Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 31. Dezember 2023 Plattformen machen Sender platt
Hauptinhalt
31. Dezember 2023, 00:01 Uhr
Die größten Datenkraken werden immer größer. Streamingdienste werden teurer, bieten aber auch Werbefernsehen. Tiktok bleibt schneller. Springer macht "Bild TV" dicht und hofft auf KI. Was macht die Idee einer gemeinsamen Plattform der Öffentlich-Rechtlichen? Ein Jahresrückblick von Christian Bartels.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Die Plattformkonzerne und Datenkraken
Rund um die milliardenschweren Plattformkonzerne gibt es viele Zahlen. Schon weil die Nutzung ihrer Angebote durch Millionen bis Milliarden Menschen jede Menge Daten und Zahlen erzeugt. Und weil die Konzerne solche Zahlen schon wegen ihrer Werbewirkung gerne verkünden. Listen der meistgegoogelten Begriffe oder der meistgenutzten Youtube-Videos aller Zeiten machen schließlich gespannt. Insofern werden die großen Konzerne immer noch stärker und reicher. Die "FAZ" (€) errechnete im September, dass bei Plattformen
"... mehr als 80 Prozent der Marktwerte auf amerikanische Unternehmen entfallen, während der Anteil der Region Asien-Pazifik ... sich seit dem Jahr 2017 auf 15,8 Prozent fast halbiert hat. Europas Anteil hat sich in diesem Zeitraum ebenfalls halbiert – von 4 auf 2 Prozent."
Die Rangliste der "100 größten Medien- und Wissenskonzerne" des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM), die notwendigerweise noch auf Zahlen des abgeschlossenen Jahres 2022 basiert, zeugt von der Dominanz der Datenkraken. Der Google-Konzern Alphabet, zu dem auch Youtube gehört, belegt Platz eins mit mehr als doppelt soviel Umsatz wie der zweitplatzierte, der klassische Medienkonzern Comcast. Im dritten Quartal 2023 machte er mit über 69 Milliarden US-Dollar elf Prozent mehr Gewinn als im Vorjahreszeitraum. Der Facebook-Konzern Meta sowie Apple, Amazon und Microsoft folgen in der IfM-Liste auf den Plätzen drei, sieben, acht und elf. Apple kann mit fast 3.000 Milliarden Dollar Börsenwert als wertvollste Firma der Welt gelten. Doch die Liste berücksichtigt nur Geschäftsfelder, die sie dem Bereich "Medien" zuordnen. Worüber sich natürlich streiten lässt.
Klar jedenfalls: Medieninhalte zählen längst nicht mehr zu den großen Geschäftsfeldern. Profitabler ist es, Betriebssysteme (wie Apple und Microsoft) anzubieten. Oder Netzwerke, in die klassische Medien ihre Inhalte einspeisen, um Publikum zu erreichen, und in denen viele Menschen viel Zeit verbringen, um alle möglichen, algorithmisch empfohlene Inhalte (und Werbung) zu konsumieren. Noch profitabler wird es, wenn viele Menschen auch selber attraktive Inhalte erstellen wollen, nicht zuletzt, um an den Einnahmen aus der Werbung zu partizipieren. Die Plattformkonzerne produzieren allesamt keine oder kaum eigene Inhalte. Die Ausnahme Amazon, das erfolgreich einen Streamingdienst betreibt, bestätigt diese Regel. Amazon nutzt "Amazon Prime" vor allem, um als weltgrößter Onlinehändler Kunden zu binden.
Für Deutschland errechnete die Organisation der Mediaagenturen für 2023 ein Werbeeinnahmen-Wachstum
"bei Youtube (plus 12 Prozent auf 888 Millionen Euro), ... bei Meta (plus 10 Prozent auf 530 Millionen Euro), Prime (57 Millionen Euro) und Tiktok mit 12 Prozent auf dann 220 Millionen Euro."
Das heißt, dass klassische, redaktionelle Medien wie Fernsehsender und Zeitungen (auch in Form von Onlineangeboten) Werbeeinnahmen verlieren. Nicht zuletzt, "weil die Refinanzierung der Medienvielfalt und des Journalismus durch Werbung zunehmend infrage" steht (horizont.net), haben die OMG und viele andere Institutionen, darunter die ARD, 2024 zum "Jahr der Nachricht" ausgerufen. Außer "auf die Bedeutung von vertrauenswürdigen Informationen aufmerksam" gemacht zu werden soll auch dafür gesorgt werden, dass nicht alle Werbegelder zu Google, Facebook und Co fließen. Deutsche Medien thematisieren die immer noch erdrückendere Dominanz der Plattformen selten. Nur ein eher kurioser Aspekt erhielt viel Medien-Aufmerksamkeit: der Niedergang von Twitter, das inzwischen "X" heißt. Schlagzeilen à la "Elon Musk hat Twitter-Wert innerhalb eines Jahres mehr als halbiert" gab es oft. Freilich kann Musk, je nach Börsenwerten seiner Firmen (zu denen unter anderem Tesla, das Raumfahrtunternehmen Space X und der Satelliteninternet-Anbieter Starlink gehören), als reichster Mensch der Welt gelten.
"Es gilt natürlich immer noch Riepls altes Gesetz: Neue Medienformen marginalisieren die älteren", sagt IfM-Gründer Lutz Hachmeister auf Altpapier-Anfrage. "Nun marginalisieren die Plattformen die früheren 'Sender'. Die Dominanz der US-Techkonzerne prägt sich vor allem im Werbemarkt aus, und da sehe ich auch kein Zurück. Doch irgendwann wird es wieder einen neuen 'Master Switch' geben, wie Tim Wu ihn beschrieb."
Ob, oder eher: wie sehr solch ein disruptiver "Switch" im Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Medien und im Journalismus besteht, zählt zu den gerade großen Fragen. Was dabei kein Anlass für Optimismus ist: Dass der erwähnte Datenkrake Microsoft Milliarden in die gewinnorientierte Einheit des eigentlich gemeinnützigen KI-Unternehmens OpenAI gesteckt hat, dessen Produkt ChatGPT übers ganze Jahr 2023 viel diskutiert und ausprobiert wurde.
Disney, Sky und Co
Disney feierte 2023 100-jähriges Bestehen. Der durch Zeichentrick groß gewordene Konzern ist mit Disney+ spät in den Markt der Streamingdienste eingestiegen. Hierzulande produzierte Disney ambitionierte Serien wie "Deutsches Haus" – ohne sich darum zu sorgen, ob solche Inhalte zum Image familienfreundlichen, durch Spielzeuglizenzen weiterverwertbaren Entertainments passen. Die Strategie war einerseits erfolgreich. Mit rund 150 Millionen Kunden belegt Disney+ hinter Netflix (rund 240 Mio.) und Amazon Prime weltweit Platz drei.
Andererseits ist sie teuer. Disney hat "Verluste von mehr als zehn Milliarden Dollar ausgewiesen" ("FAZ"). Im seit Jahren laufenden "krassen Verdrängungswettbewerb" (Altpapier-Rückblick 2021) scheint der Höhepunkt sowohl der Zahlungskraft des potenziellen Publikums als auch des Gesamtausstoßes an Serien, Filmen und Dokus überschritten. Immer wieder kündigen Anbieter von Netflix bis zum Musikstreamer Spotify sowohl an, ihre Preise zu erhöhen, als auch weniger zu investieren. In Deutschland erregte die Ankündigung des ursprünglichen Pay-TV-Anbieters Sky Aufsehen, keine fiktionalen deutschen Serien mehr zu produzieren. Die Sky-ARD-Koproduktion "Babylon Berlin" und die "Das Boot"-Remakes waren viel gesehen worden. Doch gehört Sky inzwischen über die englische Mutter (die wesentlich für weiter steigende Milliarden-Einnahmen der englischen Fußball-Premier-League sorgt) zum erwähnten US-Konzern Comcast. Der wollte die deutsche Tochter schon 2022 verkaufen, fand aber niemanden, der genug zahlen wollte.
Die Zahl der Anbieter von Streamingdienst-Abonnements wird sinken. Und die verbleibenden Anbieter werden im Zweifel lieber auf leichter vermarktbare, englischsprachige Produktionen setzen. 2022 wurden in Europa für fast 21 Milliarden Euro Serien und Filme (wie Netflix' deutscher Oscar-Gewinner "Im Westen nichts Neues") produziert, ermittelte die EU. Auch dieser Rekordwert dürfte nicht mehr erreicht werden.
Tiktok bleibt schneller
Oben klang an: In Marktwert-Milliarden gemessen, sank die Bedeutung asiatischer Medienkonzerne. In der IfM-Liste belegen Tencent und Bytedance aus China weiter die Plätze 5 und 6. Vor allem Bytedance besitzt globale Bedeutung: Dem Konzern aus Peking gehört Tiktok. Oder doch nicht so ganz? In vielen, in den USA, aber auch in Frankreich schärfer als in Deutschland geführten Diskussionen beteuert Tiktok, nicht aus dem kommunistischen Einparteienstaat China kontrolliert zu werden. "ByteDance sei zu 60 Prozent im Besitz westlicher Investoren. Der Firmensitz liege auf den Cayman-Inseln in der Karibik", begegnet das Unternehmen Kritik (spiegel.de). Tiktoks EU-Sitz befindet sich in Dublin, wo wegen wenig Steuern und wenig Datenschutz sich auch kalifornische Plattformen am liebsten ansiedeln.
2023 prägten außer Kriegen auch antizipierte weitere geopolitische Auseinandersetzungen. China, das in der Medienfreiheitsliste der Reporter ohne Grenzen den vorletzten Platz belegt, wird immer noch kritischer gesehen als vor allem Deutschland es lange betrachtete.
Dennoch wird das schnelle Tiktok auch hierzulande schneller größer als seine kapitalstarke Konkurrenz. "Fast 21 Millionen Nutzer" werden derzeit gezählt (spiegel.de). Vor vier Jahren waren es 5,5 Millionen, vor sechs ist Tiktok als internationale Version der chinesischen App "Douyin" erst entstanden. Im globalen Medienecho auf das Massaker der Hamas-Terroristen in Israel und den folgenden israelischen Verteidigungskrieg zeigte sich, wie rasant und auch in Deutschland wirkungsmächtig politische Inhalte dort zirkulieren. Tiktok ist der "derzeit größte Medienwandel-Treiber", hieß es in diesem Altpapier. Ob es der EU mit ambitiösen Gesetzen wie dem DSA (Digitale-Dienste-Gesetz) gelingen wird, zumindest in Europa einige Regeln auf solchen Plattformen durchzusetzen, muss sich zeigen.
Bertelsmann bleibt stabil, ProSieben nicht so
"Internationaler Medien-, Dienstleistungs- und Bildungskonzern" nennt sich Bertelsmann inzwischen und läuft stabil, was sich in einem sicheren Platz in den Top 20 der Medienkonzerne-Rangliste und in 1,9 Prozent mehr Konzernumsatz in den ersten drei Quartalen 2023 ausdrückt. Die ungeschickte Abwicklung der Verlags-Tochter Gruner+Jahr empörte über die Medienblase hinaus kaum. (Nominell sowie als Logo gibt's G+J inzwischen wieder). Zwar stellte medieninsider.com eine "Chronik eines Scheiterns" von Bertelsmann-Chef Thomas Rabe zusammen. Doch das Scheitern der Idee jeweils "nationaler Medienchampions", die in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland mit den meist US-amerikanischen Plattformen hätten konkurrieren können, lässt sich kaum Rabe vorwerfen. Es hängt eher damit zusammen, dass in Europa die Kartellbehörden das dynamische Zusammenwachsen der Medien nicht auf dem Schirm haben, sondern auf Basis überholter Gesetze urteilen. Auch daher sinkt die Bedeutung europäischer Medienunternehmen kontinuierlich.
Einst ein starker Wettbewerber von Bertelsmanns RTL, verliert ProSiebenSat.1 weiter an Bedeutung. Die zeitweise im Dax, also dem Index der (damals nur 30) größten deutschen Börsenfirmen vertretene Fernsehgruppe stieg gerade aus dem MDax in den SDax noch kleinerer AGs ab. Ein paar freundliche Schlagzeilen erzielte P7S1-Chef Bert Habets mit der alten Idee einer gemeinsamen deutschen Video-Plattform. Dabei ist dieser einst diskutable Vorschlag längst illusorisch. Weder das Familienunternehmen Bertelsmann, noch die unter ganz anderem Druck stehenden Öffentlich-Rechtlichen würden ernsthaft wesentliche Inhalte unter dem Logo von P7S1 präsentieren. Weiter stärker im P7S1-Eigentümerkreis werden tschechische Investoren und der italienische Konzern der Berlusconis, der inzwischen den hübschen Namen "Media for Europe" (MFE) trägt. Eine privatwirtschaftliche europäische Kooperation – könnte das eine Perspektive für P7S1 sein? Hierzulande dürfte sie auf Widerstand der Medienwächter treffen, die sich mit den Plattform-Datenkraken nicht anlegen können oder wollen und MFE noch wegen des im Juni gestorbenen Silvio Berlusconi aus dem 20. Jahrhundert auf dem Kieker haben.
Was werbefinanzierten Privatsendern 2023 massiv zu schaffen macht: scharfe Konkurrenz nicht nur durch die Plattformen, sondern auch durch Streamingdienste. Sie wurden zwar teurer, bieten aber auch billigere Abos, wenn Kunden Werbung akzeptieren. Heißt: Genau die Bewegtbild-Werbung, die einige Jahrzehnte lang die lukrative Haupt-Einnahmequelle des Privatfernsehens war, wandert oft zu Netflix, Disney und sogar Amazon. Und zu Googles Youtube ja sowieso.
Weshalb ein spätes Privatfernseh-Experiment 2023 früh endete: Springers "Bild TV" kam auf keinen grünen Zweig. Nun setzt Springer auf KI und verkündete "eine globale Partnerschaft" mit OpenAI, um "das Nutzungserlebnis mit ChatGPT um aktuelle und verlässliche Inhalte zu ... bereichern". Eine lukrativere Idee als das totgerittene Pferd des linearen Fernsehens zu reiten, dürfte das sein. Wie sie sich auswirkt, muss 2024 beobachtet werden.
ARD, ZDF und die Idee der gemeinsamen Plattform
Ein starker Player aus Deutschland verdient wie immer an dieser Stelle noch Erwähnung, schon weil er über zwar nie stark steigende, dafür aber enorm sichere Einnahmen verfügt: die öffentlich-rechtlichen Anstalten. ARD und ZDF sehen sich selbst nicht als Konzerne. Das IfM stuft sie auf den Plätzen 33 und 86 seiner Top100 ein. Ob 2024 eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 58 Cent pro Monat ab 2025 beschlossen werden wird, wird weiter heftig diskutiert werden. Zusammengenommen dürften ARD, ZDF und der Deutschlandfunk schon 2023 "erstmals mehr als 10 Milliarden Euro" eingenommen haben, errechnete das IfM im Frühjahr aus den Haushaltsplänen der Anstalten, also nach deren Angaben.
Angesichts einer globalen Gemengelage, in der turbokapitalistische Plattformkonzerne immer dominanter werden und nachweislich krasse Polarisierung dynamisieren – müssten die Öffentlich-Rechtlichen mit ihren supersicheren Einnahmen nicht viel stärker an einer schlagkräftigen, gemeinsamen und gemeinwohl-orientierten Plattform arbeiten? An einer vielfältigen Mediathek, in der aktuelle Inhalte kontrovers diskutiert werden und ein großes Archiv spannende Inhalte aus allen Epochen der jüngeren Mediengeschichte bietet, so wie Googles Youtube es jeweils leistet?
Die von der zähen Medienpolitik geforderte Kooperation der Mediatheken macht kleine Fortschritte. Man kann in der ARD-Mediathek die "Heute-Show" des ZDF und in der ZDF-Mediathek den "Tatort" sehen, lobt ZDF-Verwaltungsrats-Mitglied Leonhard Dobusch. Beim Suchen "wird man mit vielen Dopplungen zugemüllt", kritisiert Medienwissenschafts-Professor Hermann Rotermund und konstatiert "eine große Menge ungelöster Probleme". Offenkundig wollen die Öffentlich-Rechtlichen derzeit vor allem die jeweils eigenen Markennamen und Logos stärken. Was meint Lutz Hachmeister?
"Ich glaube schon, dass eine gemeinsame Mediathek von ARD, ZDF und DLF sinnvoll wäre. Um mit attraktivem Output gegen internationale Plattformen konkurrieren zu können, müsste man aber europäisch denken und vor allem die BBC dabei haben."
Es wäre gut, wenn 2024 auch über solche ambitionierteren Konzepte diskutiert würde.