wahl rechtspopulistischer Parteien.

Im Rahmen Ihrer Umfrage haben Sie versucht herauszufinden, wie stark das Bonding von Personen mit tendenziell extremeren Einstellungen oder Merkmalen in der Gesellschaft ist. Welche Gruppen haben Sie befragt?

Wir stellen Gruppen mit folgenden Merkmale gegenüber: arm und reich, gering- und hochgebildet, Stadt versus Land, Personen, die sich der AfD nahe fühlen und Personen, die sich den Grünen nahe fühlen.

Eine gewisse Abgrenzung von anderen ist ja an sich nichts Neues.

Es gibt einen uralten Klassiker der Soziologie aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Georg Simmel, der eines erkannt hat: Als die Industrialisierung stattgefunden hat, differenzierte sich die Gesellschaft aus. Da waren plötzlich Personen, die bestimmte Berufe ausübten, die mit anderen Menschen gar nichts mehr zu tun hatten. Und Simmel hat schon erkannt, dass, wenn man verschiedenen sozialen Kreisen angehört und sich nicht nur in einem Kreis bewegt, dass man dann auch eher die Einsicht in die Lebenswirklichkeit der anderen Menschen hat.

Abwertung vor allem zwischen AfD- und Grünen-Sympatisanten

Welche Gruppen bleiben denn besonders gerne unter sich?

Gruppen mit stark entgegengesetzten politischen Einstellungen tendieren ganz klar zur Polarisierung. Und damit meine ich nicht nur, dass wir uns gern mit Menschen umgeben, die die gleichen politischen Überzeugungen haben. Das wäre ja per se kein Problem. Sondern dass mit dieser Art von Gruppierung eine Abwertung von Personen mit ganz anders gelagerten Einstellungen einhergeht. Wir haben in unserer Studie herausgefunden, dass vor allem eine Identifikation mit der Partei AfD auf der einen Seite und mit der Grünen auf der anderen Seite dazu führt, dass die jeweiligen Angehörigen dieser Gruppe die andere Seite abwerten.

Was kann man gegen diese Polarisierung tun?

Wir können ja mit unserem eigenen Mindsetting einen Weg finden, wie wir Personen, die anders sind als wir selber, nicht ausschließen, indem wir positiv mit ihnen umgehen. Indem wir Personen, die anders denken, nicht als Feinde betrachten oder ausgrenzen, sondern erst einmal als Gleiche zu akzeptieren und mit ihnen diskutieren.

Das ist der Idealfall – aber anstrengend. Wie bekomme ich Menschen denn dazu, ihre Komfortzone zu verlassen und sich auf Diskussionen einzulassen?

Das ist ja eher eine pädagogische Frage. Mir persönlich würde es schon reichen, wenn Menschen anerkennen, dass die bewusste Ausgrenzung von Andersdenkenden etwa über Demokratie, über Geflüchtete oder über den Klimawandel, dass diese Ausgrenzung auch für uns selbst langfristig von Nachteil sein kann. Ausgrenzung führt in der Regel dazu, dass die, die ausgegrenzt werden, ihre Meinung nur noch verstärken. Und wer überzeugte Demokratin und Demokrat ist, tut gut daran, diese Diskursbereitschaft, die Bereitschaft zur Diskussion und die Anerkennung der anderen Person bei Nichtanerkennung von deren Meinung wirklich auch im Herzen zu tragen.

"Wir haben keine durchweg gespaltene Gesellschaft"

Da gehören aber zwei dazu.

Ja, selbst wenn Sie diese Offenheit mitbringen, die oder der andere tut es aber nicht, funktioniert das ganze Spiel nicht. Und hier muss man auch, glaube ich, Enttäuschungsresistenz zeigen. Wir haben auch nicht den Eindruck, dass wir eine durchweg gespaltene Gesellschaft haben. Dinge verändern sich über die Zeit, und es führt nicht zwingend alles dazu, dass die Dinge immer schlechter werden.

Sie haben eben die Aufgaben überzeugter Demokrat:innen erwähnt. Im Bericht geht es auch ums Vertrauen in bzw. die Zufriedenheit mit der Demokratie. Welche Gruppen sind besonders zufrieden beziehungsweise unzufrieden mit der Demokratie?

Hier berühren wir einen Punkt, der durchaus auch Anlass zur Sorge gibt. Und den haben wir lange Zeit nicht auf dem Schirm gehabt: Populismus. Menschen, die populistisch denken, gehen davon aus: Es gibt ein ganz klar ausgeprägtes Oben und Unten, also das gemeine gute und ehrliche Volk auf der einen Seite und die korrupten, sich selbst bedienenden Eliten auf der anderen. Wer diese Sichtweise teilt, der will, dass das Volk selbst vielmehr an politischen Entscheidungen mitbestimmen soll und nicht die Eliten. Wer sich klar von den Eliten distanziert, ist oft ziemlich unzufrieden mit der Demokratie.

Welche Besonderheiten konnten Sie in diesem Punkt noch feststellen – vielleicht auch im Hinblick auf Ost und West?

Die Zufriedenheit mit der Demokratie ist in Ostdeutschland viel geringer als in Westdeutschland. Und wenn wir uns die spezifischen Gruppen anschauen, dann sind Anhänger der Grünen sehr viel zufriedener mit der Demokratie, während es Anhänger der AfD und der Linken nicht sind. Die politische Mitte trägt das politische Establishment und hat auch relativ viel Vertrauen in die Demokratie. Und wir sehen, dass Personen aus einem AfD-nahen Netzwerk auch deutlich wahrscheinlicher unzufrieden sind mit der Demokratie und den zentralen Institutionen des Staates, und dass sie der Regierung und oder dem Mediensystem nicht vertrauen.

MDR

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 08. November 2023 | 13:00 Uhr

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