Digitale Erinnerungskultur Deutsche Nationalbibliothek: Wie KI hilft, mit Holocaust-Überlebenden zu reden
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29. November 2024, 17:02 Uhr
Das Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek hat in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Shoa Foundation ein interaktives Interview-Format entwickelte. Damit können Nutzerinnen und Nutzer zwei Zeitzeugen ganz persönliche Fragen stellen – über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten oder ihr Leben im Exil. Die passenden Antworten filtert eine KI aus 900 Videotracks, die im Rahmen ausführlicher Interviews entstanden sind. Am Donnerstag wurde das Format in Leipzig vorgestellt.
- Ein innovatives Projekt der Deutschen Nationalbibliothek soll ein interaktives Gespräch mit Zeitzeugen des Holocausts ermöglichen.
- Mithilfe künstlicher Intelligenz werden aus einer umfangreichen Datenbank passende Antworten auf die Fragen von Nutzern ausgewählt.
- Bei der Vorstellung in Leipzig stieß das Projekt auf ein positives Echo.
Etwa 50 Besucherinnen und Besucher sind am Donnerstag in die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig gekommen. Sie wollten das digitale Format kennenlernen, mit dem sie mit Zeitzeugen und Holocaust-Überlebenden interaktiv kommunizieren, ihnen ihre Fragen stellen können.
Haben Sie als Kind Hass gegenüber Deutschen empfunden?
KI filtert passende Antworten auf Fragen
"Wann haben Sie angefangen, über ihre Geschichte zu reden?", "Haben Sie als Kind Hass gegenüber Deutschen empfunden?", "Warum haben Sie deutsche Literatur studiert?" – das sind nur einige der Fragen, die die Gäste Kurt Salomon Maier und Inge Auerbacher stellten. Er ist 94 und sie 90 Jahre alt. Beide wurden von den Nazis deportiert und leben heute in den USA.
Um die Fragen des Publikums über Verfolgung und Exil zu beantworten, sind sie nicht extra nach Leipzig gekommen. Und obwohl sie lebensgroß auf riesigen Bildschirmen im Sessel sitzend zu sehen sind, handelt es sich nicht um eine Videoschalte, sondern um modernste digitale Technik.
Moderne Technik in Leipzig
Kurt Salomon Maier und Inge Auerbacher wurden über mehrere Tage im Rahmen des Projektes Frag nach interviewt. Sylvia Asmus, die Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek hat mit den beiden Zeitzeugen gesprochen. 900 Fragen haben sie ihr beantwortet.
Wir erzeugen nichts künstlich, sondern die Antworten sind genauso, wie Inge Auerbacher und Kurt Maier sie formuliert haben.
Aus diesem Stoff generiert eine KI nun die passenden Antworten auf die Fragen des Publikums, erklärt Sylvia Asmus: "Das Gute daran ist, es ist keine generative KI. Wir erzeugen also nichts künstlich, sondern die Antworten sind genauso, wie Inge Auerbacher und Kurt Maier sie formuliert haben."
Künstliche Intelligenz für Erinnerungskultur
Wenn man die digitale Datenbank etwa fragt, wann Kurt Salomon Maier begonnen habe, seine Lebensgeschichte öffentlich zu erzählen, berichtet er von einem Treffen ehemaliger jüdischer Einwohner in seiner Heimat Kippenheim im Jahr 1989, wo die Idee entstand. Auf die Frage, ob seine Eltern jemals wieder nach Deutschland zurückgekehrt seien, gibt die KI die Antwort von Maier aus: "Meine Mutter hat gesagt, sie geht nie mehr zurück."
Kurt Salomon Maier und Inge Auerbach kämpfen wie so viele gegen das Vergessen und das Verharmlosen des Völkermordes an den Juden im Zweiten Weltkrieg. "Sie haben Angst davor, was passiert, wenn sie als moralische Instanz, nicht mehr unter uns sind", erklärt Sylvia Asmus, die Leiterin des Exilarchivs. Deswegen haben die beiden Überlebenden die Interviews mitgemacht, die an mehreren Tagen in den USA stattfanden.
Publikum in Leipzig reagiert interessiert
Während der Vorführung dieser interaktiven Interviews, schauen die Gäste gespannt und interessiert zugleich. "Es hat mich tatsächlich beeindruckt, wie das auf mich wirkt. Es ist mir bewusst, dass es eine KI ist, aber trotzdem hat es für mich funktioniert", sagt Anja Kruse, Mitarbeiterin der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig. "Mir ging es auch so, ich habe auch etwas gefragt, dass ich mich vorgelehnt habe, den Augenkontakt gesucht habe, wohl wissend, dass ich eigentlich einen Bildschirm angucke", stimmt Anne Klammt zu, die am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung arbeitet.
Wir haben im Moment immer mehr Umfragen, die zeigen, dass die Zweifel daran, ob es den Holocaust gegeben hat, in welchem Ausmaß, immer breiteren Raum einnehmen, auch unter immer Jüngeren.
Jede Frage trainiert die KI, die die bestmögliche Antwort aus 900 Videos herausfiltert. Die Fragen müssen klar formuliert sein, damit das Ergebnis passt. Und falls einmal nicht, stört das wenig. Denn so ziemlich alles, was wir von Kurt Salomon Maier und Inge Auerbacher erfahren, ist wissenswert. Die persönlichen Erlebnisse verbunden mit historischen Fakten wirken emotional.
Zweifel an Holocaust wachsen unter jungen Menschen
"Wir haben im Moment immer mehr Umfragen, die zeigen, dass die Zweifel daran, ob es den Holocaust gegeben hat, in welchem Ausmaß, immer breiteren Raum einnehmen, auch unter immer Jüngeren", so Anne Klammt, die den digitalen Erlebnisraum befürwortet, der vor allem junge Menschen ansprechen könnte. "Wir müssen uns wirklich sagen, das, was wir bislang gemacht haben, hat anscheinend nicht gereicht oder funktioniert nicht mehr. Also müssen wir nach neuen Wegen gucken."
Wichtiger Baustein politischer Bildung in der Schule
Seit letztem Jahr läuft im Deutschen Exilarchiv in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt die Ausstellung zum Projekt Frag nach. Doch es gibt auch eine kostenfreie Onlineversion, die sich beispielsweise gut für den Schulunterricht eignet. Ob mit Tablet, PC oder via Beamer – ohne viel Aufwand können Kurt S. Maier und Inge Auerbacher im Klassenzimmer oder auch zu Hause interviewt werden. Lehrkräften werden kurze Schulung angeboten, um die interaktiven Interviews zu nutzen.
Redaktionelle Bearbeitung: tis
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 29. November 2024 | 07:10 Uhr