Zwischen den Weltkriegen Kama, Tomka, Lipezk – Geheime Militärkooperation von Reichswehr und Roter Armee
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03. September 2023, 10:31 Uhr
Nach dem Ersten Weltkrieg darf die deutsche Reichswehr weder Panzer noch Kampfflugzeuge besitzen. Auch die Entwicklung dieser Waffen ist nach dem Versailler Vertrag verboten. Abhilfe schafft eine geheime Militärkooperation mit der Roten Armee. Mit deutschem Geld und deutschen Experten entstehen in den 1920er-Jahren in der Sowjetunion die Fliegerschule Lipezk, die Panzerschule Kama und das Kampfmittel-Testgelände Tomka.
Nach dem Ersten Weltkrieg sind das Deutsche Reich und das sozialistische Sowjetrussland (ab Dezember 1922 Sowjetunion) zwei international isolierte Staaten. Auch auf militärischem Gebiet unterliegen die beiden "politischen Parias der Versailler Nachkriegsordnung" (Markus Pöhlmann) starken Restriktionen: Deutschland, weil ihm der Friedensvertrag von Versailles für sein 100.000-Mann-Heer den Besitz schwerer Waffen wie U-Booten oder Panzern verbietet und den Aufbau von Luftstreitkräften untersagt. Die Sowjetunion, weil sie durch ihre Außenseiterrolle nach der bolschewistischen Revolution 1917 und dem Russischen Bürgerkrieg (1918-22) – an dem sich auch die Entente-Staaten Großbritannien und Frankreich beteiligen – von militärischen Entwicklungstrends abgekoppelt ist.
Kooperation nach Vertrag von Rapallo
Im italienischen Rapallo schließen das Deutsche Reich und Sowjetrussland im April 1922 einen bilateralen Vertrag, um ihre internationale Isolation zu durchbrechen. Die beiden Länder nehmen – beargwöhnt vom Westen – ihre diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen wieder auf. Auch auf militärischem Gebiet wird eine geheime Kooperation vereinbart. Während es der deutschen Seite vor allem darum geht, einen sicheren Platz für die Erprobung ihrer heimlich weiterbetriebenen Waffenentwicklungen zu erhalten, ist die sowjetische Seite vor allem am Ideen- und Technologietransfer interessiert. Zudem verfolgen beide Seiten das Ziel, in den Bereichen Militärluftfahrt, Kampfstoffe und Panzer auch taktisch auf der Höhe der Zeit zu blieben.
Fliegerschule und Erprobungsstelle Lipezk
Nachdem eine erste Zusammenarbeit auf privatwirtschaftlicher Ebene scheitert, wird eine direkte Kooperation zwischen den militärischen Stellen in Berlin und Moskau vereinbart. Am 15. April 1925 unterzeichnen Vertreter der Reichswehr und der Roten Armee einen Vertrag zur Einrichtung einer deutschen Fliegerschule und Erprobungsstelle im russischen Lipezk. Im Juni 1925 startet an der Einrichtung etwa 400 Kilometer südöstlich von Moskau der Flugbetrieb. Anfang 1926 beginnt auch die Fliegerausbildung. Aus Geheimhaltungsgründen erhalten alle am Stützpunkt Lipezk Beschäftigten private Verträge. Die Personalkosten werden jedoch durch die Reichswehr erstattet. Um den zivilen Schein der Fliegerschule zu wahren, werden keine Uniformen getragen und an den Flugzeugen auch keine Hoheitsabzeichen angebracht.
Bis September 1933 werden in Lipezk 120 deutsche Flieger, etwa 100 Luftbeobachter und eine Vielzahl an Bodenpersonal ausgebildet. Zum Vergleich: In Deutschland erlaubt der Versailler Vertrag pro Jahr lediglich die Ausbildung von fünf Zivilpiloten! Über die fliegerische Standardausbildung hinaus werden in Lipezk auch Formationsflüge und Bombenabwurfverfahren getestet. Bei den an der Fliegerschule eingesetzten Flugzeugen handelt es sich zu großen Teilen um das Jagdflugzeug Fokker D.XIII des nach dem Ersten Weltkrieg in die Niederlande übergesiedelten ehemaligen Schweriner Flugzeugbauers Fokker. Weitere in Lipezk getestete und genutzte Typen sind das Aufklärungsflugzeug Heinkel HD 17 sowie verschiedene Typen des Berliner Flugzeugbauers Albatros. Genau wie deutsche werden in Lipezk auch sowjetische Piloten und sowjetisches Bodenpersonal ausgebildet.
Kampfmittel-Versuchsplatz Tomka
Als zweite der im Rahmen der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit vereinbarten Stationen wird 1928 bei Wolsk etwa 740 Kilometer südöstlich von Moskau ein Testgelände für chemische Kampfstoffe eröffnet. In dem Objekt mit dem Tarnnamen Tomka werden chemische Kampfmittel wie Senfgas, der chlorhaltige Lungenkampfstoff Perstoff (Diphosgen) oder sogenannte Blaukreuz-Kampfstoffe, die auf den Nasen-Rachen-Raum wirken, getestet. Dabei werden auch Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Giftgasherstellung ausgetauscht. Zudem wird gemeinsam an der Weiterentwicklung der chemischen Kampfführung sowie an Abwurf- und Ausbringtechnologien für Kampfgase unter Kriegsbedingungen gearbeitet.
Panzerschule Kama bei Kasan
Als letzte von insgesamt drei Stationen der geheimen Militärkooperation von Reichswehr und Roter Armee geht 1929 nahe Kasan in Tatarstan die Panzerschule Kama in Betrieb. Der Vertrag über den Aufbau der Schul- und Erprobungseinrichtung für Panzer wird im September 1926 unterzeichnet. Der erste Ausbildungskurs läuft jedoch erst im März 1929 an. In Zweijahreskursen erhalten an der Panzerschule Kama deutsche Offiziere, die dafür offiziell aus der Reichswehr ausscheiden, eine Ausbildung als Panzerfahrer, Funker, Richt- und Ladeschütze sowie als Panzerkommandant im Rahmen der Kompanie und später auch der Panzerabteilung (Panzerbataillon).
Die deutschen Kurse bestehen aus bis zu zehn Teilnehmern. Insgesamt 30 Reichswehr-Angehörige werden an der Kama zu Panzeroffizieren ausgebildet. Sie spielen später eine wichtige Rolle beim Aufbau der deutschen Panzertruppe. Nicht wenige erreichen im Zweiten Weltkrieg Generalsrang, so der Kommandierende General des Deutschen Afrikakorps (DAK) im Herbst 1942, General der Panzertruppe Wilhelm von Thoma. Die sowjetischen Kurse haben anfangs zehn Teilnehmer und werden später auf 40 erweitert. 1932 wird an der Panzerschule erstmals eine gemeinsame deutsch-sowjetische Übung gefahren. Dabei wird der Einsatz eines Infanterieregimentes mit Panzerunterstützung geübt.
Erprobung von Panzerentwicklungen
Die zweite Funktion von Kama ist die Erprobung und Weiterentwicklung der seit 1925 in Deutschland entwickelten Panzertypen. Die Kampfwagen werden über den Seeweg aus Stettin nach Leningrad verschifft. Ein Eisenbahntransport über den polnischen Korridor nach Ostpreußen und von dort weiter in die Sowjetunion gilt als zu unsicher. Die als landwirtschaftliche Schlepper "Großtraktor" und "Leichttraktor" getarnten Panzermodelle der Firmen Daimler-Benz, Krupp und Rheinmetall werden in Kasan im Fahren, Schießen, Funken und auch Schwimmen getestet.
Während die Entwicklung des "Leichtraktors" aufgrund der an der Kama gewonnenen Erfahrungen als nicht zukunftsträchtig eingestellt wird, wird der mittlere Typ "Großtraktor" umfassend überarbeitet und als "Neubaufahrzeug" weiterentwickelt. Die dabei gesammelten Erfahrungen liefern später die Grundlagen für die Entwicklung der deutschen Panzerkampfwagen I, II, III und IV.
Neben Panzern werden auch Panzerwagen in Kama getestet, aus denen sich die späteren deutschen Panzerspähwagen entwickeln. Die Rote Armee testet zudem die britische Carden Loyd Tankette, ein Kleinpanzer, aus dem 1931 die sowjetische Eigenentwicklung des T-27 hervorgeht.
Kooperation endet mit Adolf Hitler
Die Militärkooperation von Reichswehr und Roter Armee endet nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933. Der offen erklärte Aufrüstungskurs des NS-Regimes unter Adolf Hitler macht eine heimliche Erprobungstätigkeit im Ausland überflüssig. Hinzu kommt eine unüberbrückbare politisch-ideologische Entfremdung. Aber auch militärische und wirtschaftliche Rentabilitätsfragen lassen einen Weiterbetrieb der teuren und weit entfernten Einrichtungen als unzweckmäßig erscheinen.
Im Herbst 1933 werden das Kampfstoff-Testgelände Tomka, die Fliegerschule Lipezk und die Panzerschule Kama geschlossen. Die deutsche Technik und das deutsche Personal werden zurück in die Heimat gebracht. Keine acht Jahre später – im Juni 1941 – kehren viele der ehemaligen Ausbilder und Kursanten in die Sowjetunion zurück. Diesmal kommen sie jedoch nicht als Kooperationspartner, sondern als Kriegsgegner. Mit ihnen kommen Panzer und Flugzeuge ins Land, für deren Entwicklung auch in Lipezk und Kasan die Grundlagen geschaffen wurden.
Literaturhinweise
- Pöhlmann, Markus: Der Panzer und die Mechanisierung des Krieges. Eine deutsche Geschichte 1890 bis 1945, Paderborn 2016, S. 216-223.
- Zeidler, Manfred: Reichswehr und Rote Armee 1920 bis 1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, Berlin 2016 (2. Auflage, unveränderte Studienausgabe, Reprint).