Krankenschwester Anica arbeitet am Südharzklinikums in Nordhausen.
"Wir kommen jeden Tag auf Arbeit, versorgen hier die Patienten, lassen unsere Kollegen nicht im Stich - und werden dafür jetzt mit einem Bußgeld bestraft", ärgert sich Krankenschwester Anica die in einer Klinik in Thüringen arbeitet. Das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht ist inzwischen ausgelaufen. Bildrechte: MDR exakt

Coronavirus Bilanz zur Impfpflicht im Gesundheitswesen: Wie die Umsetzung scheiterte

13. Januar 2023, 05:00 Uhr

Die Einführung der Impfpflicht im Gesundheitswesen war von Anfang an hoch umstritten. Sie sollte vor allem alte, schwache und kranke Menschen schützen. Pfleger, Ärzte und Sanitäter demonstrierten dagegen. Die Umsetzung war am Ende ein Stückwerk. So ist etwa in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen kein einziges Tätigkeitsverbot ausgesprochen worden. Deutschlandweit waren es über 1.000. Was hat das Hin und Her der nun ausgelaufenen Regelung für Folgen?

Die Impfpflicht im Gesundheitswesen war von Beginn an umstritten. Pflegekräfte, Sanitäter, Ärzte sollten sich impfen lassen. Ansonsten drohten teils erhebliche Sanktionen. Ende 2022 ist sie ausgelaufen. Geblieben ist nicht nur viel Frust. So sind zum Beispiel zwei Fachschwestern der Endoskopie-Abteilung des Südharz Klinikums in Nordhausen in Thüringen vom Gesundheitsamt des Kreises mit einem Bußgeld belegt worden. Anica und Manuela sollen jeweils mehrere Hundert Euro bezahlen - diese Forderung besteht bis heute.

"Dass Sie den Job gemacht haben, das ist das, was die Abteilung hier am Laufen gehalten hat", erklärt der Chefarzt des Klinikums, Professor Jens Büntzel. Er ist von der Impfung grundsätzlich überzeugt. "Es ist jetzt mit dem Betretungsverboten und sowas glücklich ausgegangen. Aber ist natürlich so richtig."

Letztendlich ist es nur ein Freikaufen. Ich bezahle jetzt das Bußgeld und kann danach weiterarbeiten gehen.

Krankenschwester Anica

Schwester Anica entgegnet ihrem Chef: "Ja, aber letztendlich ist es ja nur ein Freikaufen. Ich bezahle jetzt das Bußgeld und kann danach weiterarbeiten gehen." Doch deshalb ändere sich nichts an ihrem Impfstatus. "Wir kommen jeden Tag auf Arbeit, versorgen hier die Patienten, lassen unsere Kollegen nicht im Stich - und werden dafür jetzt mit einem Bußgeld bestraft!"

Die einrichtungsbezogene Impfpflicht war im Dezember 2021 beschlossen worden. Damals hatte die Delta-Variante des Virus Deutschland fest im Griff, auf einigen Intensivstationen war kein einziges Bett mehr frei und in den Pflegeheimen starben Hunderte alte Menschen einen einsamen Corona-Tod. Mit dem Gesetz konnten gegen Beschäftigte von Krankenhäusern, Altenheimen oder Pflegediensten, die sich nicht impfen lassen wollten, Bußgelder verhängt oder sogar Tätigkeitsverbote ausgesprochen werden.

Kein einziges Tätigkeitsverbot in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen

Doch die Handhabung der Sanktionen war von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. So ist in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen kein einziges Tätigkeitsverbot ausgesprochen worden. "Zum Glück wurde es in Sachsen nicht wirklich vollzogen, das kann man so ganz klar sagen", findet der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Sachsen, Dr. Klaus Heckemann. Er sehe nur negative Effekte durch die Impfpflicht. "Weil wir dadurch Personal verloren haben. Zum Glück wurde es in Sachsen nicht wirklich vollzogen."

Fest steht: Von vornherein sollten die Gesundheitsämter bei ihren Maßnahmen die Versorgungssicherheit im Blick behalten. Jeder Einzelfall sei zu prüfen. Tätigkeitsverbote für Beschäftigte, die für die Versorgung unverzichtbar sind, sollte es nicht geben. Denn überall herrschte ein Personalmangel in der Pflege. Es hatte bis dahin vielfältige Befürchtungen gegeben, dass etwa Notfälle unversorgt bleiben könnten. Die Belastung der Gesundheitsämter durch die Pandemie war zu diesem Zeitpunkt ohnehin deutschlandweit extrem hoch. Viele waren auf diese riesige zusätzliche Aufgabe nicht eingestellt.

Deutlich ist nun auch: Die einen Bundesländer machten es so, die anderen so. So wurden etwa in Hamburg mehr als 400 Betretungsverbote ausgesprochen. In Niedersachsen mehr als 130, und in Nordrhein-Westfalen mehr als 500. Zudem wurden Tausende Bußgeldverfahren eröffnet.

In Thüringen Unterschiede von Landkreis zu Landkreis

Die Fachschwestern Anica und Manuela weigerten sich über das ganze Jahr 2022, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Doch auch das Bußgeld von knapp 300 Euro wollen sie nicht akzeptieren - vor allem nach den Strapazen der Corona-Zeit. Deshalb haben sie sich einen Anwalt genommen. Rechtsanwalt Karl Ronald Neumann kritisiert das Durcheinander bei der Durchführung - nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern sogar auf Landkreis-Ebene.

"Man muss die Frage ganz einfach stellen: Warum ist es so, dass hier Ungeimpfte anders bestraft werden als - ich sag's mal ganz vorsichtig und zeige über meine Schulter - über'm Berg?", fragt der Anwalt. Hinter dem Berg liegt der Kyffhäuserkreis. Dort wurde festgelegt, dass keine Bußgeldbescheide versandt werden. Deshalb wolle Karl Ronald Neumann dem Bußgeldrichter die Frage stellen: Warum es landkreisabhängig sei, was mit Ungeimpften passiere, obwohl es doch ein deutschlandweites Problem war?  

Diese Unterschiede im Vorgehen hatte es nicht nur zwischen Nordhausen und dem Kyffhäuserkreis gegeben. Besonders abstrus trat die unterschiedliche Vorgehensweise in Jena hervor. Die Stadt in Thüringen teilte im November 2022 mit, dass mehr als 600 Bußgeldbescheide verschickt würden. Nur fünf Tage später hieß es: Nein, keine Bußgeldbescheide werden verschickt. Wobei man darauf verwies, dass das Gesetz zum Jahresende auslaufe.

Experte: Vorgehen der Stadt Jena aus seiner Sicht rechtswidrig

Doch warum dieses Hin und Her? "Das Gesetz war immer von dem Anliegen der Erhaltung der Versorgungssicherheit getragen und hat da den Behörden schon auch einen gewissen Gestaltungsspielraum eingeräumt", sagt Professor Michael Brenner, Rechtswissenschaftler an der Universität Jena. "Aber dieser Gestaltungsspielraum war immer auf den konkreten Einzelfall bezogen und hat nicht dazu ermächtigt, gewissermaßen flächendeckend von den Vorgaben des Gesetzes zu befreien. Ein solches Vorgehen, wie es die Stadt Jena hier auch an den Tag gelegt hat, ist vom Gesetz nicht gedeckt."

Aus Sicht der Verfassungsexperten sei das Vorgehen Jenas rechtswidrig. "Es kommt einer Stadt, oder auch einem Bundesland, nicht zu, ein geltendes Bundesgesetz einfach außer Kraft zu setzen. Das verletzt das Vertrauen und zerstört das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat, und ist mit unserer Verfassungsrechtsordnung nicht vereinbar!"

Strikte Umsetzung der Impfpflicht nur dort, wo Impfquoten ohnehin hoch?

Auffällig ist, dass das Gesetz gerade dort stringent umgesetzt wurde, wo der Anteil der ungeimpften Beschäftigten in den Pflegeheimen ohnehin schon sehr niedrig war. Hamburg lag im Oktober bei 1,6 Prozent. In Sachsen war dieser Wert zehnmal so hoch: 16,2 Prozent ungeimpfte Mitarbeiter in den Pflegeheimen. Der zweithöchste Wert fand sich in Thüringen mit fast zehn Prozent.

Hierbei spielte die Grundstimmung in den jeweiligen Ländern eine große Rolle, erklärt die Thüringer Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) gegenüber MDR exakt: "Das war wirklich ein gesamtgesellschaftliches Problem in Thüringen. Wir haben insgesamt in Thüringen eine sehr geringe Impfquote."

Aus Sicht der Politikerin hänge das etwa auch mit der AfD zusammen: "Die AfD ist gegen das Impfen immer wieder zu Felde gezogen, hat falsche Argumente, Fake-News gebracht. Und das hat natürlich bei dem einen oder anderen auch verfangen! Das ist ein Problem."

Welche Bilanz zieht Karl Lauterbach zur Impfpflicht?

Es stellt sich die Frage: Wie ist es um das Ziel bestellt, das dieses Gesetz eigentlich hatte: die Schwächsten in Pflege- und Altersheimen sowie Kliniken vor dem Virus zu schützen?

Über eine Bilanz des Gesetzes wollte MDR exakt auch mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprechen, doch ein Interview sei aus terminlichen Gründen nicht möglich. Schriftlich hieß es, das Auslaufen des Gesetzes am Jahresende geschehe vor dem Hintergrund, "dass die bereits erreichten Impfquoten in den erfassten Einrichtungen und Unternehmen beachtlich sind. Das ist insbesondere der Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vor Ort zu verdanken." Mittlerweile werde der Fremdschutz durch die Impfung, also die Verhütung von Ansteckungen, auch im Ministerium für nicht mehr ausreichend gehalten.

Krankenschwester will Bußgeld nicht bezahlen

"Wenn man das Gesetz heute bilanziert, muss man sagen, es war am Anfang gut gedacht, aber in der Umsetzung sehr kunterbunt", sagt Johannes Nießen, Vorsitzender des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen. Er ist so etwas wie der oberste Amtsarzt der Republik. Es habe einen großen Verwaltungsaufwand, insbesondere in den verschiedensten Gesundheitsämtern gegeben. Der Frust der Menschen sei nachvollziehbar.

Andrerseits: "Aber jedes Menschenleben, was wir dadurch haben retten können, ist gut gewesen", so Johannes Nießen. "Ich glaube, das muss man unterm Strich sagen. Auch wenn es gesellschaftlich eben sehr unterschiedlich diskutiert worden ist."

Fest steht: An den meisten Orten in Deutschland haben sich immerhin 90 Prozent des medizinischen Personals und mehr impfen lassen. Trotzdem beschäftigte der Druck, der durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht entstand, die Gemüter, und manche Beschäftigte haben sich diesem schließlich auch gegen ihre Überzeugung gebeugt.

Andere wollen dies nicht tun. So ist für Krankenschwester Anica die Forderung des Bußgeldes zu einer sehr prinzipiellen Sache geworden: "Für mich steht fest: Wenn ich diesen Bußgeldbescheid bezahlen muss, werde ich definitiv meinen Beruf verlassen."

Fazit: Welchen Schaden hinterlässt das Hin und Her?

Stellt sich die Frage, ob das Hin und Her um dieses Gesetz einen bleibenden Schaden hinterlässt und ob die intensiven Diskussionen gesellschaftliche Folgen haben? "Wenn sich eine Gesellschaft in einer echten Krise befindet", sagt Soziologie-Professor Holger Lengfeld von der Universität Leipzig, "bei der man nicht weiß, wie man herauskommt, dann sind Menschen in der Regel auch bereit, Versuche, auch wenn sie nicht immer zum Ziel führen, der Politik eher zu ertragen." Das sei außerhalb einer Krise anders. Und auch wenn es auf dem Höhepunkt der Pandemie anders ausgesehen habe, sei aus seiner Sicht der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht grundsätzlich gefährdet gewesen. "Im Rückblick sind die entwickelten Gesellschaften ziemlich gut durch diese Ausnahmesituation gekommen."

MDR (mpö)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 11. Januar 2023 | 20:15 Uhr

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