Hintergrund Urteil: Kommt der Mindestlohn im Gefängnis?
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20. Juni 2023, 11:47 Uhr
Drei Jahrzente nach Grundsatzurteilen zur Arbeit im Strafvollzug und ihrer finanziellen Vergütung und fast sieben Jahre nach neuen Beschwerden gibt es jetzt ein neues Urteil des Bundesverfassungserichts dazu. Nicht nur viele arbeitende Gefangene und deren Gewerkschafter hoffen weiterhin auf eine Fortentwicklung – hin zum Mindestlohn.
- Worum es geht: 600 Prozent Lohnerhöhung?
- Wie führt "Zwangsarbeit" zur Resozialisierung?
- Strafgefangene gelten gar nicht als Arbeitnehmer
- Das Urteil dürfte alle Bundesländer betreffen
Das Bundesverfassungsgericht hat eine bereits länger und mit Spannung erwartete Entscheidung darüber verkündet, ob Arbeit in Haft aktuell noch angemessen bezahlt wird. Beschwert hatten sich zwei Strafgefangene aus Bayern (2 BvR 166/16) und Nordrhein-Westfalen (2 BvR 1683/17). Ein dritter aus Sachsen-Anhalt (2 BvR 914/17) hat seine Beschwerde zurückgezogen.
Ende April 2022 hatte das höchste deutsche Gericht an zwei Tagen über die Verfassungsbeschwerden auch mündlich verhandelt, wegen der Coronavirus-Pandemie und wegen des großen öffentlichen Interesses in der Gartenhalle des Kongresszentrums, am Festplatz in Karlsruhe.
Zwölf statt zwei Euro pro Stunde gefordert
Rund 60 Prozent der zuletzt fast 42.000 Strafgefangenen in deutschen Justizvollzugsanstalten arbeiten. Nach Angaben des Bundesverfassungsrichts liegen ihre Stundenlöhne zwischen 1,37 Euro und 2,30 Euro. Das seien elf bis 18,40 Euro am Tag, wobei aber nur wenige die höchste Stufe erreichten.
Eine damit mögliche monatliche Vergütung zwischen 200 und 300 Euro ist nicht einmal ein Zehntel dessen, was Arbeit im Durchschnitt "draußen" an Geld einbringt.
Der Deutsche Anwaltverein gab den mittleren Tagessatz mit 14,21 Euro im Westen und 13,61 Euro in Ostdeutschland an. Bei einem Acht-Stunden-Tag sind das 1,78 und 1,70 Euro je Stunde im Durchschnitt.
Der DAV sprach sich übrigens für höhere Vergütungen aus, nicht aber für den gesetzlichen Mindestlohn, wie die Kläger und deren Anwälte. Zur Findung der angemessenen Höhe schlug der Anwaltverein eine Kommission vor.
In Bundesländern mit Haft-Arbeitspflicht können sich Strafgefangene statt Geld aber meist auch freie Tage erarbeiten und eher entlassen werden. Doch auch in Ländern ohne Pflicht, in Sachsen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und im Saarland, können sie arbeiten – dann allerdings freiwillig.
In der Justizvollzugsanstalt in Bautzen taten dies 2018 laut Bericht der "Sächsischen Zeitung" fast 70 Prozent der Gefangenen – für 1,64 und 2,06 Euro die Stunde in der Tischlerei. Seither sind aber auch dem Strafvollzug in Sachsen noch keine höheren Sätze vom Land verordnet worden.
"Zwangsarbeit" zur Resozialisierung?
Das Thema ist insgesamt für das höchste deutsche Gericht kein neues. Zunächst hatte es 1988 erklärt, dass "Zwangsarbeit" in der Haft zulässig sei, aber betont, dass sie nach Entstehung und Ziel von Artikel 12 Grundgesetz nicht zur Herabwürdigung führen darf, wie etwa in totalitären Staaten.
Zwangsarbeit ist (nur) bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Zehn Jahre später hieß es dann, Haft-Arbeit dürfe nur als ein Mittel der Resozialisierung verpflichtend sein, und sie wirke nur bei "angemessener Anerkennung" mit einem deutlichen Vorteil auch für die Gefangenen. Damals gab es nach Bundesrecht fünf Prozent des Durchschnittslohns "draußen" und eine Erhöhung auf neun hielt das Gericht 2002 für eben "noch vertretbar".
Seit September 2006 sind jedoch die Länder für den Strafvollzug zuständig und damit auch für Arbeitspflichten und Vergütungen. Geändert hat sich an denen seither kaum etwas – obwohl Karlsruhe Ende 2015 noch einmal klar gemacht hatte, dass auch sie "wichtig für die Resozialisierung" seien.
"Sozialabgabenfreie Reserve-Armee"
Dass diesem Hinweis nun etwas Zählbares folgt, hoffte auch Manuel Matzke von der Gefangenen-Gewerkschaft - Bundesweite Organisation (GGBO): "Wir hoffen auf ein Urteil, das wegweisend ist", sagte er bei MDR AKTUELL, dass die Länder angehalten werden, ihre Vergütungsverordnungen zu überarbeiten.
"Wir sprechen uns ganz klar dafür aus, dass Gefangene, die arbeiten, einbezogen werden sollen in den gesetzlichen Mindestlohn", sagte Matzke, "weil die arbeiten klar für externe Dienstleister." Wenn dabei vermittelt werde, "dass sich ehrliche Arbeit auszahlt", hätte das "wirklich Resozialisierungscharakter".
So aber sei das "einfach eine Ausbeutung", kritisierte der GGBO-Sprecher, die einer "sozialabgabenfreien Reserve-Armee" für die Wirtschaft mit Hilfe der Justiz. Deren Anerkennung und Wertschätzung aber "funktioniert in erster Linie mit einer angemessenen Vergütung".
In der mündlichen Verhandlung hatte der Anwalt des Klägers, der in der bayerischen JVA Straubing eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt und nicht persönlich teilnehmen durfte, auf 34.000 Euro Gerichtskosten hingewiesen, die sein Mandant in der Haft so nie abzahlen könne. Dass schlecht bezahlte Arbeit einer Resozialisierung zuwider laufe, wenn der Weg aus der Haft direkt in Insolvenz führt, hatten auch Sozialarbeiter in den Anhörungen betont.
Laut Matzke fließt von einigen Unternehmen ja nun durchaus schon Mindestlohn für die Arbeit von Häftlingen – an die Haftanstalten. Bei den Leuten komme aber oft nur ein "Hungerlohn" von etwa 1,50 Euro an.
Welche Höhe ist angemessen?
Beobachtern zufolge sind aber radikale Änderungen und Mindestlohn im Gefängnis unwahrscheinlich. Gleichwohl wird eine "Fortentwicklung der Rechtsprechung" erwartet, die auch höhere Vergütungen bringen könnte. Dafür sind auch JVA-Leitungen, der DBH-Fachverband für Soziale Arbeit und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S).
Auch letzte äußerte sich zwar unsicher, welche Spielräume es für höhere Vergütungen gäbe. Dafür müsse man Kalkulation und Daten kennen, die nicht verfügbar seien. Sichtbar sind für die BAG-S aber "Folgen der unzureichenden Arbeitsentlohnung" in den Strafanstalten. Sie nannte da erhebliche finanzielle Probleme: "Überschuldung, Wohnungslosigkeit und Rückfall".
Strafgefangene sind keine Arbeitnehmer
Trotzdem verteidigten Vertreter der beklagten Länder die geringe Bezahlung, denn Gefangenenarbeit sei "nicht wirtschaftlich". Damit ist nicht nur gemeint, dass sie sich für Anstalten oder Unternehmen nicht rechnen würde. Sie wird vielmehr gar nicht als eine reguläre Erwerbsarbeit bewertet – weshalb auch ihre Bezahlung nicht mit üblichen Arbeitseinkommen vergleichbar sei.
Tatsächlich gelten arbeitende Gefangene auch sozialrechtlich nicht als Arbeitnehmer. Die ihnen in vielen Anstalts- oder Unternehmer-Betrieben zugewiesene Arbeit in der Haft soll demnach nur so der Resozialisierung dienen.
Im April 2022 hatte Mario Pinkert, als Vorsitzender der Gewerkschaft Strafvollzug in Sachsen-Anhalt, bei MDR AKTUELL das so beschrieben: Arbeit beuge dem "Gefängnisskoller" vor und fördere soziale wie berufliche Kompetenzen, die augefrischt oder erworben werden könnten.
Der Vertreter des bayerischen Justizministeriums in dem Verfahren, Marc Meyer, sah Spielraum für eine Angleichung an Löhne außerhalb der Haft aber auch deshalb nicht, weil die Produktivität nicht vergleichbar sei. Die Arbeit der Gefangen sei "alles andere als wirtschaftlich", sagte der Ministerialrat.
Gewerkschafter Manuel Matzke hielt bei MDR AKTUELL nun dagegen, dass etwa BMW in Straubing seit Jahrzehnten Spezialwerkzeuge für alle seine Auto-Werkstätten fertigen lasse. So unwirtschaftlich könne das also nicht sein.
Auswirkungen auf fast alle Bundesländer
Ob und was sich an der Gefangenenvergütung in Bayern ändern muss, wurde nun entschieden. Doch auch in Sachsen, ohne eine Arbeitspflicht, wird die Höhe der Vergütungen reguliert und vermutlich betroffen sein. Das träfe dann auch Unternehmen oder Abnehmer von Produkten der JVA-Werkstätten – unklar ist aber wie stark, da etwa Verträge der Anstalten mit Unternehmen und deren tatsächliche Kosten (siehe oben) kaum bekannt sind.
Der gesetzliche Mindestlohn könnte etwa Hamburg einen zusätzlichen zweistelligen Millionenbetrag im Jahr kosten. Im "Hamburger Abendblatt" hieß es wohl auch deshalb vom Justizsenat: "Bei der Gefangenenvergütung handelt es sich nicht um einen Arbeitslohn im klassischen Sinn", die Arbeit habe eher "behandlerische und tagesstrukturierende Funktion". Auch würden Gefangene "von uns untergebracht und verpflegt", was viel Geld koste.
Caroline Ströttchen aus dem NRW-Justizministerium nannte im Verfahren einen Betrag von knapp 170 Euro pro Haftplatz am Tag, woran Gefangene sich nicht beteiligen müssten, sie bekämen "alles zur Verfügung". Leitmotiv der Arbeit in Haft sei allein die Wiedereingliederung nach einer Entlassung, wobei die Höhe der Entlohnung aber nur untergeordnete Bedeutung habe.
Nach all diesen Argumenten hatte sich das Gericht nun vor allem die Resozialisierungskonzepte von Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt angesehen, aber auch Aspekte wie eben Produktivität, Konkurrenzen, das Angebot an Arbeitsplätzen für Gefangene, Kosten, die auch sie haben, ihre Verschuldung, und – nicht zuletzt wohl – ihre soziale Absicherung.
Quelle: MDR AKTUELL
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 20. Juni 2023 | 12:00 Uhr
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