Für ein besseres Leben in Deutschland brauchen Migranten vor allem Arbeit. Warum klappt das trotz Fachkräftemangel oft nicht? Und können Kommunen Integration wirklich schaffen? exactly ist in Chemnitz und Gera unterwegs.  29 min
Wie kann eine Integration von Geflüchteten gelingen? Auf den Montagsdemonstrationen zeigen viele Bürger ihren Unmut über die Zuwanderung. Aber viele Zugewanderte wollen arbeiten und scheitern an der Bürokratie. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wahl 2024 Warum scheitert Integration?

22. Mai 2024, 13:07 Uhr

Zum Thema Migration kocht die Stimmung an vielen Ecken Mitteldeutschlands hoch: Kommunen, die an der Unterbringung von Geflüchteten verzweifeln, Beratungsstellen, die Flüchtlinge in Arbeit bringen wollen, und das nicht können, bei den Geflüchteten selbst, die unter Fremdenfeindlichkeit leiden. Warum ist Deutschland nicht in der Lage, die Menschen, die hierher kommen, in den Arbeitsmarkt einzubinden, obwohl der Fachkräftemangel überall beklagt wird?

Im Superwahljahr 2024 ist Migration ein großes Reizthema. ​​Vorurteile haben sich in der Gesellschaft verfestigt. Die Realität ist: Wer hier Asyl beantragt, flieht in der Regel vor Krieg, Verfolgung oder Armut. Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei erhoffen sich in Deutschland ein besseres Leben. Dafür braucht es vor allem auch Arbeit.

Trotz des Fachkräftemangels kann es schwer sein, einen Job zu bekommen. Das erlebt auch Avraz. Er verschicke jeden Tag zwei, drei Bewerbungen. Und trotzdem wisse er, dass er eine Absage erhalte. "Aber ich versuche es trotzdem", erklärt er. Der Arbeitsmarkt ist nur ein Problem von vielen. Städte und Kommunen klagen seit Jahren, dass sie überlastet sind.

Ausländerfeindliche Stimmung auf Protesten

Auf den Montagsdemonstrationen lässt sich das Stimmungsbild eines Teils der Bevölkerung ablesen. In Gera treffen sich regelmäßig rund 300 Menschen am Montagabend zu Protesten. Die meisten wollen nicht mit Journalisten sprechen. Immer wieder fällt der Begriff "Lügenpresse".

Die Fahnen, die man sieht, können unter anderem der Reichsbürger- und der rechtsextremen Szene zugeordnet werden. Auch ausländerfeindliche Slogans sind zu lesen. Die Bundesregierung wird wegen ihrer Waffenlieferungen für die Ukraine und der Asylpolitik kritisiert. Über Lautsprecher ertönt Musik der rechtsextremen Rap-Gruppe NDS Records.

2030 soll es in Deutschland wegen des demografischen Wandels gut fünf Millionen unbesetzte Stellen geben. Eine mögliche Lösung ist Migration. Trotzdem hört man hier klar die Angst vor einer so genannten "Überfremdung" – Ein Kampfbegriff der rechtsextremen Szene.

In Deutschland haben 24,9 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Knapp die Hälfte davon hat keinen deutschen Pass. In den westdeutschen Bundesländern liegt der Migrationsanteil höher: Hier hat jede dritte Person einen Migrationshintergrund. In Ostdeutschland ist es nur jede Neunte. In Thüringen liegt der Migrationsanteil bei zehn Prozent, in Gera Stand März 2024 13,8 Prozent. Vor 2015 lag die Anzahl der Menschen mit Migrationshintergrund noch unter drei Prozent.

​​Diese Veränderung, ein höherer Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, scheint für viele ein Problem zu sein. Während die Demo läuft, sieht man am Straßenrand immer wieder nicht- weiße Menschen. Wie empfinden sie die Stimmung? Ein Mann sagt: "Die Leute sind rassistisch. Alle wollen Ausländer raus. Das ist nicht gut. Ich bin hier seit neun Jahren, ich arbeite, ich hab' Führerschein."

Die Leute sind rassistisch. Alle wollen Ausländer raus. Das ist nicht gut. Ich bin hier seit neun Jahren, ich arbeite, ich hab' Führerschein.

Mann mit Migrationshintergrund am Rande der Montagsdemonstration

Rechtsextremist Klar organisierte Protest vor Erstaufnahmeeinrichtung

Viele hier glauben nicht, dass Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, dem Arbeitsmarkt gut tun könnten – trotz Fachkräftemangels. Angemeldet hatte die Demonstration Christian Klar. Er ist ein bekannter Rechtsextremist mit engen Verbindungen zur Partei "Die Heimat", die aus der NPD entstanden ist. Klar hatte Anfang März mit gut 80 Personen gegen die Erstaufnahmeeinrichtung in Gera protestiert. Sie blockierten mehrere Tage die Einfahrt. Seit wenigen Monaten ist sie wieder belegt. Momentan leben dort etwa 170 Männer.

Ein Mann, der in der Erstaufnahmeeinrichtung lebt, ist aus Syrien und hat früher als Lkw-Fahrer gearbeitet. Auch in Deutschland will er diesen Job wieder ausüben. Auch ein anderer Syrer floh vor dem Assad-Regime. Er war Mechaniker und Maler. "Ich hab mehrmals gefragt, ob wir arbeiten können und uns integrieren können. Aber sie sagen: 'Wir wissen nicht, wann du hier raus kannst. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Du darfst nicht arbeiten'", erzählt er. Viele weitere Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung wollen arbeiten. Doch während eines Asylverfahrens ist das schwierig.

Wer in Deutschland Asyl beantragt, hat erstmal für mindestens drei Monate ein Arbeitsverbot. Danach kann eine Arbeitserlaubnis beantragt werden. Dafür müssen die zukünftige Arbeitsstelle und der Antragsteller selbst ein Formular über den bevorstehenden Job ausfüllen. Ob die Erlaubnis erteilt wird, entscheidet die Ausländerbehörde. Wer nach zwei Wochen keine Antwort erhält, kann eine Beratungsstelle um Hilfe bitten. Wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt und seinen Asylantrag nach dem 31. August 2015 gestellt hat, hat ein generelles Arbeitsverbot.

Web-Entwickler findet keine Anstellung

Avraz liefert Essen aus.
Der Syrer Avraz möchte gerne als Web-Entwickler arbeiten. Weil er keinen Job in der Branche findet, arbeitet er als Lieferfahrer. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wie schwer es sein kann, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu bekommen, erlebt Avraz jeden Tag in Leipzig. Der 33-Jährige ist eigentlich Web-Entwickler. Aktuell arbeitet er Vollzeit für ein asiatisches Restaurant als Lieferfahrer und erhält dort Mindestlohn. Wenn er auf den nächsten Auftrag wartet, schaut er auf dem Smartphone nach Stellenanzeigen. "Ich suche, was ich kann, zum Beispiel Frontend, HTML, CSS und Javascript. Und dann bewerbe ich mich. Dann steht da noch Sprachniveau B2 wird gebraucht. Okay, B2 habe ich schon bestanden. Und Englisch auch B2 Niveau", erzählt er.

Avraz hat seine Weiterbildung für Web-Entwickler in Leipzig absolviert und einen deutschen Abschluss. Der Berufseinstieg ist trotzdem schwer. Jeden Tag schicke er zwei, drei Bewerbungen ab. Meist komme nach einer Woche eine Absage. "Normalerweise lösche ich es immer, weil das mich traurig macht." Immer nur Absagen – und das, obwohl es Stand Ende 2023 in der IT-Branche 149.000 offene Stellen gibt. Er wolle weitermachen, bis er etwas anderes finde. "Ich habe keine andere Wahl. Ich will keine Leistung vom Jobcenter erhalten." Mit einem Freund könnte er sich aber auch vorstellen, sich selbstständig zu machen. Sie wollen Apps und Webseiten entwickeln.

Problem ist die Anerkennung der Berufsabschlüsse

Dass es in manchen Branchen ohne Migration gar nicht mehr geht, erlebt man in einem Seniorenheim in Chemnitz. Die Einrichtung ist voll ausgelastet. Ohne migrantische Mitarbeitende wäre die Pflege nicht möglich.

Ich bin Krankenschwester, aber hier arbeite ich als Pflegehilfskraft.

Eva, Krankenpflegerin aus Tschechien
Eva, gelernte Krankenschwester aus Tschechien
Die Tschechin Eva ist ausgebildete Krankenpflegerin. Da ihr Abschluss noch nicht anerkannt ist, kann sie momentan nur als Pflegehilfskraft arbeiten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Seniorenheim hat sogar eine Integrationsbeauftragte. Dort arbeiten Menschen aus 13 Nationen zusammen. Eva kommt aus Tschechien. Obwohl sie aus einem EU-Land kommt, hat sie Probleme in dem Beruf zu arbeiten, den sie eigentlich gelernt hat. "Ich bin Krankenschwester, aber hier arbeite ich als Pflegehilfskraft", erzählt sie. Sie brauche eine Anerkennung der Ausbildung – und dafür auch die B2-Prüfung in der deutschen Sprache.

Die Anerkennung von Berufsabschlüssen ist ein großes Problem für Menschen aus anderen Ländern. Oft ist ein gewisses Sprachniveau Voraussetzung für den Antrag. Dann müssen Zeugnisse über die Abschlüsse im Heimatland vorliegen. Die müssen oft nachgeschickt werden. In manchen Fällen gibt es keine Zeugnisse mehr, weil sie durch Krieg oder auf dem Fluchtweg zerstört wurden. Dazu kommen die Kosten – 100 bis 600 Euro. Bei der Finanzierung bietet ein Bundesprogramm einen Zuschuss.

Laut eines Berichts des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind im ersten Jahr nach Ankunft in Deutschland nur sieben Prozent der Geflüchteten in Arbeit. Nach sechs Jahren sind 54 Prozent erwerbstätig. Nach sieben Jahren 62 Prozent. Das liegt unter dem Bundesdurchschnitt von knapp 77 Prozent.

Dass in diesem Seniorenheim so viele internationale Fach- und Hilfskräfte arbeiten, hat einen einfachen Grund. "Ohne würde es nicht gehen", sagt der Leiter der Einrichtung, Andreas Knoth. Es brauche Menschen, das Mindset und eine Offenheit hätten. "Ohne diese Menschen kann auch ein Einrichtungsleiter alleine nichts tun. Der kann nur für die Rahmenbedingungen sorgen und dafür sorgen, dass es letztendlich zur Kultur wird", erklärt Knoth.

Behörden sind überfordert

Oberbürgermeister von Gera Julian Vonarb
Der Geraer Oberbürgermeister Julian Vonarb warnt, dass viele Kommunen mit der Versorgung der Geflüchteten überlastet sind. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Oberbürgermeister von Gera, Julian Vonarb, sieht in Gera nicht das Problem, die Geflüchteten unterzubringen, sondern sie auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. "Insgesamt haben wir 6.000 Arbeitssuchende in der Stadt und die Quote der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ist überproportional hoch", erklärt Vonarb. In der Regel fehle es immer an den Sprachqualifikationen. "Und da sind wir wieder bei den strukturellen Problemen: Systemüberforderung bei uns hier lokal."

Anfang 2024 waren rund 200 Kinder ohne Schulplatz, weil es an Lehrkräften mangelt. Vonarb sagt, die Behörden überfordere, dass die Ausländerquote innerhalb der letzten Jahre von 4,8 auf 13,8 Prozent gestiegen ist. "Das fängt an beim Jugendamt, beim Sozialamt, bei der Ausländerbehörde, beim Einwohnerservice. Das spiegelt sich dann auch in Kindergärten, Schulen und Integrationskursen wider. Also alles, was dazugehört Integration erfolgreich zu machen, da sind wir über der Belastungsgrenze angekommen", sagt Vonarb.

Diese Belastung wird sich auch in diesem Jahr kaum verringern: Eine Hochrechnung des Statista Research Departments geht für 2024 von weniger Asylantragstellern als im Vorjahr aus. Ihre Prognose liegt aber immer noch bei 284.000 neuen Anträgen bis Ende des Jahres.

Geraer Kita sieht Integration als Chance

Im Süden von Gera gibt es eine integrative Kita, die die hohe Belastung als Herausforderung sieht. Die Leiterin der Einrichtung ist Marion Jehnert-Quitera. Das Wegweisersystem aus Piktogrammen sei für Eltern hilfreich, die eben nicht gut Deutsch verstehen.

Die Kita hat einen Migrationsanteil von 60 Prozent. Seit 2015 musste sich die Einrichtung mit der hohen Anzahl Geflüchteter arrangieren. Zusätzlich flohen in den vergangenen Jahren gut 3.000 Ukrainer nach Gera. Darunter viele Kinder. Eine zusätzliche Aufgabe, die nicht als Überlastung wahrgenommen werde. Die Erziehenden hätten neue Wege finden müssen, um mit Kindern aus zehn Nationen zusammenzuarbeiten.

Geras Oberbürgermeister Vonarb kommt gebürtig aus Baden-Württemberger. Seit 2016 lebt er in Thüringen. Dass seit kurzem gut 170 Männer aus der Erstaufnahme in Suhl nach Gera ausgelagert wurden, sieht er kritisch. "Wir wurden nicht informiert. Wir wurden nicht gefragt. Ich hab' es aus der Presse quasi erfahren", erklärte Vonarb. Als es damals im Herbst losging, habe er gesagt: "Das könnt ihr nicht machen, weil unser System eh schon überlastet ist."

Wir wurden nicht informiert. Wir wurden nicht gefragt. Ich hab' es aus der Presse quasi erfahren.

Julian Vonarb, Oberbürgermeister von Gera

Die Einrichtung habe er besucht. Sie würde ohne Auffälligkeiten laufen. "Aber nichtsdestotrotz: Wir sind über unserer Belastungsgrenze. Das habe ich auch damals im Herbst sehr eindrücklich dem zuständigen oder der zuständigen Ministerin gesagt." Er wünscht sich mehr Geld vom Land, um Geflüchtete aufzunehmen und sie besser versorgen zu können. Und vor allem eine gleichmäßigere Verteilung in Thüringen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 22. Mai 2024 | 20:15 Uhr

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