Deutscher Herzbericht Mehr tödliche Herzinfarkte im Osten als in Westdeutschland

03. Oktober 2023, 08:00 Uhr

Über 190.000 Menschen sind in Mitteldeutschland im Jahr 2021 laut aktuellem Herzbericht in Krankenhäuser eingeliefert worden, über 36.000 sind gestorben. Auffällig: Besonders viele tödliche Herzinfarkte gibt es im gesamten Osten. Über die unterschätzte Gefahr der Herz-Kreislauferkrankungen sowie die Gründe der vielen Herzinfarkte im Osten.

Christine* ist fitter als viele Menschen in ihrem Alter. Die 72-Jährige aus Erfurt wandert, fährt Fahrrad, liebt die Alpen. Die Natur ist ihr Zuhause, Bewegung ihr Element. Trotzdem rast ihr Herz eines Tages, beruhigt sich kaum wieder. "Ich hatte solche Beklemmungsgefühle, in der Nacht bekam ich schließlich Angst." Am nächsten Morgen geht sie sofort zum Arzt, der überweist sie ins Krankenhaus. Diagnose: Herzrhythmusstörungen.

Langzeit-EKG soll Aufschluss geben

Von einem Tag auf den anderen geht es Christine wie den mehr als 190.000 Menschen, die laut aktuellem Herzbericht im Jahr 2021 in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in Krankenhäuser eingewiesen worden sind. Im Krankenhaus überwachen die Ärzte das Herz und den Kreislauf von Christine. Mit einem Langzeit-EKG wollen sie herausfinden, warum ihr Herz aus dem Takt geraten ist. Zunächst sollen Medikamente helfen. Doch nach Hause lassen die Ärzte sie nicht.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen häufigste Todesursache

Insgesamt sind in Deutschland im Jahr 2021 über 1,5 Millionen Menschen wegen einer Herzkrankheit im Krankenhaus gelandet. Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren in Deutschland 2021 (wie schon in den Jahren zuvor) die häufigste Todesursache, noch vor den Covid19-Infektionen. "Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren 2021 als Todesursache Nummer eins mit über 340.000 Sterbefällen für 33 Prozent aller Todesfälle in Deutschland verantwortlich", sagt Thomas Voigtländer, Vorstand der Deutschen Herzstiftung. Zum Vergleich: Rund 71.300 Menschen starben bundesweit im selben Jahr im Zusammenhang mit dem Covid19-Virus.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren 2021 als Todesursache Nummer eins mit über 340.000 Sterbefällen für 33 Prozent aller Todesfälle in Deutschland verantwortlich.

Professor Thomas Voigtländer Vorstand der Deutschen Herzstiftung

Ein Mann mit einem Defibrillator in Händen
Über 36.200 Menschen sind in Mitteldeutschland durch eine Herzkrankheit im Jahr 2021 laut Herzbericht gestorben. Bildrechte: Colourbox.de

Kardioversion soll Herzrhythmus wiederherstellen

Im Erfurter Krankenhaus versuchen die Mediziner mit der Kardioversion dem Herz von Christine den richtigen Rhythmus vorzugeben. Dabei soll ein elektrischer Schock helfen. Nicht so stark wie beim Defibrillator, doch stark genug, um das holpernde Herz wieder in den richtigen Sinusrhythmus zu bringen, wie die Ärzte den Takt des Herzens nennen. "Das gelingt zunächst, doch am nächsten Tag fiel ich in die Rhythmusstörungen zurück", erinnert sich Christine." Die Ärzte hätten sie beruhigt. Manchmal brauche es Zeit, wieder im richtigen Takt zu landen.

Hohe Dunkelziffer bei Rhythmusstörungen

Herzrhythmusstörungen sind eine schwierige Angelegenheit. Laut Herzbericht leiden in Deutschland allein an der häufigsten anhaltenden Rhythmusstörung Vorhofflimmern über 1,6 Millionen Menschen. Rund 20 bis 30 Prozent der ischämischen Schlaganfälle (durch Verstopfung eines Blutgefäßes) gingen auf Vorhofflimmern zurück.

Herzrhythmusstörungen, die durch eine Störung der normalen elektrischen Erregung des Herzens ausgelöst werden, seien hingegen viel schwieriger zu erfassen, es gebe eine hohe Dunkelziffer bei der Sterbequote. In Thüringen (12.628), Sachsen (20.398) und Sachsen-Anhalt (14.109) starben nachweislich an Rhythmusstörungen über 47.000 Menschen. "Diese Zahlen sprechen klar für den enormen Bedarf an Aufklärung und Information für Menschen mit Rhythmusstörungen", erklärt Voigtländer von der Herzstiftung.

Die häufigsten Herz-Kreislauf-Erkrankungen Koronare Herzkrankheit (Arteriosklerose)
Herzinfarkt
Herzschwäche (Herzinsuffizienz)
Herzklappen-Erkrankung
Vorhofflimmern / Herzrhythmusstörungen
Entzündliche Herzerkrankungen
Angeborene Herzfehler

Viel mehr Herzinfarkte in ganz Ostdeutschland

Gravierender werden die Zahlen bei der Diagnose der Koronaren Herzkrankheit (KHK), zu der auch der Herzinfarkt zählt. Insgesamt starben laut Herzbericht in Deutschland über 121.000 Menschen an der Diagnose. Herzinfarkten erlagen über 45.000 Menschen. Besonders in allen sechs neuen Bundesländern waren die Sterberaten (Gestorbene pro 1.000 Einwohner) maßgeblich viel höher als in den westlichen Bundesländern. In Sachsen (3.291), Thüringen (1.803) und in Sachsen-Anhalt (1.884) starben allein knapp 7.000 Menschen allein am Herzinfarkt. In allen drei Bundesländern liegt die Sterblichkeit über 60 pro 100.000 Einwohner.

Ältere Menschen und höhere Risikofaktoren

Doch warum ist das so? Warum haben so viel mehr Menschen im Osten einen Herzinfarkt? "Ein Einfluss sozioökonomischer Faktoren, ein Anteil an der Umschichtung der Bevölkerungszusammensetzung sowie ein unterschiedliches Risikoprofil kommen in Betracht", heißt es im Herzbericht. De facto: Die Menschen sind hier älter, Faktoren wie Einkommen, Bildung und gesundheitliche Aufklärung spielen eine Rolle und Risikofaktoren sind im Osten höher.

Das erklärt auch der Sprecher des Lausitzer Seenland-Klinikums in Hoyerswerda, Gernoth Schweizer: "In Ostdeutschland sind die Risikofaktoren höher als in den Altbundesländern. Dementsprechend ist auch die Häufigkeit von Herzinfarkt und Herzinsuffizienz bei uns höher." Zudem seien Herz-Kreis-Lauf-Erkrankungen an die Demographie gekoppelt und im Osten gebe es eben viel mehr Menschen über 65 Jahre.

Was sind Risikofaktoren?

Doch was sind Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen? "Wenig Bewegung, ungesunde Ernährung, regelmäßiger Alkoholkonsum, Rauchen – all das kann zu einem hohen Blutdruck, hohen Blutfettwerten und Diabetes führen, welche Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen", sagt Stefanie Jellinghaus, Oberärztin und Kardiologin am Herzzentrum Dresden MDR SACHSEN.

Über eine Million Menschen mit zu hohem Blutdruck

Nach Angaben der Krankenkasse AOK Plus wurden allein bei den Versicherten der AOK in Sachsen und Thüringen im Jahr 2022 bei knapp 804.000 Menschen Bluthochdruck diagnostiziert. Eine Ursache neben dem Lebensstil der westlichen Industriegesellschaften wie wenig Bewegung, Alkoholkonsum und schlechte Ernährung sei laut Jellinghaus auch die alternde Gesellschaft. Die Oberärztin appelliert: "Es wird Zeit, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen mehr in das Bewusstsein rücken. Dabei geht es nicht darum Angst zu machen, sondern zu motivieren, einem hohen Blutdruck vorzubeugen."

Es wird Zeit, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen mehr in das Bewusstsein rücken. Dabei geht es nicht darum Angst zu machen, sondern zu motivieren, einem hohen Blutdruck vorzubeugen.

Priv.-Doz. Dr. med. habil. Stefanie Jellinghaus Oberärztin und Kardiologin am Herzzentrum Dresden

Herzerkrankungen und die Covid-Pandemie

Die Zahlen des Herzberichts von 2021 müssten jedoch immer im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gesehen werden, betonen die Experten. Operationen seien verschoben und die Betten freigehalten worden. Ohne die Pandemie wären die Einweisungen in Krankenhäuser sowie die Zahl der diagnostizierten Herzkrankheiten wahrscheinlich höher und eventuell die Sterberaten auch niedriger. Es könne noch immer zu "Aufholeffekten von therapeutischen Maßnahmen kommen". Zudem halten die Experten auch einen Anstieg der Erkrankungen als Folge einer Covid19-Infektion für möglich. "Hinzu kommen möglicherweise künftig kardiovaskuläre Erkrankungen als Folge einer COVID-19-Infektion selbst ("long COVID")", heißt es in dem Bericht.

Im Lausitz-Klinikum bemerken die Ärzte aktuell mehr Erkrankungen. "Die aktuellen Fallzahlen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind im Vergleich zum Vorjahr stationär bei uns um 13 Prozent gestiegen", erklärt Sprecher Schweitzer. In der Pandemie hätten sich viele Menschen aus Angst, sich im Krankenhaus zu infizieren, trotz ihrer Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht stationär behandeln lassen. Ursache dafür könnten die Nachwirkungen der Pandemie sein.

Sachsen-Anhalt zwölf Prozent über Bundesdurchschnitt

Große Unterschiede gab es bei den Einweisungen in Krankenhäuser in Mitteldeutschland. In Sachsen-Anhalt lag die Zahl der Krankenhauseinweisungen zwölf Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Schlechter waren nur Nordrhein-Westfalen (15 Prozent) sowie Mecklenburg-Vorpommern (17,6 Prozent). Thüringen kommt auf lediglich 3,3 Prozent, Sachsen liegt mit -18,1 sogar unter dem Bundesdurchschnitt. Schon zur Pandemie lag Sachsen-Anhalt am 2. Dezember 2021 laut Statista mit einer Hospitalisierungsrate (Krankenhauseinweisungen pro 100.000 Einwohner) von 10,73 bundesweit an zweiter Stelle. Spitzenreiter war Thüringen mit 20,52. Sachsen (5,25) lag auch damals unter dem Bundesdurchschnitt (5,47).

Sachsen-Anhalt animieren, den Lebensstil zu ändern

Für das Sozialministerium in Sachsen-Anhalt liegt auf der Hand, dass in Sachen Herz-Kreislauf-Erkrankungen dringend etwas passieren muss. "Eine maßgebliche Rolle spielt die Bevölkerungsstruktur Sachsen-Anhalts, deren Durchschnittsalter und damit deren Krankheitslast über dem Bundesdurchschnitt liegt", heißt es aus dem Ministerium. "Die Daten zeigen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für lebensstilbezogene Risikofaktoren, darunter körperliche Inaktivität, erhöhter Alkoholkonsum und Adipositas." Zudem sei der Anteil der Raucher sowie von Bluthochdruckpatienten und Diabetes höher.

Junk food
Ungesundes Essen zählt neben Zigaretten und Alkohol zu den größetn Risikofaktoren für Herzerkrankungen. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Mit Herzwoche zum gesunden Lebensstil animieren

Sachsen-Anhalt habe sich deswegen jetzt als Gesundheitsziel auf die Fahnen geschrieben, "die Risikofaktoren Koronarer Herzkrankheiten konsequent anzugehen". Mit einer "Herzwoche" und einer groß angelegten Präventionskampagne möchte man bewegen, einen ungesunden Lebensstil zu ändern. Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne: "Unser Ziel ist es, die Sachsen-Anhalterinnen und Sachsen-Anhalter mit den richtigen Informationen auszustatten, um einen Anstieg von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu stoppen und ihnen aufzuzeigen, wie sie selbst ihr bester Arzt sein können.“

Probleme nach weiterer Operation

Christine ist 72 Jahre. Doch Rauchen, Alkohol und Übergewicht – das alles trifft auf sie nicht zu. Trotzdem hat es sie erwischt. Die Ursachen seien vielfältig, viele Faktoren spielen ein, auch eine genetische Veranlagung könne eine Rolle spielen, erklärt die Dresdner Kardiologin Jellinghaus. Christine wird im März dieses Jahres aus dem Krankenhaus entlassen. Die Ärzte stellen ihr eine Ablation in Aussicht, bei den Muskelerregungen, welche den Herzrhythmus stören, verödet werden. Sie entscheidet sich dafür.

Doch sie hat Pech. Durch den Eingriff werden Vene und Arterie verletzt, es bildet sich ein Aneurysma. In einer weiteren OP werden die Löcher der Blutgefäße gestopft und das Aneurysma entfernt. "Im Moment elaboriere ich damit noch, aber mein Herz ist gefühlt in Ordnung", erklärt sie. "Doch das war auch schon gefühlt in Ordnung, als ich im Januar aus der Klinik entlassen wurde." Christine zweifelt: "Vielleicht hätte ich die Ablation sein lassen sollen. Dass meine Gesundheit jetzt im Eimer ist, belastet mich schon. Die volle Power habe ich nicht."

Problem der Abwägungen

Behandlungen in Krankenhäusern bringen schwierige Entscheidungen mit sich. Herz-Rhythmus-Störungen können lebensgefährlich sein, gleichzeitig gilt es vieles zu bedenken. "Patienten und Patientinnen können sich auch immer eine Zweitmeinung einholen", empfiehlt die Verbraucherzentrale. Diese bezahle die Krankenkasse und sei bei schwierigen medizinischen Entscheidungen immer zu empfehlen.

Ärztliche Visite
Wer sich bei medizinischen Entscheidungen nicht sicher ist, kann sich eine von den Kassen finanzierte Zweitmeinung einholen, empfiehlt die Verbraucherzentrale. Bildrechte: IMAGO / Rainer Weisflog

Hitze und Extremwetter: Fit für die nächste Krise

Herzstiftungschef Voigtländer sieht als große Aufgabe, trotz Krisen eine gute medizinische Versorgung zu gewährleisten. Mit Hitzewellen, Extremwetter und Fachkräftemangel käme es besonders für die Versorgung von Herz-Kreislauf-Patienten und einer Bevölkerung mit zunehmendem Anteil an über 65- und über 80-Jährigen zu steigenden Herausforderungen. "Es muss der Politik gelingen, besonders den vulnerablen Gruppen wie Kindern und schwer herzkranken Menschen auch in Krisenzeiten Zugang zur stationären Behandlung zu gewährleisten", erklärt Voigtländer.

* Name von der Redaktion geändert.

MDR (kt)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Brisant | 29. September 2023 | 17:15 Uhr

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