Eine einzelen Person sitzt in einer Kirche.
Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Bildrechte: IMAGO / epd

Kirchenaustritte Religionssoziologe: Kirchen müssen weg vom Gottesdienst als Kerngeschäft

24. Dezember 2023, 07:18 Uhr

Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Mehr als die Hälfte der Deutschen sind inzwischen keine Mitglieder einer Kirche mehr. Das ist das Ergebnis einer großen konfessionsübergreifenden Befragung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es wird bereits von einem Kipppunkt gesprochen. Die Kirche müsse umdenken, sagt ein Religionssoziologe. Beispiele dafür gibt es.

Gottesdienst in der evangelischen Kirche Borna – mit Bläserensemble und rund 50 Besucherinnen und Besuchern ist der an diesem Adventssonntag gut besucht. Aber auch sonst steht Pfarrer Jochen Kinder hier nicht vor leeren Bänken. "Es waren ein paar mehr als sonst", sagt der Pfarrer. Der  Bläsergottesdienst sei was Besonderes. An einem normalen Sonntag kämen 30 bis 40 Menschen in die Kirche: "Das könnten mehr sein. Aber es ist auch eine gute und eine treue, stabile Gottesdienstgemeinde."

Weniger Gemeindemitglieder heißt auch weniger Mitarbeiter

Einmal im Monat etwa predigt Kinder hier, daneben ist er als Superintendent des Kirchenbezirks im ganzen Leipziger Land unterwegs. In den Kerngemeinden, den Kirchenchören und Kirchengruppen merke man da gar nicht so viel vom Mitgliederschwund, berichtet er: "Wo wir es merken, ist eben bei der Zahl der Gemeindeglieder." Dadurch gebe es auch weniger hauptamtliche Mitarbeitende. "Und das merken die Gemeinden, dass, wo vorher zwei Pfarrstellen waren, dann in einem größeren Gebiet nur noch eine ist. Oder dass eine kleine Kirchenmusikerstelle so nicht fortgeführt werden kann, weil die Zahl dieser Stellen eben an der Zahl der Gemeindeglieder hängt."

Banger Blick in die Niederlande

Jetzt, wo der Kipppunkt erreicht sei, gehe der besorgte Blick in die Niederlande, sagt Professor Gert Pickel, Religionssoziologe an der Universität Leipzig: "Da war's dann eben nicht so, dass das immer so schön regelmäßig ging, sondern auf einmal brach tatsächlich vieles in sich zusammen, und man ist jetzt eines der Länder mit den wenigsten Kirchenmitgliedern in Europa."

Digitale Angebote könnten eine sehr gute Möglichkeit sein, sagt Pickel, aber kein Ersatz für echte Treffen. Denn die größte Stärke der Kirchen seien die sozialen Beziehungen. Brächen diese Strukturen weg, wäre das ein Verlust für die Gesellschaft. "Weil dort Sozialvertrauen aufgebaut wird", sagt der Uni-Professor: "Das hat schon die letzte KMU, also die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gezeigt. Das zeigt die diesige auch wieder, dass das auch für Engagement natürlich ein guter Kulminationspunkt ist. Aber wenn es den eben nicht mehr gibt, dann hat man nicht mehr sehr viel. Gerade im ländlichen Raum."

Mitmachangebote – nicht nur klassischer Gottesdienst

Deshalb müsste die Kirche umdenken, sagt Pickel: Weg vom klassischen Gottesdienst als Kerngeschäft. Der locke die Menschen immer weniger an: "Sondern die kommen in irgendwelche Kreise, entweder singen, also im Chor oder quasi stricken oder eine Motorradfahrergruppe. Alles Mögliche kann man eigentlich an einer Kirche andocken, das im kirchlichen Raum ist, aber natürlich nicht mehr voll von irgendwelcher theologisch geprägten Religiosität."

Ein Mann lächelt in die Kamera. 8 min
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Immer mehr Menschen wenden sich von den Kirchen ab und zwar noch schneller als erwartet. Das ergab die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Dazu im Interview: Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel.

MDR KULTUR - Das Radio Do 16.11.2023 09:13Uhr 08:18 min

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Eine Gruppe, von der auch Superintendent Jochen Kinder spricht: Die, die nah an der Kirche sind, aber nicht dazugehören. Im Leipziger Land seien das gar nicht so wenige: "Da ziehen Leute in ein Dorf und sagen, wir wollen das mitgestalten, das Dorf und da steht auch eine Kirche, und da ist irgendwie wenig los. Wir wollen mehr machen. Und diese Menschen gut einzubinden, das versuchen wer eigentlich schon seit vielen Jahren."

Kinder erzählt vom Pfarrer, der Kochkurse gibt, von einem Projekt für Jugendliche, die in den Arbeitsmarkt starten wollen. Alles Räume, wo die Kirche Menschen erreichen könne. Außer sonntags um zehn. Da trifft man sich ganz klassisch zum Gottesdienst in Borna.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 24. Dezember 2023 | 07:09 Uhr

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