Urteil Verfassungsgericht kippt Reform zur Wiederaufnahme von Strafverfahren

31. Oktober 2023, 21:21 Uhr

"Ne bis in idem", nicht zweimal in derselben Sache. Dem Rechtsgrundsatz zufolge kann nicht erneut angeklagt werden, wer für denselben Vorwurf freigesprochen wurde. In Deutschland wurde das Gesetz für schwere Taten geändert. Nun hat das höchste deutsche Gericht die Reform gekippt. Die Vorsitzende Richterin erklärte, dass das Urteil für die Anghörigen schmerzhaft sei. Jedoch gehe es um den Umgang mit einem grundlegenden rechtsstaatlichen Grundsatz.

Nur auf Basis neuer Beweise können freigesprochene Verdächtige nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht noch einmal für dieselbe Tat angeklagt werden. Die Ende 2021 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung sei verfassungswidrig und nichtig, entschied das höchste deutsche Gericht am Dienstag in Karlsruhe.

Die Entscheidung des Zweiten Senats fiel mit sechs gegen zwei Stimmen. In der Begründung heißt es, das Grundgesetz verbiete in Artikel 103 eine Doppelbestrafung, das umfasse auch eine zweite Strafverfolgung.

Der Fall Frederike von Möhlmann

Geklagt hatte ein Mann, der 1981 die Schülerin Frederike von Möhlmann in Niedersachsen vergewaltigt und erstochen haben soll und auf Basis neuer Beweise erneut angeklagt wurde. Die Tat konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden. 1983 war der Mann rechtskräftig freigesprochen worden.

Neue DNA-Gutachten reichen nicht aus

Erst später wurde die DNA-Analyse entwickelt. Nach einer DNA-Analyse und der Gesetzesänderung wurde der Mann im vergangenen Jahr erneut festgenommen und sollte vor Gericht gestellt werden. Deshalb wandte er sich an das Verfassungsgericht. Dieses erklärte die Neuregelung nun für nichtig. Das Wiederaufnahmeverfahren müsse nun beendet werden, sagte die Vorsitzende Richterin Doris König. Rechtskräftig Freigesprochene müssten darauf vertrauen dürfen, dass sie nicht noch einmal belangt würden. Es gelte weiter der Grundsatz "Ne bis in idem", nicht zweimal in derselben Sache. Der Prozess am Landgericht Verden wurde nun gestoppt. Der Mann kam bis auf Weiteres auf freien Fuß.

Vater kämpfte bis zu seinem Tod

Jahrelang hatte Frederikes Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition "Gerechtigkeit für Fredericke" ins Internet, die mehr als 180.000 Menschen unterschrieben. Der Mann starb im Juni 2022.

Reform der Strafprozessordnung

Die Reform ermöglichte es, Tatverdächtigen auf Basis neuer Erkenntnisse noch einmal den Prozess zu machen. Der Bundestag hatte die Änderung der Strafprozessordnung (Paragraf 362 Nummer 5) noch zu Zeiten der großen Koalition von Union und SPD beschlossen.

Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen – etwa im Falle eines Geständnisses. Seit der Gesetzesreform ging das auch, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen. Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen beschränkt, die nicht verjähren.

Verfassungsrichterin: Urteil für Angehörige schmerzhaft

Dem Senat sei bewusst, "dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist", sagte die Vorsitzende Richterin König. In dem Verfahren sei es aber nicht um den konkreten Fall gegangen, sondern um den Umgang mit dem grundlegenden rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand zweimal wegen derselben Sache vor Gericht gestellt werden kann.

König verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Die Aufnahme des Grundsatzes in das Grundgesetz habe der uferlosen Durchbrechnung des Prinzips der Rechtskraft entgegenwirken sollen. Davon seien gerade auch Freigesprochene betroffen gewesen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 31. Oktober 2023 | 11:08 Uhr

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