Suizide in Haft Kriminologe: "Die beste Suizidprävention ist, nicht so viele Menschen einzusperren"
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16. März 2024, 13:05 Uhr
Suizid ist weltweit die häufigste Todesursache in Gefängnissen. Etwa die Hälfte aller Todesfälle in Haft sind darauf zurückzuführen. In Deutschland haben von 2000 bis 2022 insgesamt 1.698 Inhaftierte Suizid begangen, davon waren es 101 Menschen in Sachsen. Im Jahr 2023 gab es – das erste Mal – keinen Suizid in einem sächsischen Gefängnis.
- Besonders hoch ist die Suizidgefahr für Gefangene in Untersuchungshaft. Hier ist die Unsicherheit, was passiert oder passieren könnte, am größten.
- Sucht, Trauer, Schuldgefühle, psychische Erkrankungen und Phasen von völliger Hoffnungslosigkeit führen zu Suizid. Die meisten Suizide finden im ersten Monat der Haft statt.
- Thomas Galli, ehemaliger Gefängnisdirektor der JVA Torgau, kritisiert den Strafvollzug: "Die beste Suizidprävention ist, nicht so viele Menschen einzusperren."
Sie haben suizidale Gedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge ist für Sie da. Sie können jederzeit kostenlos unter 0 800 111 0 111, 0 800 111 0 222 oder 0 800 116 123 anrufen oder im Chat schreiben.
Bundesweit haben sich von 2000 bis 2022 1.698 Menschen in Haft das Leben genommen, 101 Menschen davon in Sachsen, sagt Dr. Maja Meischner-Al-Mousawi MDR AKTUELL. Sie arbeitet und forscht beim Kriminologischen Dienst in Leipzig und ist die Leiterin der Bundesarbeitsgruppe für Suizidprävention im Justizvollzug.
Suizidrate in deutschen Gefängnissen
2022 lag die bundesweite Suizidrate bei 141,4 und damit weit über dem 20-Jahres-Durchschnitt von 102,2. Die Suizidrate beschreibt die Anzahl der Suizide pro rechnerische 100.000 Gefangene zum Stichtag 31. März.
Die geringste Anzahl an Suiziden in deutschen Geffängnissen gab es 2019 mit 43 Suiziden, die höchste Anzahl im Jahr 2000 mit 117 Suiziden. Die meisten Suizide ereignen sich bei den männlichen Inhaftierten (1.649 Suizide). Deutlich seltener suizidieren sich weibliche Inhaftierte (52).
Selbsttötung oft in U-Haft
Besonders hoch ist die Suizidgefahr für Gefangene in Untersuchungshaft. Die bundesweite Erhebung für die Jahre 2000 bis 2022 zeigt, dass sich etwa 50 Prozent der Menschen, die Suizid begingen, in U-Haft befanden. Die Ungewissheit und die Angst, wie es weitergeht, ist in dieser Zeit wohl mitunter am größten.
Und: Am häufigsten kommt es zu Suiziden kurz nach Antritt der Haft, im ersten Monat. Das hat mehrere Gründe: "Im Gefängnis potenzieren sich die Faktoren, die auch überall sonst zu einem Gefühl führen, das Leben sei nicht mehr lebenswert", erklärt Meischner-Al-Mousawi.
Sucht, Trauer, Schuldgefühle, psychische Erkrankungen und Phasen von völliger Hoffnungslosigkeit sind damit gemeint. Gefangene kommen dazu in eine Umgebung, in der sie keine Kontrolle darüber haben, wie ihr Tag abläuft, mit wem sie zusammen sind und sein müssen.
Ehemaliger JVA-Direktor sieht Haftlockerungen als Präventionsmittel
Thomas Galli ist Jurist, Kriminologe, ehemaliger Gefängnisdirektor der JVA Torgau und mittlerweile als Kritiker des Strafvollzugs bekannt. Er sagt: "Die beste Suizidprävention ist, nicht so viele Menschen einzusperren. Gerade die U-Haft wird oft als Druck-Kulisse aufgebaut."
Einer Fluchtgefahr könnte man zum Beispiel mit einer elektronischen Fußfessel begegnen, anstatt eine U-Haft anzuordnen. Das sei weitaus weniger traumatisch. Dann könnten die Betroffenen weiterhin bei ihrer Familie leben. Gerade der Kontakt zu Bezugspersonen und Freunden sei beim Thema Suizid entscheidend.
Auch Haftlockerungen könnten dazu beitragen, Suiziden vorzubeugen, sagt Galli. Hier zeichne sich allerdings seiner Meinung nach keine positive Entwicklung ab. Bei Lockerungen werde sogar eher restriktiv gehandelt.
Suizidrate im Gefängnis nicht mit "draußen" vergleichbar
Was häufig verglichen wird, ist die Suizidrate in der Bevölkerung und die Suizidrate in Gefängnissen. Der Anstieg der Häufigkeit im Gefängnis möge eindrücklich sein, aber vergleichen ließen sich diese Umfelder – Gefangenschaft und Freiheit – nicht, schreiben Maja Meischner-Al-Mousawi und ihre Kollegen vom Kriminologischen Dienst.
Etwa 60 Prozent der Gefangenen leiden unter mindestens einer psychischen Erkrankung und ungefähr jeder zweite Gefangene betreibt einen klinisch relevanten Suchtmittelkonsum – Faktoren, die Suizide begünstigen.
Meischner-Al-Mousawi erklärt, dabei müssten sie sich mit einer Situation arrangieren, die Angst mache, die eintönig und fremdbestimmt sei; sie seien mit einem erheblich einschneidenden Lebensereignis konfrontiert. Suizid-Präventionsarbeit müsse in dieser schwierigen Situation ansetzen, um erfolgreich zu sein.
Einschätzung der Suizidgefahr
Neben Psychiatrien sind Gefängnisse diejenigen Institutionen, die am häufigsten mit Suizid konfrontiert sind. Am Anfang jedes Haftantritts stehe deshalb ein Suizid-Screening-Verfahren für Gefangene auf dem Plan, sagt Marcus Meißner. Er ist seit drei Jahren Psychiater und seit diesem Jahr Leitender Arzt im Haftkrankenhaus der JVA Leipzig.
"Das Suizid-Screening wird mit einem Fragebogen und einem Gespräch in der jeweiligen Muttersprache durchgeführt. Die Suizidgefahr ist vor allem bei Süchtigen höher, auch das wird abgefragt", erklärt er. Wer bei diesem Screening auffällt, wird in Sachsen nicht in einen kargen, leeren, videoüberwachten Raum geführt (wie es auch vorkommen kann), sondern bekommt eine besondere Betreuung. Die Regel lautet: "Nicht alleine lassen!"
Der Psychologische Dienst im Gefängnis führt bei einer erhöhten Suizidgefahr weitere Gespräche mit dem Gefangenen, "um die Haft gestaltbar zu machen. Am Anfang gibt es viele Fragen, zum Beispiel 'Wer versorgt meinen Hund?' oder Mietangelegenheiten, Versorgung von Kindern und Angehörigen." Darunter seien oft Fälle für den Sozialdienst. Wenn solche Probleme gelöst werden könnten, sei das schon erleichternd, sagt Meißner.
Menschlicher Kontakt entscheidend
Ein Mensch brauche in solch einer Situation menschlichen Kontakt; denn auch ein Gefangener bleibe letztlich ein Mensch und sei nicht nur ein Gefangener. Eine Sitzwache könne in solch einer Situation eingesetzt werden, zur Bewachung, aber auch zum Reden, sagt Meischner-Al-Mousawi im Gespräch mit MDR AKTUELL.
Dr. Thomas Galli sagt dazu: "Das Kernproblem ist das Fehlen menschlicher Ansprechpartner. Selbst wenn man mehr Mitarbeiter, Sozialarbeiter und Psychologen vor Ort hat, bleiben sie Teile des Systems, das den Menschen einsperrt." Man dürfe nicht alle Kontaktmöglichkeiten nach draußen so stark begrenzen, wie es zum Beispiel in der Untersuchungshaft getan werde, sagt Galli.
Marcus Meißner betont dabei die Rolle von Seelsorgern im Gefängnis. Deren Schweigepflicht wiege vor Gericht nämlich schwerer als die von Ärzten und Therapeuten.
Suizidprävention in der Praxis
Hafträume, in denen sich suizidgefährdete Menschen aufhalten, ähneln in Sachsen den restlichen Hafträumen stark. Es gibt aber Unterschiede: Sie sind etwas größer und haben keine Gitter, damit keine Hilfsmittel zum Suizid daran befestigt werden können.
Ein Suizid passiere in einer einzelnen Haftanstalt aber eher selten, "einmal alle paar Jahre", betont Meischner-Al-Mousawi und fügt an: "Die Suizidraten in sächsischen Gefängnissen werden geringer. Seit 2010 hat sich die Suizidrate in Sachsen um ein Drittel reduziert."
Dennoch werde Suizid im Gefängnis, aufgrund der besonderen Umstände, persönlichen Krisen und Gründe für die Verurteilungen der Gefangenen, immer präsent bleiben, sind sich Meischner-Al-Mousawi und Meißner einig.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Deshalb müsse regelmäßig im Justizalltag diskutiert werden – es müsse über vergangene Fälle gesprochen und Personal immer wieder intensiv geschult werden, egal an welcher Position es im Strafvollzug arbeite.
Mitunter am wichtigsten für die Prävention in Haft seien Gespräche. Das Angebot durch die Psychologinnen und Psychologen im Leipziger Gefängnis werde gut angenommen, sagt Marcus Meißner. Es sei jedoch häufiger geworden, dass psychisch Erkrankte ins Gefängnis müssten.
Er kritisiert, dass Menschen, die eher in einer Psychiatrie untergebracht werden müssten, ins Gefängnis kämen. Menschen fielen durch das System "draußen" hindurch und würden für Bagatelldelikte eingesperrt werden. Das Suizidrisiko dieser Menschen sei von Beginn an erhöht.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 10. März 2024 | 08:12 Uhr
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