Demonstration für ein Ende des Strafrechts-Paragrafen 218, der Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich kriminalisiert, am 16. September 2023 in Köln.
Demonstration für ein Ende des Strafrechts-Paragrafen 218, der Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich kriminalisiert. Bildrechte: picture alliance/dpa | Thomas Banneyer

Abtreibungen Strafbarkeit führt zu Versorgungslücken bei Schwangerschaftsabbrüchen

09. Juni 2024, 14:51 Uhr

Drei Justizministerien, darunter auch das in Sachsen, setzen sich eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Laut dem Verein "Doctors for Choice" führt die weitere Kriminalisierung zu Versorgungslücken.

Nastassja von der Weiden
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Ein Paragraf aus dem Jahre 1871, der immer noch gilt – ja, wirklich: Der Paragraf 218. Dieser Paragraf stellt Abtreibung grundsätzlich unter Strafe. Und eben das führt bis heute zu Diskussionen über das Recht auf Selbstbestimmung von allen, die Kinder austragen können.

Nach der aktuell gültigen Regelung ist ein Schwangerschaftsabbruch immer noch rechtswidrig. Er bleibt aber straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Konfliktberatung durchgeführt wird. Nicht rechtswidrig ist eine Abtreibung ausdrücklich, wenn "eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt", schreibt der Gesetzgeber.

Gute und schlechte Erfahrungen

Lili* lebt in Leipzig und hat vor einem Jahr abgetrieben. Ihr war sofort klar, dass sie das Kind nicht behalten möchte und hat sich schnell einen Beratungstermin bei Pro Familia geben lassen. Sie erinnert sich an den Horror, den der positive Schwangerschaftstest ausgelöst hat: "Ich hatte eine Panikattacke. Ich wusste direkt, dass ich das nicht möchte."

Der Abbruch konnte rechtzeitig durchgeführt werden, trotzdem hatte Lili große Angst, dass ihr die Zeit davonläuft, einen Termin zu bekommen. Ähnlich ging es auch Janina* und Kim*. Die 22-jährige Kim erzählt am Telefon: "Das alles war zum Glück innerhalb von zwei Wochen erledigt. Und ich bin sehr, sehr dankbar dafür, dass Abtreibung in Deutschland möglich ist."

Schon kurz darauf waren die beiden Frauen erleichtert: "Für mich war das Thema dann ausgestanden. Ich möchte später ganz sicher Kinder, aber nicht jetzt", sagt Kim. Bei der Recherche und den Gesprächen mit Frauen aus Leipzig und Halle zeigt sich, dass es vor allem auf die erste Begegnung ankommt und speziell darauf, ob der Ablauf richtig und wertfrei erklärt wird.

Antrag aus Sachsen und weiteren Ländern

Blicke oder leise Bemerkungen von medizinischem Personal, ob von Pflegern, Assistentinnen oder Ärzten, können einen wichtigen Unterschied machen, wie die gesamte Behandlung wahrgenommen und verarbeitet wird. Da es sich bei einem Abbruch um etwas "Illegales" handele, führe das zu Stigmatisierungen, sagen Expertinnen und Experten übereinstimmend, etwa die Gynäkologin und Aktivistin Dr. Jana Maeffert von der Organisation Doctors for Choice.

Doctors for Choice ist ein Netzwerk von Ärztinnen, Ärzten und Medizinstudierenden, die sich für Selbstbestimmung und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzen.

Eine Initiative der Justizministerien in Sachsen sowie Niedersachsen und Hamburg will Schwangerschaftsabbrüche zumindest in den ersten drei Monaten legalisieren. "Beim Schwangerschaftsabbruch handelt es sich um eine höchstpersönliche Entscheidung, die in der Frühphase der Schwangerschaft – ohne staatliche Einmischung – allein der Schwangeren vorbehalten sein sollte", heißt es im Antrag, der auf der Justizministerkonferenz Anfang Juni von den drei Ländern gestellt wurde.

Die sächsische Justizministerin Katja Meier sagt: "Die derzeitige Regelung löst nicht den Konflikt zwischen ungeborenem Leben und der Selbstbestimmung der Frau, sondern belegt die schwierige und höchst individuelle Entscheidung der Frau lediglich mit dem Stigma der Kriminalität." Das gab das Ministerium auf MDR AKTUELL-Anfrage an.

Doctors for Choice: "Wir sind enttäuscht"

Das Bemühen der drei Justizministerien wird jedoch nach Einschätzung von Dr. Jana Maeffert nicht dazu führen, dass sich etwas an der Kriminalisierung von Abbrüchen ändert.

Jana Maeffert
Dr. Jana Maeffert engagiert sich im Verein "Doctor's for Choice" für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Bildrechte: Marga van den Meydenberg

Maeffert sagt: "Es gibt so viele Empfehlungen und Leitlinien, die eine Liberalisierung fordern. Das erste Kapitel der WHO zu diesem Thema beschreibt, wie wichtig es ist, dass Schwangerschaftsabbrüche legal und entkriminalisiert sind. Deutschland wurde von der UN mehrfach gerügt, weil das bei uns immer noch nicht der Fall ist."

Auch eine Studie der Bundesregierung belege, dass die Versorgung in manchen Regionen schlecht und die Stigmatisierung hoch sei – die Gynäkologin fragt: "Wie kann es sein, dass eine Regierung diesen Paragrafen noch halten kann?" Sie und ihre Kolleginnen von Doctors for Choice seien enttäuscht und traurig über den immer noch herrschenden Ist-Zustand.

Mehrheit der Abbrüche in Praxen

Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 106.218 Abbrüche durchgeführt, davon 17.412 in Krankenhäusern und 88.806 in gynäkologischen Praxen. In Sachsen waren es 5.897 Abbrüche insgesamt, davon 2.444 in Kliniken. Auch hier fanden die meisten Abbrüche in gynäkologischen Praxen statt.

Kompliziertere und weiter fortgeschrittene Schwangerschaften werden in Kliniken behandelt. Das war auch bei Sarah* der Fall. Sie erzählt, anders als Lili und Kim, von einer traumatischen Abtreibung vor zwei Monaten in der 14. Woche. Sie ist 27 Jahre alt und Mutter einer Tochter.

Sie sagt: "Ich habe mich total hilflos gefühlt, als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin. Mein Partner hatte mich betrogen, ich habe mein erstes Kind noch gestillt. Meine Frauenärztin sagte nur zu mir: 'Viel Glück, ob sie über Ostern jemanden finden, na mal sehen. Den Klinik-Kollegen wird das sicher keinen Spaß machen bei Ihnen.' Das hat mich geschockt."

Weniger Ärzte führen Abbrüche durch

Bundesweit geht die Zahl der Ärzte und Praxen, die Abbrüche vornehmen, seit Jahren zurück. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren vor 20 Jahren noch etwa 2.000 Arztpraxen, OP-Zentren und Kliniken gemeldet, die den Eingriff vornehmen. Bis zum Jahr 2023 hat sich die Zahl fast halbiert.

Derzeit führen 1.103 medizinische Einrichtungen in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche durch. In Sachsen sind es 105, in Sachsen-Anhalt 46 und in Thüringen 39. Die Zahl dieser Meldestellen lässt jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse auf Arztpraxen beziehungsweise Kliniken mit Abbrüchen zu.

Die Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, sind durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz zwar verpflichtet, diese Daten zu melden. Aber die Zahl dieser sogenannten Meldestellen ist trotzdem nur eine ungefähre. Wie viele Praxen insgesamt Schwangerschaftsabbrüche durchführen und theoretisch durchführen dürfen, darüber könne keine Aussage getroffen werden, schreibt die Kassenärztliche Vereinigung aus Thüringen auf MDR AKTUELL-Anfrage.

Warum gibt es keine verlässlichen Zahlen? Zum einen melden zentrale OP-Praxen Schwangerschaftsabbrüche für mehrere Arztpraxen mit, zum anderen gilt eine Einrichtung bis zwei Jahre nach dem letzten Abbruch noch als Meldestelle, auch wenn sie das Verfahren vielleicht gar nicht mehr anbietet. Dennoch sind die Statistiken zu Meldestellen der einzige seriöse Hinweisgeber. Auf diese Datenlücke weisen Ärztinnen, Ärzte, Beraterinnen und Berater seit Jahren hin.

Versorgungsprobleme regional unterschiedlich

Eine groß angelegte Studie der Bundesregierung, die ELSA-Studie, soll belastbare Zahlen zur Versorgungslage liefern. ELSA steht für "Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung". Laut dieser Studie hätten ungewollt Schwangere in den östlichen Bundesländern einen einfacheren Zugang zu Praxen, die Abtreibungen anbieten.

Der Studie zufolge leben allerdings auch rund 4,5 Millionen Menschen in Deutschland außerhalb einer "angemessenen Erreichbarkeit" zum nächsten Angebot für einen Schwangerschaftsabbruch. 85 von 400 Landkreise seien betroffen. Sie befänden sich vor allem in Bayern, aber auch in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Schlecht erreichbar bedeutet, dass eine Einrichtung, die einen Abbruch durchführt, mit dem Auto nicht innerhalb von 40 Minuten erreichbar ist.

Die 27-jährige Janina erzählt im Gespräch, dass sie die Wege in ihrer Situation extrem angestrengt hätten. "Man ist total fragil. Ich wurde bei mehreren Ärztinnen abgewiesen. Dabei hatte ich Zeitdruck, denn ich war in der sechsten Woche und wollte medikamentös abbrechen." Positiv überrascht war sie von der Beratung bei Pro Familia in Halle: "Meine Entscheidung wurde dort keine Sekunde in Zweifel gezogen."

Nur Polen restriktiver als Deutschland

Die Entwicklungen in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, besorgen die Frauen, mit denen MDR AKTUELL gesprochen hat. Sie beschäftigten sich schon vor ihrer eigenen Erfahrung mit dem Thema: "Da war und ist immer eine gewisse Angst", sagt Sarah und lacht bitter: "Männern passiert das einfach nicht. Für uns Frauen wäre es einfach schön, wenn wir uns entscheiden dürften, ohne dass es ständig hinterfragt wird."

Die Drei-Länder-Initiative zur Liberalisierung schreibt in ihrem Antrag dazu: "Frankreich hat als erstes Land das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert. Hier können Schwangere bis zur 14. Woche eine Abtreibung vornehmen lassen und die Krankenkassen übernehmen die Kosten. Nachdem auch Irland sein Abtreibungsrecht liberalisiert hat, ist derzeit nur Polen restriktiver als Deutschland."

Der Abbruch war ein einschneidendes Erlebnis für Sarah, das sie noch nicht verarbeitet hat. Sie weint während des Telefonats. Nicht die Abtreibung an sich, sondern die Bewertung dabei seien schlimm für sie gewesen. Nach ein paar Minuten fängt sie sich wieder und sagt: "Ich wünsche mir für meine Tochter, dass es das Recht auf Abtreibung immer und überall geben wird."

*Namen von der Redaktion geändert

MDR AKTUELL (ksc)

Eine Frau geht vor der Schwangerschaftsberatung Pro Familia an Abtreibungsgegner der Aktion «40 Tage für das Leben» vorbei. Diese beten während der Fastenzeit bundesweit vor verschiedenen Beratungsstellen. mit Video
Der Bundestag berät heute erstmals über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der so genannte Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnern wie hier in Frankfurt/Main künftig mit einem Bußgeld belegen soll. Bildrechte: picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | RADIO | 08. Juni 2024 | 08:17 Uhr

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