Frage nach Schuldfähigkeit Menschen mit Fetalem Alkoholsyndrom: Oft straffällig aufgrund der Behinderung

14. März 2023, 13:52 Uhr

Menschen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) sind häufiger straffällig. Das Syndrom haben sie, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. Sollte das bei den Strafen berücksichtigt werden? Prof. Dr. Annemarie Jost, Sozialpsychiaterin von der Universität Cottbus, plädiert dafür und fordert mehr Aufklärung über FAS, Weiterbildungen für Richter und Behörden und passgenaue Einrichtungen für Straftäter mit dem Syndrom.

Pralles Vorstrafenregister beim 26-jährigen Kevin Müller

Kevin Müller (Name von der Redaktion geändert) hat 16 Einträge im Vorstrafenregister: Diebstahl, Betrug,  Schwarzfahren, aber auch räuberische Erpressung – wie der bewaffnete Überfall auf einen Schüler im Sommer 2016. Dafür saß der Chemnitzer acht Monate im Gefängnis. Kaum entlassen, stand Kevin Müller schon wieder vor Gericht: diesmal wegen Urkundenfälschung und 55-fachem Betrug.

Weil die Richterin merkte, dass der 26-Jährige extrem unsicher wirkte und Probleme hatte, dem Verfahren zu folgen, ließ sie ihn psychiatrisch begutachten. Es stellte sich heraus: Kevin Müller leidet unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), der häufigsten angeborenen geistigen Behinderung in Deutschland. Dabei handelt es sich  um eine unheilbare hirnorganische Schädigung, ausgelöst durch den mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft.

Expertin: Ein Prozent der Bevölkerung vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen

Manche Experten gehen davon aus, dass zwei bis vier Prozent der Bevölkerung das Fetale Alkoholsydrom haben. Prof. Dr. Annemarie Jost, Sozialpsychiaterin von der Universität Cottbus, setzt die Zahl allerdings etwas niedriger an: "Die Zahlen sind nicht ganz exakt, weil es so einen Graubereich von unerkannten, leichteren Störungen gibt. Aber ich schätze, dass so 0,8 bis ein Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Das wären bei 80 Millionen Menschen etwa 800.000 Menschen. Also eine riesige Zahl".  

60 Prozent der FAS-Betroffenen werden straffällig

Zu den Hauptsymptomen des FAS zählen Minderwuchs, kognitive Defizite bis zur geistigen Behinderung, Störungen des Sozialverhaltens, Impulskontrollstörungen, Empathie-Mangel oder Defizite in den exekutiven Funktionen, also der Fähigkeit, den Alltag durch Handeln, Planen und Problemlösen zu bewältigen. Selbst so einfache Tätigkeiten wie ein Einkauf oder eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln können so fast unlösbare Aufgaben für FAS-Betroffene werden, weil sie sich leicht verzetteln. "Ich brauche um Sachen zu verstehen, zwei, drei Anläufe länger wie normale Leute. Mein Betreuer muss vieles für mich erledigen, wie Behördengänge", sagt Kevin Müller.

Etwa 60 Prozent der FAS-Betroffenen kommen im Laufe ihres Lebens mit dem Gesetz in Konflikt. 30 bis 35 Prozent davon landen sogar ein- oder mehrmals im Gefängnis. Während weibliche FAS-Betroffene eher in die Prostitution abdriften, sind es in der Regel männliche FAS-Betroffene, die straffällig werden – meist wegen Bagatelldelikten wie Schwarzfahren oder Diebstahl; in sehr seltenen Fällen bleibt es jedoch nicht dabei und es kommt zu Kapitalverbrechen. 

Expertin: Justiz muss Behinderung bei Urteilen mehr berücksichtigen

Das Fetale Alkoholsyndrom ist selbst in Fachkreisen wenig bekannt. Erstmals Anfang der 1970er-Jahre in der medizinischen Literatur erwähnt, wird es bis heute oft nicht immer als komplexes neurologisch-psychiatrisches Behinderungsbild erkannt. "Bei Ärzten, bei Behörden und in der Justiz ist das Problem nicht so auf dem Schirm, wie man sich das wünschen würde", sagt Prof. Dr. Annemarie Jost.

Trotz der hohen Anfälligkeit für Bagatelldelikte werden FAS-Betroffene deshalb oft in der Justiz ungerecht behandelt. "Die Betroffenen haben große Lebensschwierigkeiten in bestimmten Bereichen. Und wenn man das nicht weiß, dann heißt es, sie sind unwillig oder faul oder arbeiten nicht mit oder sind im Beruf unpünktlich. Aber es ist von großer Bedeutung zu verstehen, dass sie bestimmte Beeinträchtigungen haben, so dass es ihnen um so vieles schwerer fällt, sich an die Regeln der Gesellschaft zu halten", sagt die Expertin.

Kevin Müller bekommt wegen FAS eine Bewährungsstrafe

Kevin Müller hatte Glück. Er hatte bei seinem Prozess eine versierte Gutachterin, erhielt eine Diagnose und wurde deshalb nicht noch einmal zu Gefängnis verurteilt. "Man kann doch einen Behinderten für dieselbe Straftat nicht genauso verurteilen wie einen Gesunden", sagt Richterin Anika Schypulla vom Landgericht Chemnitz. Sie hat eine Bewährungsstrafe verhängt – Kevin Müller sollte aus Chemnitz weg, weg von der Familie, weg von der Clique und in ein betreutes Wohnen in einer anderen Stadt ziehen. Alles in der Hoffnung, dass der junge Mann sein Leben noch auf die Reihe bekommt. Doch genau das ist bei FAS-Betroffenen das Problem.

Die Bewährungsauflagen konnte Kevin Müller nicht einhalten. Er ist danach wieder straffällig geworden. Wenn auch nur mit Bagatell-Delikten. "Ich möchte betonen, dass nicht alle FAS-Betroffenen straffällig werden, damit hier kein falsches Bild entsteht", sagt Prof. Dr. Annemarie Jost, die sich sehr dafür einsetzt, dass die Betroffenen, die ja selbst Opfer des Alkoholkonsums ihrer Mütter sind, nicht noch zusätzlich stigmatisiert werden.

Mehr Aufklärung in Familien und Weiterbildungen in Behörden gefordert

Trotzdem bleibt natürlich die Frage, wie man FAS-Betroffenen, aber auch der Gesellschaft, am besten gerecht wird, wenn Gefängnisstrafen ungerecht und Bewährungsauflagen nicht effektiv sind?  "Zum einen muss es natürlich Öffentlichkeitsarbeit, aber auch Weiterbildungen bei Richtern, Justizmitarbeitern, Polizei, Ärzten und Sozialpädagogen geben", sagt die Expertin. "Im Vordergrund muss aber erst einmal die Prävention bei Suchterkrankungen und in problematischen Familien stehen, damit es gar nicht erst so weit kommt", meint Prof. Dr. Annemarie Jost.

Aber wenn es dann doch passiert ist und die Menschen straffällig werden, plädiert die Sozialpsychiaterin für passgenaue Hilfen und Einrichtungen, die auf FAS-Betroffene und ihre besonderen Probleme zugeschnitten sind. "Bei etwa 800.000 FAS-Betroffenen kann man sich ausmalen, welche Anstrengung da zu stemmen wäre", räumt die Wissenschaftlerin ein. Doch dafür hat die Expertin eine praktikable Lösung: "Das geht über die Besteuerung von Alkoholika. Es könnte ein großer Teil bereit gestellt werden für die Folgen von Alkoholkonsum".

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MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Kripo live | 12. März 2023 | 19:50 Uhr

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