Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 27. Dezember 2023 Was 2023 an sein Ende kam – oder beinahe
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27. Dezember 2023, 00:01 Uhr
An gezogene Reißleinen, Synergieeffekte und endende Routinen hat man sich in der Medienbranche fast gewöhnt. Aber 2023 kamen recht viele Formate und Medienmarken an ihr Ende. Und einige andere standen auf der Kippe. Was geht, was bleibt? Der Jahresrückblick von A bis Z. Eine Kolumne von Klaus Raab.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
"Anne Will"
Nach 16 Jahren war am 3. Dezember Schluss. Anne Will stopped talking. Die Frau, die von all den Erich Böhmes und Maybrit Illners der jüngeren Talkgeschichte die "runtergekühltesten Sendungen leitete" (spiegel.de). Wobei sie die nicht in der Zeit leitete, als der Sonntagstalk vorübergehend "Günther Jauch" hieß. Von 2011 bis 2015 musste Will vorübergehend mittwochs ran; und da holzte auch sie sich durch boulevardeske Diskussionen mit Sido und Veronica Ferres zu Jugendgewalt. Aber diese Phase ihres Schaffens ist fast vergessen. Was von "Anne Will" bleiben wird, ist, dass sie den Polittalk über die Jahre von Krawalligkeit befreit hat, ohne das Publikum zu verlieren. Den Sendeplatz übernimmt Caren Miosga.
Blendle
Jahrelang wurde auf Medienkongressen über die "Zukunft der Zeitung" allerhand herumgemeint. Es ging um Haptik und die emotionale Bindung ans Lokalblatt, das morgens im Postkasten liegt. Und um Geschäftsmodelle natürlich auch. Print only verschrieben sich die einen Medienhäuser, Online first die anderen, und manche Verlagsgröße war regelrecht beleidigt darüber, dass sich dieses fiese Internet mit seiner "Gratiskultur" partout nicht unterwerfen wollte. Und dann, 2015, kam Blendle über die Niederlande nach Deutschland: ein digitaler Zeitungskiosk, der das veränderte Nutzungsverhalten der Leute ernst nahm – die Notwendigkeit der Finanzierung für die Verlage aber auch. Man konnte einzelne Artikel erwerben statt ganzer Zeitungen. Superpraktisch. Für einige Jahre. Im September wurde der deutsche Blendle-Onlinekiosk nun zugemacht. Was schade ist, aber erklärbar. Mittlerweile verkaufen Verlage eben, verständlicherweise, lieber Digitalabos. Dennoch: Die Idee war gut.
"Capital"
Keine Sorge, das Wirtschaftsmagazin "Capital" gibt es noch. Genau wie andere Medienmarken mit C. "Couch" etwa. Oder den "Crime"-Ableger des "Stern". Und "Stern", "Brigitte", "Gala", "Geo", "Geolino" und "Schöner Wohnen" sind auch noch da. Aber dass es sie noch gibt, ist nach diesem Jahr eine Nachricht. Denn bei ihrem traditionsreichen Verlag Gruner+Jahr wurde im Februar mit dem Dampfdruckstrahler umgeräumt.
DW Deutsch+
Die Deutsche Welle, also der öffentlich-rechtliche Auslandsrundfunk, der aber aus Steuermitteln und nicht aus dem Rundfunkbeitrag finanziert wird, sendet nicht mehr auf Deutsch. Ende Dezember wird der deutschsprachige Fernsehkanal, der zuletzt DW Deutsch+ hieß, eingestellt. Nutzung und Produktionsaufwand stünden in keinem Verhältnis, hieß es, und die jungen Leute in Afrika und Asien, die man erreichen will, erreiche man eben eher digital – und eh nicht auf Deutsch. Trotz der gern zitierten großen Herausforderungen, auf die man sich konzentrieren will, reduziert die Deutsche Welle aber darüber hinaus auch noch das Personal. Das ließ die Belegschaft der Senderleitung nicht unkommentiert durchgehen.
"Eltern"
Die letzte Ausgabe der 1966 gegründeten Zeitschrift erschien im Mai. Erstmal. Mittlerweile ist ein Heft des selben Titels wieder da. Allerdings nicht mehr am Kiosk, sondern gratis in Apotheken – denn der Verlag Gruner+Jahr hat die Lizenz an die "Apotheken Umschau"-Familie, also den Wort & Bild Verlag verkauft. Der kann nun "Eltern" über sein bisheriges Magazin "Baby & Familie" schreiben und ein paar Formate aus "Eltern" mit reinpacken. Damit niemand so leicht durchblickt, ob Raider nun in Twix oder Twix in Raider steckt, bleibt der Webauftritt eltern.de bei Gruner+Jahr.
Gruner+Jahr
Bei diesem traditionsreichen Verlag wurde schon öfter die Zeitungs- und Zeitschriftenauslage aufgeräumt. 2012 etwa erschien die "Financial Times Deutschland" zum letzten Mal. Das einstige Erfolgsprojekt "Neon" wurde 2018 eingestellt. Aber nun, 2023, wurde mit dem Dampfstrahler durchgeputzt. Knapp zwei Dutzend Zeitschriften wurden eingestellt, darunter "Barbara", "Guido" und ein ganzer Schwung Hefte aus der "Brigitte"- und der "Geo"-Linie. Andere wurden verkauft, etwa "Business Punk", "11Freunde" oder "P.M.". Die Frage ist: warum nur? Und wie klug war die vorangegangene Übernahme des Verlags durch die andere Bertelsmann-Tochter RTL? Hatte man 20 Jahre lang zu viel auf die Zahlen geguckt? Oder zu wenig? Die Bertelsmann-Chefs um Thomas Rabe durften sich nach diesem "Kettensägenmassaker" (Altpapier) im Februar jedenfalls einiges anhören. Und weil dies ein Jahresrückblick ist, müssen wir einige Schlagworte aus der Berichterstattung natürlich noch einmal wiederholen: Barbaren, Kahlschlag, Schrottladen, Versager.
"Hauptsache gesund"
Kniebeschwerden seien "in Kiel genauso unangenehm wie in Konstanz", hat der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke im Frühjahr gesagt. Und gemeint: Die ARD braucht nicht mehrere unabhängig voneinander fürs Fernsehen produzierte Gesundheitsmagazine. Er plädierte für ein gemeinsames Mantelprogramm, das die Dritten Programme teilen. Mittlerweile hat der MDR sein Gesundheitsmagazin "Hauptsache gesund" eingestellt und sendet seit Dezember donnerstags stattdessen die "Visite" des NDR. Das Ganze steht im Kontext größerer Reformaufgaben: Die Öffentlich-Rechtlichen wollen junge Leute gewinnen, das ältere Publikum darüber nicht verschrecken, die Mediatheken stärken, das lineare Programm weiter betreiben und dabei sparen. Die ARD muss nur aufpassen, dass sich ihre neun Anstalten nicht zu viel Regionales vergniffken.
Infowellen-Unabhängigkeit
Einige Inforadios der ARD-Anstalten schaffen das eigenständige Nachtprogramm ab: Beschlossen wurde in diesem Jahr, dass sie ab 2024 verstärkt kooperieren, vornehmlich ab 20 Uhr. Nächtliche Gemeinschaftsschienen gab es zwar schon, nun soll die Eingleisigkeit aber ausgeweitet werden. Wenn man sparen und Doppelstrukturen abbauen will, muss man’s wohl irgendwoher nehmen. Aber eine andere Seite der Medaille gibt es auch: Wenn man in einem Zeitungsarchiv nach dem Wort "Infowelle" sucht, findet man auch Kritik am kommenden "Einheitsprogramm" der ARD-Anstalten, die ja auch regionale Programme ausstrahlen müssen. Ebenfalls geplant sind gemeinsame Kulturübertragungen und musikjournalistische Sendungen abends und nachts und der Ausbau der Hörspielkooperation. Wir nehmen eine Frage mit ins neue Jahr: Wie viel Kooperation ist gut, und wie viel ist zu viel?
"Karla"
Das gemeinnützige Konstanzer Lokaljournalismusprojekt stellt zum Jahresende den Betrieb ein (Altpapier). Das ist zwar eine lokale Geschichte, aber die Finanzierung von gemeinnützigem Journalismus ist in Kiel sicher genauso unangenehm wie in Konstanz – zumindest insofern ist sie überregional von Belang. Auf den Seiten von karla-magazin.de heißt es, die Finanzierung durch Stiftungen habe sich unflexibel gestaltet. Gemeinnütziger Journalismus im Lokalen habe wohl nur eine Chance, "wenn er a) als Selbstausbeutungsprojekt betrieben wird oder b) vor Ort andere Geldgeber oder neben dem Journalismus zusätzliche Einkommensquellen hat".
Literatur- und Kulturprogramm des BR
Nicht alle Radio-Kultursendungen des Bayerischen Rundfunks werden in der bisherigen Form weiterleben. Die Reformpläne des BR bekamen allerdings ziemlichen Gegenwind. Es kursierte die Befürchtung, das Programm solle flacher, der öffentlich-rechtliche Kulturauftrag geschliffen werden; der BR wolle womöglich sogar Literaturkritik von anderen übernehmen – Feuilletoninhalte sollten am Ende also behandelt werden wie Kai Gniffkes Kniebeschwerden: Einmal reicht doch. Weil Kulturkritik und Debatte mehr sind als Service und Infoabend, und weil Kultur nicht nur das ist, was verpodcastet werden kann, gab es Protest. Ob er wirkte? Am Ende des Jahres sieht es so aus, als würden sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bestätigen. Aber ein wesentliches Problem war, dass der BR bis tief in den November hinein nicht klar kommunizierte, was genau er vorhat. Schlagworte wie "Kulturoffensive" und "Konzentration auf Kernzeiten" klangen nach Formatierung, Spardruck und nach PR von Leuten, für die Kultur von Quote kommt. Annika Schneider schrieb hier im Altpapier: "Wer Reformen bei den Öffentlich-Rechtlichen fordert, muss es auch aushalten, wenn über ebensolche nachgedacht wird." Das stimmt immer noch. Aber ebenfalls immer noch gültig ist ihr Vorschlag: "Vielleicht sollten Programmverantwortliche transparenter mit ihren Plänen umgehen und nicht warten, bis sie durch Brandbriefe an die Öffentlichkeit kommen – und dafür in der Kommunikation auf abgedroschene Phrasen rund um Digitalisierung, Transformation und Spardementi verzichten."
"Missy"
Das queerfeministische Magazin druckt seit diesem Jahr auf dünnerem Papier, um Papierkosten zu sparen. Und das Heft hat weniger Seiten als früher. Aber es existiert. Im 15. Jahr des Bestehens hat "Missy" eindringlich um Abschluss oder Aufstockung von Abos gebeten. Das Erscheinen wurde so schnell gesichert. Von einer Rettung für die nächsten 15 Jahre ist aber bei "Missy" noch keine Rede.
"nd"
Die überregionale Tageszeitung namens "nd", die früher "Neues Deutschland" im Titelkopf stehen hatte, stand, wie "Missy" oder "Titanic", knapp vor dem Aus. Auch sie hat sich mit einer Rettungskampagne über den Berg gebracht.
"Ostthüringer Zeitung" (gedruckt)
Der Name des Kreises Greiz in Thüringen fiel 2023 immer wieder, wenn es um die Zukunft der gedruckten Zeitung ging – oder um die Frage, ob die Bundesregierung die Zustellung von Printzeitungen fördern soll. Denn in einigen Greizer Ecken wurden die Abonnements von etwa 300 Leserinnen und Lesern der "Ostthüringer Zeitung" im Mai auf E-Papier umgestellt. Sie bekommen also keine gedruckten Exemplare mehr ins Haus geliefert, der Papier-, Produktions- und Zustellkosten-"Explosion" wegen, so der Funke-Verlag. Die Zeitung gibt es also natürlich noch, aber nicht mehr überall im Verbreitungsgebiet im Print-Abo. Greiz wurde quasi zur "Modellregion".
"Oxi"
Das Aus kam für "Oxi", die 2016 gestartete Monatszeitung für kapitalismuskritische Wirtschafts- und Gesellschaftsanalysen (Altpapier). Eine zeitlang lag "Oxi" der Wochenendausgabe des "nd" bei. Die "nd"-Krise soll das Aus dieser Kooperation und damit wohl auch für "Oxi" besiegelt haben. Während rechte Medien zuletzt von Financiers finanziert wurden, rangen in diesem Jahr mehrere aus linken Nischen um ihre Existenz. Auch das ist eine Mediengeschichte dieses Jahres.
"Prignitz-Kurier" (gedruckt)
Das Modell Greiz hat den Madsack-Verlag nicht abgeschreckt, es ebenfalls papierlos zu versuchen und noch ein Stück weiter zu gehen: Im Westen Brandenburgs wurde der "Prignitz-Kurier" komplett auf digitale Angebote umgestellt. Er existiert also nicht mehr gedruckt, auch nicht für Kioskkäufer. Was der Verlag aber positiv zu verkaufen wusste: "Der Prignitz-Kurier wird die erste rein digitale Lokalausgabe der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ)." Mittlerweile sind auch die Lokalausgaben in Kyritz und Wittstock "Digital Only".
Rundfunk Berlin-Brandenburg
Der RBB sendet zwar weiter durchgehend – konzentriert sich aber im Fernsehen stark auf die Zeit zwischen 18 und 22 Uhr. Das Gesundheitsmagazin "rbb Praxis" etwa lief aus. Es wird ersetzt durch das Magazin "rbb Gesund+", in dem "Dokus und Reportagen zu Gesundheitsthemen aus der ARD-Mediathek vorgestellt werden" sollen – also wohl auch die anderer ARD-Anstalten, und wer weiß, vielleicht geht es ja auch einmal um Kniebeschwerden in Kiel. Nicht alles, was beim RBB wegfallen sollte, wird aber nun auch tatsächlich eingestellt. Der Talk "Thadeusz und die Beobachter" etwa darf doch bleiben, als Radiosendung mit zeitversetzter Fernsehübertragung. Was sich der RBB spart, ist die Produktion des "ARD-Mittagsmagazins". ARD und ZDF produzieren das "MiMa" im wöchentlichen Wechsel, und solange es für die ARD der RBB produzierte, konnte der das ZDF-Hauptstadtstudio mit nutzen. Diese Infrastruktureffizienz feierten seinerzeit sowohl das ZDF als auch der RBB. Aus finanziellen Gründen steigt der RBB aus. Und der MDR steigt ein, sendet aber aus Leipzig.
Sonntags-"B.Z."
Die "B.Z.", nicht zu verwechseln mit der "Berliner Zeitung", ist eine Berliner Boulevardzeitung aus dem Haus Axel Springer. Ihre gedruckte Sonntagsausgabe erschien Ende Juli zum letzten Mal; die Samstagsausgabe wurde dafür etwas erweitert. Als Grund angegeben wurde die mangelnde wirtschaftliche Perspektive.
"Titanic"
Das Satiremagazin war in diesem Jahr nach eigenem Bekunden "pleite wie nie", was bereits eine Kunst war. Aber es hat sich, wie "Missy", das "nd" oder "Katapult", mit einem Spenden- und Abo-Notruf in eigener Sache, fürs Erste gerettet.
"Wetten, dass..?"
Thomas Gottschalk hat sich am Ende seiner allerletzten Ausgabe verabschiedet mit der Leberwurstigkeit, er könne in der ZDF-Show nicht mehr so reden wie zu Hause, also sage er lieber gar nichts mehr. Da man öffentlich nicht all das dazu schreiben kann, was man zu Hause sagen könnte, sagen wir dazu halt nichts mehr. Aber hier ist das Altpapier vom Montag danach.
x verschiedene X-Kanäle
Twitter heißt jetzt X, geändert hat sich einiges. Seit Elon Musk das Social Network gekauft hat und es allem Anschein nach zugrunde zu richten gedenkt, steigen immer mehr journalistische Redaktionen, Medienprojekte und andere, die was mit Medien machen, aus, etwa wegen der "Zunahme von Desinformation und Hassinhalten und dem Verhalten des Eigentümers Elon Musk, der selbst rassistische, antisemitische und populistische Inhalte verbreite". Zum Beispiel: das Recherchenetzwerk Correctiv. Die deutsche Wikimedia. Die Hauptstadt- und Medienredaktion des Deutschlandfunks. Die Neuen Deutschen Medienmacher:innen. Oder das "Y-Kollektiv".
"Y-Kollektiv"
WTF! Der preisgekrönte Youtube-Kanal verabschiedete sich aus dem öffentlich-rechtlichen jungen funk-Netzwerk, genau wie die Formate der Marke "Deutschland3000". Denn, OMG!, sie sind zu alt für funk. Dafür, voll nice, laufen die Videos des "Y-Kollektivs" und von "Deutschland3000" nun aber in der ARD-Mediathek. Und ältere Herrschaften können daher endlich aufhören, "WTF", "OMG" und "voll nice" zu schreiben, wenn sie über sie schreiben.
"Zervakis & Opdenhövel. Live"
Der Versuch von ProSieben, zusätzlich zu den Unterhaltungsmarken auch die journalistischen Formate voranzubringen, ist ehrenwert, aber "Zervakis & Opdenhövel. Live" mit Linda Z. und Matthias O. wird eingestellt. Schade. Vielleicht war der Hybride aus Magazin und Unterhaltung zu hybrid? Ebenfalls nicht ins neue Jahr geht das Promi-Magazin "red". Die Marke bleibt erhalten, die Redaktion nicht.
[Anm. d. Red.: Produktionsschluss für diesen Rückblick war der 7. Dezember 2023.]