Dr. Ralph Ghadban - Islamwissenschaftler und Publizist 5 min
Das Interview in voller Länge: Bei dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt starben vor einer Woche fünf Menschen, über 200 weitere wurden verletzt. Bildrechte: IMAGO / Funke Foto Services
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Magdeburg: Islamwissenschaftler Ralph Ghadban im Gespräch

MDR AKTUELL Fr 27.12.2024 08:47Uhr 05:29 min

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Anschlag in Magdeburg Islamforscher: Nicht der Fehler einer Person, sondern eines ganzen Systems

27. Dezember 2024, 14:05 Uhr

Nach dem Attentat in Magdeburg mit fünf Toten und mehr als 200 Verletzten bleiben viele Fragen offen. Der Islamforscher Ralph Ghadban sieht nun das System zur Bekämpfung des Radikalismus in Deutschland in Frage gestellt. Zahlreiche Behörden hätten versagt. Der mutmaßliche Attentäter Taleb A. sei mit dem liberalen Umgang des Westens mit dem Islam nicht klargekommen, so Ghadban.

MDR AKTUELL: Der Täter, der ursprünglich aus Saudi-Arabien stammt, ist radikaler Gegner des Islam, zeigte sich jüngst aber auch als Fan von Elon Musk und der AfD. Den Anschlag beging er aber, weil der Islam sein Lebensthema ist. Ist Ihnen so eine Persönlichkeit schon mal untergekommen?

Ralph Ghadban: Noch nicht. Aber für alles gibt es einen Anfang und wir haben hier eine neue Variante, aber die ist nicht besonders erstaunlich. Ich meine, wenn man seine Vita betrachtet und die Ereignisse, die geschehen sind, muss man drei Punkte erwähnen, die vielleicht seine Handlungen erklären können. Erstmal seine Geschichte. Er ist in zweierlei Weise ein Oppositioneller. Er ist ein Schiit aus Saudi-Arabien. Die Schiiten dort stehen schon immer ziemlich unter Druck. Mit der neuen Regierung unter Mohammed bin Salman ist der Druck weniger geworden. Aber die Grundhaltung hat sich nicht wesentlich geändert. Zweitens gibt es eine Opposition in Saudi Arabien, die sich im Austritt aus dem Islam manifestiert. Diese Strömung ist in Saudi Arabien, am Golf und in den islamischen Ländern ziemlich bedeutend, wird hier im Westen aber nicht erwähnt. Als er 2006 nach Deutschland kam, hat er sich sozusagen geoutet, dass er in dieser Richtung tätig war. Er wollte hier offen gegen Saudi-Arabien vorgehen.

Muss man sich jetzt also auch vor ehemaligen Moslems, also vor radikalen Atheisten fürchten?

Man muss sich vor allen Radikalen fürchten, egal aus welcher Ecke. Das ist die Lektion aus diesem Ereignis. Wir haben Rechtsradikale, wir haben aber auch Linksradikale. Das ist keine Neuheit, aber in diesem Fall bei ihm: Er ist nach Europa gekommen und dachte wahrscheinlich, dass Europa an seiner Seite steht und gegen den Islam ist. Und dann stellt er fest, dass Deutschland, Europa und der Westen im Allgemeinen ziemlich liberal sind und der Umgang mit dem Islam ein lockerer ist.

Zur Person: Ralph Ghadban Ralph Ghadban ist ein deutscher Islamwissenschaftler, Politologe und Publizist. Er arbeitet in der politischen Bildung und hält Vorträge zum Thema Islam und Migration. Seit über 30 Jahren ist er in der Migrationsforschung mit dem Schwerpunkt Islam in Europa tätig. Er hat mehrere Monographien, wissenschaftliche Aufsätze und Zeitungsartikel veröffentlicht.

Sie meinen also, dass es uns hier eigentlich egal ist. Was jemand glaubt, ist Privatsache?

Ja, aber mehr als das. Ich glaube, dass die Ankunft von über einer Million Muslimen auf einen Schlag die Situation in Deutschland verschärft hat. Wir wissen, dass die meisten terroristischen Attentate mit dieser Migration zu tun hatten. Wir leben in einer Demokratie und da gehören verschiedene Meinungen und Kritik dazu. Diese Dimension, und da kommen wir zu dem Punkt der Herkunft, ist ihm unbekannt und er ist mit der Sache falsch umgegangen. Er hat sich reingesteigert und gedacht, die Regierung betreibt eine Politik zugunsten des Islam. Er ist nicht der Einzige. Das ist auch die Haltung der AfD. Aber das Hauptproblem ist sein Unverständnis der Demokratie.

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Was können wir als Gesellschaft tun? Ist das Motto einfach nur "Augen auf gegenüber jeglichen Radikalen" oder gibt es auch ein Rezept dagegen?

Da kommen wir zu der Bekämpfung des Radikalismus. Es gab ausreichend Alarmzeichen, die nicht wahrgenommen worden sind. Es wundert einen, dass er überhaupt als Psychiater arbeiten durfte. Bei der kleinsten Auffälligkeit muss man ihn eigentlich schon ausschließen. Gerade Psychiater tragen Verantwortung und seine Persönlichkeit scheint ziemlich instabil gewesen zu sein. Das wurde nicht beachtet. Viele Behörden haben versagt. Es ist nicht der Fehler von einer Person, sondern eines ganzes Systems. Unser System zur Bekämpfung des Radikalismus in Deutschland wird in Frage gestellt.

MDR (mbe)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 27. Dezember 2024 | 08:47 Uhr

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