Erinnerungskultur Wie sich unser Holocaust-Gedenken durch KI und TikTok wandelt
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27. Januar 2025, 12:55 Uhr
Die Erinnerungskultur lebt vom Engagement junger Menschen, betont Cornelia Habisch von der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen-Anhalt zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Dafür sieht sie gute Initiativen im Land. Beunruhigt ist sie aber von dem Nichtwissen, das eine aktuelle Studie offenbart. Deshalb plädiert Habisch für neue Wege. Mittels KI und TikTok verändert sich unser Gedenken bereits. Dass es über Betroffenheit hinausgehen muss, betont der Holocaust-Forscher Stefan Hördler.
- Für neue Wege in der Erinnerungskultur plädiert Cornelia Habisch, Vizechefin der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt.
- Social Media und KI-basierte Anwendungen verändern bereits unser Erinnern an den Holocaust, wie zwei Beispiele aus Leipzig zeigen.
- Der Historiker Stefan Hördler betont, dass Betroffenheit nicht reicht, um das "vermeintlich Unbegreifliche" des millionenfachen Mordes an den Juden zu erklären.
Das Vermächtnis der Zeitzeugen bewahren und in die Diskussion mit jungen Leuten einbringen, so könne Erinnerungskultur auch künftig gelingen. Das sagt Cornelia Habisch als Vizechefin der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen-Anhalt im Gespräch mit MDR KULTUR. Da das Erinnern an den Holocaust zunehmend ohne Zeitzeugen auskommen müsse, spielten filmische und digitale Mittel dabei eine immer größere Rolle.
Viel Engagement junger Leute in Sachsen-Anhalt
In Sachsen-Anhalt engagierten sich viele junge Erwachsene für das Thema, betont Habisch. Bereits seit zehn Jahren existiere das Projekt "Denken ohne Geländer", initiiert von Studierenden der Hochschule Magdeburg-Stendal. Dort fänden auch Zeitzeugen-Gesprächen und Diskussionen statt, die den Bogen in die Gegenwart schlagen und dabei die jüdische Perspektive mitdenken.
Eine wachsende Zahl Jugendlicher bemühe sich im schulischen Kontext um Stolperstein-Patenschaften und würdige so die Menschen, die im Holocaust umkamen. In Halle sei ein digitaler Stadtrundgang zum jüdischen Leben entstanden oder die Buchreihe "Das Tagebuch der Gefühle", in der junge Leute über ihre Besuche in KZ-Gedenkstätten berichteten. "Das alles haben junge Erwachsene entwickelt und nicht-staatliche Institutionen oder Großverbände", so Habisch.
Neue Studie zeigt Unkenntnis: "Luft nach oben"
Zugleich gebe es immer noch viel Unkenntnis, räumte Habisch mit Blick auf die jüngste Studie der Jewish Claims Conference ein. Laut der Untersuchung haben rund zehn Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren in Deutschland noch nie etwas über den Holocaust gehört. Da sei in der Bildungsarbeit also "Luft nach oben". "Es muss mehr Wege geben, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu erreichen", appelliert Habisch, auch mit Blick auf neue digitale und filmische Formate.
Junge Menschen via TikTok erreichen
Die Leipzigerin Susanne Siegert informiert junge Menschen über die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus und über den Holocaust – und holt sie dabei dort ab, wo sie sind: auf der Videoplattform TikTok und im Podcast. Sie ist dazu im Gespräch mit Holocaust-Überlebenden wie der 88-jährigen Renate Aris aus Chemnitz. Siegert geht auf Spurensuche zu den weniger bekannten Orten der NS-Verbrechen und motiviert so auch ihre Follower zu eigenen Recherchen. "Keine Erinnerungskultur" heißt ihr Kanal, weil sie findet, es geht um Gedenkarbeit, aber eben nicht nur an Gedenktagen.
Ihre Videos werden hunderttausendfach aufgerufen. Für Siegert sind jedoch nicht die Klickzahlen das Wichtigste, viel wertvoller ist ihr der Austausch, erklärt sie im Gespräch mit MDR KULTUR: "So viele Leute schreiben mir und bedanken sich, dass sie etwas Neues gelernt haben. Ich habe das Gefühl, dass da sehr viel Wissensdurst ist."
Dank KI mit Holocaust-Überlebenden sprechen
Einen innovativen Ansatz zur Wissensvermittlung bietet auch ein digitales Projekt der Deutschen Nationalbibliothek. Die Nutzer können dank einer KI-basierten Anwendung mit Zeitzeugen und Holocaust-Überlebenden interaktiv ins Gespräch kommen. So erfahren sie über die digitalen Klone immer noch aus erster Hand von der Verfolgung in der NS-Zeit bis hin zu Fragen des Alltags. Die Antworten werden aus zuvor geführten, ausführlichen Video-Interviews herausgefiltert.
Für das Projekt "Frag nach" wurden den beiden Holocaust-Überlebenden Kurt Salomon Maier und Inge Auerbacher, die heute in den USA leben, hunderte Fragen gestellt. Entwickelt wurde das Projekt vom Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Shoah Foundation.
NS-System noch längst "nicht ausgeforscht"
Gerade für junge Menschen sei beim Gedenken an den Holocaust eine Visualisierung wichtig, glaubt auch der Historiker Stefan Hördler. Zugleich gelte es, die Zeugnisse der Überlebenden, die zentral für die Aufarbeitung seien, mit dem heutigen historischen Wissen zu verschränken.
Betroffenheit allein reiche nicht aus, um das "vermeintlich Unbegreifliche", den millionenfachen Mord im Holocaust, erklärbar zu machen: "Es sind Menschen, die Menschen so etwas angetan haben", betont Hördler im Gespräch mit MDR KULTUR. Das KZ-System habe nicht nur dank der "Mordexperten" funktioniert, sondern in großer Arbeitsteiligkeit mit Zivilisten wie der Stenotypistin oder dem Gleisbauer einer Firma aus Cottbus im Lager von Auschwitz, kurz durch die "Zustimmungsdiktatur der breiten Masse".
Umso wichtiger sei es, Täterdenken und -handeln weiter zu erforschen. Zumal die meisten bildlichen Überlieferungen, darunter das Auschwitz-Album über eine Mordaktion an 325.000 Menschen im Sommer 1944, aus Täterhand stammten. Um die Tätersicht zu dekonstruieren, so Hördler, seien die Überlieferungen der Überlebenden und historisches Wissen essenziell und unverzichtbar. Nur so lasse sich klären, warum und vor allem wie das NS-System bis zum letzten Tag funktioniert habe. "Das betrifft am Ende alle Bereiche der deutschen Gesellschaft", konstatiert der Historiker.
Auskunft gibt der Historiker darüber in seinem achtteiligen Podcast "NS-Cliquen: Von Menschen und Mördern" und in der ARD-Doku "Karriere im KZ".
Gedenkstätte Buchenwald: Forschergeist mit Apps wecken
Rikola-Gunnar Lüttgenau, Sprecher der Gedenkstätte Buchenwald, findet, es sei dringend notwendig, mit den Werkzeugen zu arbeiten, "mit denen sich die Menschen die Welt erschließen." Und das hieße eben auch, digitale Werkzeuge wie etwa Apps anzubieten, um den Besuch der Gedenkstätte vorzubereiten und zu erleichtern, so Lüttgenau im Gespräch mit dem MDR.
Bei den jugendlichen Besucherinnen und Besuchern wolle man so am Smartphone bereits vor dem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Interesse an den persönlichen Geschichten wecken, die etwa mit den Exponaten der Gedenkstätte verbunden sind. "Wenn man eigene Fragen hat und eigene Antworten findet, dann ist ein Besuch auch nachhaltig, nicht wenn man nur etwas erzählt bekommt", so Lüttgenau. Statt eine vorgefertigte Erzählung vorgesetzt zu bekommen, könnten sich die Jugendlichen den Ort so selber erschließen.
Quelle: MDR KULTUR (Kristin Unverzagt, Thomas Bille, Ellen Schweda, Marcus Fitsch, Stefan Nölke)
Redaktionelle Bearbeitung: ks, op, bh
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. Januar 2025 | 07:40 Uhr