Verkleidete Menschen mit rot-weiß gestreiften Oberteilen feiern Karneval.
Nicht alle Faschingskostüme sind problematisch. Bildrechte: picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Interview mit Lars Distelhorst Sozialwissenschaftler: Kulturelle Aneignung ist Kulturdiebstahl

21. Februar 2023, 09:20 Uhr

Er ist wieder voll im Gange: Karneval oder Fasching. Egal wie man ihn nennt, meist geht er mit Stereotypen, Rassismen und kultureller Aneignung einher. Und jedes Jahr gibt es empörte Aufschreie von Karneval-Fans, die sich Blackfacing oder Pocahontas-Kostüme nicht "verbieten" lassen wollen. Politologe und Sozialwissenschaftler Lars Distelhorst erklärt, wieso die Karnevalssaison besonders problematisch ist.

Die Frage, welche Kostüme an Karneval diskriminierend sind und welche nicht, wird seit Jahren diskutiert. Auch in der vergangenen Zeit gab es immer wieder Fälle, die für Aufsehen gesorgt haben. In Sachsen, aber auch in Hessen, wo sich der Ministerpräsident Boris Rhein mit einer Karnevalsdelegation fotografieren ließ - darunter ein Mann mit schwarz angemaltem Gesicht. Ein Fall von sogenanntem Blackfacing. Damit beschäftigt sich auch die aktuelle Folge von MDR recap. Der Autor, Politologe und Sozialwissenschaftler Lars Distelhorst erklärt im Video und hier im ausführlichen Interview, wie weit die "Narrenfreiheit" gehen darf und ab wann sie problematisch wird.

Warum ist es problematisch, wenn ich mein Kind als "Indianer", "Eskimo" oder "Afrikaner" zum Kita-Fasching schicke?

Wenn wir unsere Kinder in Kostüme stecken, machen wir mehr, als unsere Kinder anzuziehen oder unseren Kindern eine lustige Zeit zu machen. Indem wir sie in Kostüme stecken, vermitteln wir unseren Kindern immer auch etwas darüber, wie die Welt funktioniert, wie man sich zu sich selbst verhält, wie man sich zu anderen Menschen verhält und wie gesellschaftliche Normen funktionieren. Und wenn ich mein Kind zum Beispiel in Kostümklassiker stecke, deren Namen ich jetzt nicht unbedingt wiederholen möchte, dann vermittle ich ihnen ein völlig unterkomplexes Geschichtsbild. Nach dem Motto, du kannst das von der Stange kaufen, aber über den Völkermord, den wir da mitkaufen, reden wir nicht. Es macht einfach Spaß, in diesen Klamotten herumzulaufen. Du kannst es auch jederzeit tun. Und wenn sich Leute darüber beschweren, brauchst du nicht darauf zu hören.

Ich glaube nicht, dass das etwas ist, was wir unseren Kindern vermitteln wollen. Niemand würde sein Kind als Alkoholabhängigen oder als Stripperin kostümieren. Und ebenso wenig, wie wir das tun, sollten wir unseren Kindern kolonialrassistische Klischees vermitteln. Denn in letzter Instanz führt das zu einem unterkomplexen Denken und wir geben unseren Kindern damit nicht unbedingt die besten Bildungschancen mit auf den Weg.

Wie definieren Sie kulturelle Aneignung?

Der Begriff der kulturellen Aneignung ist eigentlich ein Begriff, der falsch übersetzt ist. Deswegen wird er wahrscheinlich auch so häufig missverstanden. Er kommt vom englischen Cultural Appropriation. Und Appropriation im Englischen hat immer diesen Aspekt von widerrechtlicher Aneignung, Inbesitznahme und geht damit ganz stark in Richtung Diebstahl. Deswegen sollte man sich im Deutschen eigentlich einen anderen Begriff dafür überlegen. Man könnte zum Beispiel so etwas wie Kulturdiebstahl nehmen. Dann würden auch Leute, die den Begriff nie gehört haben, wesentlich besser verstehen, wo das Problem liegt.

In der Diskussion um kulturelle Aneignung gibt es einen Konsens darüber, dass drei Dinge kulturelle Aneignung beziehungsweise Kulturdiebstahl ausmachen. Erstens: Es gibt ein Machtungleichgewicht zwischen den beiden Kulturen, Regionen, Gemeinschaften oder was auch immer wir gerade verhandeln. Zweitens: Inhalte werden grob verzerrt beziehungsweise ins Lächerliche gezogen oder sogar völlig des Inhalts entleert. Und drittens: Ein großer Teil der betroffenen Menschen hat gesagt, dass sie mit dieser Form von Umgang mit ihrer Kultur oder ihren Wissensbeständen schlicht und einfach nicht einverstanden ist. Ein gutes Beispiel sind hier die immer wieder thematisierten Dreadlocks und die zahlreichen Stellungnahmen Schwarzer Menschen, die gesagt haben: Finger weg, das sind politische Frisuren. Und zwar nicht für Weiße.

Wo sehen Sie im Kontext von Fasching bzw. Karneval den Unterschied zwischen Rassismus und kultureller Aneignung?

Mit Blick auf Karneval glaube ich nicht, dass der Begriff der kulturellen Aneignung wahnsinnig weit trägt. Zum einen, da er wie gesagt, vor allem auf eine Fehlübersetzung zurückgeht. Wir müssten ja eher von kulturellem Diebstahl sprechen. Wenn wir von kultureller Aneignung sprechen, ist natürlich immer auch die Frage, wer davon profitiert. Ich glaube, das kann man mit Blick auf den Karneval nur sehr mangelhaft übertragen.

Wenn wir uns einen Karneval anschauen, dann sollten wir eher um Begriffe wie Respekt, Diskriminierung und Rassismus herum argumentieren.

Wenn wir uns einen Karneval anschauen, dann sollten wir eher um Begriffe wie Respekt, Diskriminierung und Rassismus herum argumentieren. Und man kann sich natürlich schon die Frage stellen: Warum ist jedem klar, dass man sich nicht als SS-Mann verkleidet, während man immer noch so etwas wie Blackfacing oder die herabsetzenden Karikaturen der Kleidung indigener Gemeinschaften sieht? Das eine ist eng mit der langen Rassismusgeschichte der USA verknüpft und das andere mit dem Völkermord an indigenen Menschen im Rahmen der Kolonisation. Sicherlich kann man diese Dinge nicht miteinander vergleichen, aber es zeigt, wie unterschiedlich die Sensibilisierung gegenüber verschiedenen Formen von Grenzen ausgeprägt ist.

Es ist natürlich nicht so, dass die Leute morgens aufwachen und sich vornehmen, dass sie jetzt irgendwem auf die Füße treten. Es geht bei den meisten Menschen wahrscheinlich auf eine mangelnde Sensibilisierung zurück. In dieser spiegelt sich ein großes Rassismus-Problem, das wir in Deutschland noch immer haben.

Kultur muss im Kapitalismus gut konsumierbar sein – was "exotisch" ist, zieht. Inwiefern sehen Sie Rassismus und Kapitalismus, bzw. kulturelle Aneignung und Kapitalismus, verzahnt?

Wenn man sich den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und kultureller Aneignung anschaut, so muss man historisch sagen, dass es den schon immer gegeben hat – Stichwort Kolonisation. Der Kapitalismus als, wie Marx mal gesagt hat, riesengroße Warenansammlung, hat natürlich ein zentrales Problem. Wir sitzen auf einem riesigen Warenberg und die Frage ist, wie wir den wieder loswerden? Da muss man den Leuten schlicht und einfach klarmachen, dass sie diese Waren brauchen. Wenn die Menschen auf diese Waren gelangweilt reagieren und sie nicht kaufen, dann liegen sie in den Regalen und es wird kein Profit erwirtschaftet. Das aber ist natürlich das Ziel, wenn Waren produziert werden.

Eine von vielen Verkaufsstrategien ist es, Waren mit Exotik aufzuladen und den Menschen damit einen Gebrauchswert zu versprechen. Aber auch, ihnen zu vermitteln, wenn du diese Ware kaufst, dann kannst du damit zum Beispiel zeigen, dass du ein interkulturell kompetenter Mensch bist, dass du über deinen eigenen Tellerrand hinausblickst oder dass du am Flair dieser Waren partizipieren kannst. Dein Leben wird dann interessanter. Wie wir sehen, funktioniert diese Strategie ziemlich gut.

Obwohl die Debatte nun schon einige Jahre alt ist und alljährlich auf die Problematik hingewiesen wird, verkleiden sich noch immer Menschen als "Indianer" oder "Afrikaner". In Online-Shops gibt es auch im Jahr 2023 noch Kostüme namens "kräftiger Flüchtling" oder den "Afrikaner" mit extra großem Penis. Warum verstehen so viele das Problem nicht?

Ich glaube, es hat vor allem mit zwei Faktoren zu tun. Die Menschen in einer Gesellschaft sind nicht besser als die Strukturen, in denen sie leben. Struktureller Rassismus durchzieht noch immer die deutsche Gesellschaft. Das zeigt jede Diskriminierungsstudie, egal ob zu Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt oder Bildungssektor. Hier spielt strukturelle Diskriminierung eine große Rolle. In den Schulen wird so etwas wie Kolonialgeschichte immer noch nicht wirklich in der Tiefe gelehrt, obwohl es sehr wichtig wäre.

In einem solchen öffentlichen Klima ist es natürlich so, dass sich viele Dinge, die bei genauerem Hinsehen vielleicht hochproblematisch sind, überhaupt nicht problematisch erscheinen, weil sie mehr oder weniger konform gehen mit dem, was leider Gottes immer noch die gesellschaftliche Norm ist. Dementsprechend groß ist natürlich dann die Verwunderung oder Empörung, wenn Leute, die glauben, dass sie sich innerhalb der Norm bewegen und das ja de facto auch tun, plötzlich mit der Frage konfrontiert werden, ob ihr Verhalten denn in Ordnung ist. Beziehungsweise wenn sie sich Kritik anhören müssen. Schließlich haben sie ja nichts gemacht, was von der Norm nicht gedeckt wäre. Ich denke, was wir viel stärker erkennen müssen, ist, dass die Norm, von der große Teile unserer Gesellschaft organisiert werden, in starker Weise von strukturellem Rassismus geprägt ist. Diese Norm ist an vielen Stellen auch von Pathologien durchzogen, von denen wir gut täten, sie zu überwinden. Das würde uns das Miteinander wesentlich erleichtern.

Transparenzhinweis: Nach Hinweis des Interviewpartners haben wir seine Antwort zum Unterschied zwischen Rassismus und kultureller Aneignung beim Karneval nach Veröffentlichung (17.02.2023) am 18.2.2023 geändert. 

MDR (cvt, nvm)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 16. Februar 2023 | 15:23 Uhr

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