Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 28. Dezember 2023 Faktenchecks kommen fast immer zu spät
Hauptinhalt
28. Dezember 2023, 14:02 Uhr
Warum übernehmen zu viele Journalistinnen und Journalisten von Politikern Begriffe wie "irreguläre Migration" und "illegale Migration"? Wie konnte es Vertretern mehrerer Parteien gelingen, beim Thema Bürgergeld in der Öffentlichkeit ein Zerrbild zu etablieren? René Martens widmet sich in seinem Jahresrückblick dem journalistischen Umgang mit Falschinformationen aus dem Politikbetrieb.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wem die Wahrheit egal ist
Friedrich Merz wird die zweifelhafte Ehre zuteil, für den vielleicht bekanntesten Fall von Desinformationsverbreitung im Politik-Milieu in diesem Jahr verantwortlich zu sein. Ende September gab es kaum ein Entkommen vor seinen nicht allzu wirklichkeitsgesättigten Äußerungen zu zahnärztlichen Leistungen für Asylbewerber.
Die Hemdsärmeligkeit im Umgang mit Wahrheit und Empirie hat bei Politikerinnen und Politikern in diesem Jahr allerdings generell zugenommen. Das ist indirekt kein positiver Befund für die Medien der Republik. Offenbar setzen sie dieser Haltung zu wenig entgegen, sonst würden es sich Politikerinnen und Politiker vielleicht anders überlegen. Es gibt durchaus angemessene journalistische Reaktionen auf Desinformationen, in Sachen Merz und Zahnbehandlungen sind in diesem Altpapier welche erwähnt, und in diesem Rückblickstext kommen positive Beispiele zu anderen Themen vor. Insgesamt ist der mediale Umgang mit den Desinformations-Kapriolen von hochrangigen Politikern aber unbefriedigend.
Aufschlussreich für das Selbstverständnis von Politikerinnen und Politikern ist es, wie sie reagieren, wenn sie von Journalisten auf die Verbreitung von Desinformationen angesprochen werden. Und es sagt möglicherweise auch viel aus über den Grad ihrer Geringschätzung für Journalisten, die es genau nehmen. Ich habe für diese Kolumne drei Beispiele ausgewählt.
Im Windschatten von Friedrich Merz spielte im September auch seine Parteikollegin Julia Klöckner die Zahnbehandlungskosten-für-Asylbewerber-Karte - und verbreitete bei X eine absurd hohe Summe. Die basierte auf einer Meldung des "Spiegel", die das Magazin aber schnell transparent korrigierte. Bis heute, zumindest bis zum Redaktionsschluss dieser Kolumne (19. Dezember), steht der X-Post mit der falschen Zahl übrigens online - inclusive eines Screenshots einer "Spiegel"-Text-Passage, die nach der Korrektur der Redaktion gar nicht mehr existiert.
Sebastian Leber schrieb kurz darauf in einer Wochenendkolumne für den "Tagesspiegel", dass ihn dieser dubiose X-Post dazu animiert habe, sich intensiver mit Klöckners Realitätsauffassung zu beschäftigen. Ergebnis: weitere ähnliche "Fälle". Was ihn oder die Redaktion dann zu der Überschrift "Die Fake News der Julia Klöckner. Unehrlichkeit als roter Faden einer Karriere" inspirierte.
Leber bekam von Klöckner auf Nachfrage keine Antwort, und der im Heimat-Bundesland der Politikerin ansässige "Trierische Volksfreund", der den "Tagesspiegel"-Text aufgegriffen hatte, bekam zu hören, Klöckner kommentiere grundsätzlich "öffentlich keine Presseartikel mit Blick auf deren Wahrheits- und Spekulationsgehalt".
Was man Klöckner zu Gute halten kann: Zumindest hat sie nicht gesagt: "Wenn die ursprüngliche 'Spiegel'-Meldung gestimmt hätte, hätte ich ja recht gehabt." Mit so einer Begründung hat sich nämlich kürzlich Markus Söder aus der Affäre zu ziehen versucht. Er war in diesem Monat bei X auf eine auf Falschinformationen basierende Kampagne gegen eine Hamburger Kita aufgesprungen (siehe Altpapier, "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung"), und kurz darauf wurde er auf einer Pressekonferenz darauf angesprochen, warum er den Post nicht löschen würde. Wie "Kontext" und die "Frankfurter Rundschau" berichteten, sagte Söder daraufhin:
"Die Nachricht ging so durch die Welt. Und wenn es so gewesen wäre, hätte ich ja recht gehabt."
"Kontext" kommentiert:
"Wenn die Erde wirklich eine Scheibe wäre, dann hätten die Flat Earther recht gehabt (…) Söder ist sowas nicht einmal mehr peinlich."
Und die FR schrieb:
"Der bayerische Ministerpräsident (konstruiert) sich eine Welt, in der er selbst Recht behält."
Hubert Aiwanger, der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Söder, ist konsequenterweise ähnlich drauf wie sein Chef: Als ihn das Magazin "Kontraste" darauf ansprach, dass er sich in einer Rede polemisch auf eine in der Form gar nicht existierende vermeintliche Fleischverbrauchs-Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bezogen hatte, sagte der Politiker:
"Ich lasse mich hier nicht abwimmeln nach dem Motto: Naja, Aiwanger hat wieder mal überreagiert."
Unzulässige Begriffe in der Migrationsdebatte
Der Journalist und Buch-Herausgeber Sebastian Pertsch hat eine Woche vor Weihnachten via Mastodon eine immer mal wieder notwendige Botschaft verkündet:
"Liebe Kolleg*innen, wenn Rechtspopulisten [sic!] von 'irregulärer Migration' reden, sollte man das in Publikationen mindestens in Anführungszeichen setzen."
Zu dem, was Pertsch sagt, wäre zweierlei zu ergänzen: Es gilt auch für den Begriff "illegale Migration" (mit dem auch unser MDR nicht geizt). Wer einen kurzen Überblick darüber bekommen möchte, welche Medien "irreguläre Migration" nicht in Anführungszeichen setzen, dem sei eine Screenshot-Montage am Beginn eines Artikels der NGO Pro Asyl empfohlen.
Im September erschien im "Tagesspiegel" ein geduldig formuliertes Manual für Teilnehmer an der öffentlichen Migrationsdebatte. Zu Wort kommt unter anderem ein 2008 von mehreren Stiftungen gegründeter Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR):
"Der SVR empfiehlt, nicht von irregulären Migrant:innen zu sprechen, sondern von irregulär aufhältigen Migrant:innen, um zu betonen, dass nicht der Mensch irregulär oder illegal ist, sondern sein Aufenthalt."
Im erwähnten Pro-Asyl-Beitrag heißt es:
"Wenn von einer 'illegalen' Einreise gesprochen wird, schwingt mit, dass die Menschen dabei eine Straftat begehen würden (…) Dabei ist zum Beispiel in Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Deutschland und 148 weitere Staaten unterzeichnet haben, geregelt, dass fliehende Menschen nicht wegen einer unerlaubten Einreise bestraft werden dürfen."
Der SVR empfiehlt zum Beispiel die Formulierung "irregulär aufhältigen Migrant:innen", die aber wiederum nur für eine Minderheit zutrifft, nämlich für "Ausländer:innen aus (…) Nicht-EU-Ländern (…), die sich ohne Aufenthaltsstatus oder Duldung in Deutschland aufhalten". Während in der Berichterstattung in der Regel der Eindruck erweckt wird, dass diese Gruppe dominiert.
In diesem Zusammenhang ist instruktiv, was der Politik- und Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl, gegenüber Altpapier-Autorin Annika Schneider im Deutschlandfunk gesagt hat:
"Wir reden (…) in der Öffentlichkeit darüber, als ob alle Menschen, die hierher kommen, keinen Schutzbedarf hätten, das Gegenteil ist der Fall."
Eines der maßgeblichen Interviews zum Thema Migration hat in diesem Jahr der Historiker Patrice Poutrus gegeben, es ist im Oktober bei Zeit Online erschienen. Dort benennt er unter anderem folgenden wichtigen Aspekt:
"Man sollte nicht glauben, dass in dieser Frage Frieden herrscht, wenn nur die Zahlen niedrig sind. Als die bundesdeutsche Asyldebatte Mitte der Siebzigerjahre richtig Fahrt aufnahm, waren die Zahlen so niedrig, wie wir uns das heute gar nicht mehr vorstellen können. Damals ging es um etwa 10.000 Anträge im Jahr."
Seit ungefähr dieser Zeit, seit Beginn der Strukturkrise, glaube die Bundesrepublik, "dass sich mit einer Rückkehr zur Nicht-Zuwanderung die Probleme lösen ließen", ergänzt er auf Altpapier-Nachfrage. Das sei "prägend für die politische Kultur" und damit auch für die Journalisten, "die Teil dieser Kultur sind".
Dieser Irrationalismus scheint so stark im Mindset von Journalisten verankert zu sein, dass sich damit zum Teil erklären ließe, warum sie so anfällig sind für Erzählungen von Politikern, die, wie Poutrus sagt, durch "Vereinfachungen Handlungsfähigkeit zu demonstrieren versuchen".
Gegen die Armen geht immer
Zu den Themenbereichen, in denen die vom ehemaligen Donald-Trump-Berater Steve Bannon formulierte Devise "Flood the Zone with shit" am intensivsten beherzigt wird, gehört die Debatte um das Bürgergeld.
Friedrich Merz zum Beispiel sagte am 6. September im Bundestag einen Satz, der seit Monaten in ähnlicher Form von zahlreichen Politikerinnen und Politikern zu hören ist:
"Die Menschen gehen nicht zurück in die Beschäftigung, weil sie sich ausrechnen können, dass sie mit staatlichen Transferleistungen am Ende des Jahres mehr herausbekommen, als wenn sie in einer einfachen Beschäftigung arbeiten."
Das "Handelsblatt" hat relativ früh darauf reagiert, nämlich tags darauf, und zwar unter anderem mit einem Verweis auf die Grünen-Sozialpolitikerin Beate Müller-Gemmeke, die betont, "dass von den aktuell 5,5 Millionen Bezieherinnen und Beziehern von Bürgergeld nur etwa 1,6 Millionen überhaupt arbeitslos gemeldet sind", dass also zum Beispiel der Fokus von Merz und Co. mindestens irreführend ist.
Und "Monitor" hat ebenfalls in einem angemessenen Zeitrahmen reagiert (die Sendung läuft ja nur alle drei Wochen). In dem Beitrag heißt es zum Beispiel:
"Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut hat für 'Monitor' das durchschnittliche verfügbare Einkommen für verschiedene Haushaltstypen berechnet, also inklusive aller staatlichen Leistungen. Alleinstehende Bürgergeldbezieher haben demnach 966,- Euro, ein Vollzeit-Arbeitender mit Mindestlohn 1.498,- Euro, ein Unterschied von 532,- Euro."
Wie es gar nicht geht, zeigt dagegen der Umgang mit einer Äußerung der CDU-Politikerin Astrid Hamker zum Thema Bürgergeld. Sie ist die Präsidentin des Wirtschaftsrates ihrer Partei. Im November äußerte sie folgenden Satz, den via Nachrichtenagenturen FAZ, "Tagesspiegel" und "Welt" ungeordnet verbreiteten:
"Die wahren Ursachen der Finanzprobleme dieser Bundesregierung heißen Bürgergeldeinführung, Bürgergelderhöhung und Einführung der Kindergrundsicherung."
Was Journalisten, die Hamker zitierten, hätten tun können: Einen Blick auf die Website des Bundestags werfen, wo sich seit August Details zum voraussichtlichen Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales fürs kommende Jahr finden:
"Im Haushaltsentwurf 2024 (…) (sind) Ausgaben in Höhe von 171,67 Milliarden Euro (vorgesehen) (…) Der Löwenanteil der Zuweisungen und Zuschüsse entfällt auf die Rentenversicherung und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Dafür sieht der Entwurf 126,87 Milliarden Euro vor (2023: 121,05 Milliarden Euro) (…) Die Kosten für das Bürgergeld, vormals Arbeitslosengeld II, sind im Entwurf mit 24,3 Milliarden Euro festgelegt (2023: 23,76 Milliarden Euro)."
Nach diesen Berechnungen entfallen auf das Bürgergeld etwas mehr als 14 Prozent, es geht also um eine ganze andere Dimension als Hamker suggeriert. Es wäre angemessen gewesen, wenn die Agenturen und/oder die Zeitungsredaktionen ihre Artikel mit einem nüchternen, die tatsächlichen (Prozent-)Zahlen aufgreifenden Satz abgebunden hätten. Zumal es ja nicht völlig unüblich ist, dass ein nachrichtlicher Text, der Äußerungen eines Politikers oder mehrerer Politiker zusammenfasst, mit einer einordnenden kurzen Zusatzinfo ausklingt.
Wer sich bei der Berichterstattung zum Bürgergeld die Arbeit macht, die sich viele Journalistinnen und Journalisten offenbar nicht machen: zum Beispiel ein Sozialarbeiter, der bei Mastodon und Bluesky als @sozi_simon unterwegs ist. Hier nimmt er sich einen Artikel der WAZ vor und liefert einen Screenshot einer Passage, in dem er von der Zeitung übernommene Falschbehauptungen eines Essener Lokalpolitikers direkt korrigiert. Die WAZ selbst indes hat ihren Text nicht richtig gestellt.
Auch wenn es lobenswerte journalistische Beiträge zum Bürgergeld gab: In der Bevölkerung durchgesetzt haben sich die Falschbehauptungen der Politik bzw. "die Klischees und Zerrbilder", wie es "ZDF heute" im Dezember in einem Beitrag formuliert.
"64 Prozent der Menschen in Deutschland sind (…) der Meinung, dass am unteren Ende der Gesellschaft gespart werden soll",
heißt es in dem Text einigermaßen resigniert. Die Zahl stammt aus einer Befragung von Infratest Dimap.
Indirekt hat dazu Hape Kerkeling in einem "Zeit"-Interview etwas Kluges gesagt:
"Eigentlich strebt doch der Mensch danach, dass es ihm besser geht. Im Moment scheint es mir aber, dass es vielen Menschen reicht, wenn es den anderen schlechter geht. Dass sie sich dann besser fühlen. Das ist eine schlimme Tendenz. Da fängt Faschismus an."
Welchen Anteil Medien an dieser Entwicklung haben - dazu wäre noch eine genauere Betrachtung erforderlich.
Fleischverbotsbeschwörungen und angebliche Heizungsrausreißorgien
Die Verbreitung von Falschinformationen und mindestens irreführenden Nebensächlichkeiten in der Berichterstattung zu den Themen Energiepolitik und Wärmewende wäre einen eigenständigen Altpapier-Jahresrückblick wert. Daher sei das Thema hier eher kompakt abgehandelt. Peter Unfried schrieb in "taz futurzwei" gerade (siehe Altpapier): "Die Wärmepumpen-Katastrophen-Inszenierung der Transformationsgegner" habe, "jedenfalls in weiten Teilen der Mediengesellschaft", den "Eindruck" durchgesetzt, "unsere größte Katastrophe bestünde im Einbau von vereinzelten Wärmepumpen.
Unfrieds Fazit:
"Ernsthafte Klimapolitik klickt aber eben auch nicht gut, während Fleischverbotsbeschwörungen und angebliche Heizungsrausreißorgien wirklich gut laufen."
Eine der groteskesten in den Medien gefeierten "Orgien" thematisierte Malte Kreutzfeldt, der für die Fachnewsletter-Redaktion Table Media arbeitet, in einem Gastbeitrag für den "Volksverpetzer" - unter der Headline "Wie aus 12.400 auszutauschenden Heizungen vier Millionen wurden".
Hätte sich Jessy Wellmer besser auf Christian Dürr vorbereiten müssen?
Ende November sagte Christian Dürr, der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag, bei "Berlin direkt" im Interview mit Diana Zimmermann zum Thema Schulden und Schuldenbremse:
"Die Schuldenquote geht, seitdem Christian Lindner Finanzminister ist, in Deutschland zurück."
Tags darauf äußerte er sich fast wortgleich in den "Tagesthemen" im Gespräch mit Jessy Wellmer ("Seitdem Christian Lindner Finanzminister ist, ist die Schuldenquote ja gesunken") und betonte den Erfolg der gesunkenen Quote gleich mehrmals.
Während weder Zimmermann noch Wellmer die Äußerung hinterfragten, taten dies nach dem Interview in den "Tagesthemen" in Mastodon-Threads der bereits erwähnte Malte Kreutzfeldt und der Soziologe Floris Biskamp. Letzterer schreibt zum Beispiel:
"Die Schuldenquote ist in der Tat gesunken, aber vor allem aufgrund der Inflation (…) Der Quotient (sinkt) bei hoher Inflation fast automatisch (…) Mit strenger oder gar kluger Finanzpolitik hat das aber nichts zu tun."
Und Kreutzfeldt:
"Der Rückgang der deutschen Schuldenquote zeigt (…) gerade nicht, dass die nationale Schuldenbremse notwendig ist. Vielmehr zeigt sich daran, dass die Schuldenquote auch bei fortgesetztem Verstoß gegen die Schuldenbremse zurückgeht, wenn das BIP entsprechend wächst."
Der Redaktion von "ARD aktuell" kann man vorwerfen, dass sie das ZDF-Interview mit Dürr kannte. Sie hätte also darauf vorbereitet sein können, dass er wieder mit dieser Desinformationsvolte kommt. Jessy Wellmer hätte ihn sogar von sich aus darauf ansprechen können.
Schwerer wiegt aber noch das Agieren des ZDF, weil es im nachträglichen Text zum "Berlin direkt"-Interview eine Einordnung unterlässt. Die wäre ja als Anmerkung unter dem Artikel möglich gewesen. Noch weniger verständlich: Stefan Heinlein lässt Dürr die "Schuldenquote"-Nummer sogar rund zwei Wochen später noch in einem Deutschlandfunk-Interview durchgehen.
Lösungsoptionen: Verdächtige Äußerungen sofort einordnen oder weglassen
Christian Dürr, Julia Klöckner, Markus Söder - der Verdacht, dass sie und die anderen hier kritisierten Politiker auch weiterhin irreführende oder nicht zwingend realitätsnahe Äußerungen verbreiten werden, liegt nicht fern, und es wäre wünschenswert, wenn Journalistinnen und Journalisten jeden Satz von ihnen prüften, bevor sie sich an der Verbreitung beteiligten. Wenn sie falsch sind oder unplausibel oder einen falschen Eindruck erwecken, muss man einen Weg finden, das in dem Beitrag deutlich zu machen.
Eigentlich lassen sich solche Maßnahmen durchaus aus den Staatsverträgen und Landesmediengesetzen ableiten. Im NDR-Staatsvertrag steht zum Beispiel:
"Der NDR ist in seinem Programm zur Wahrheit verpflichtet", heißt es zum Beispiel.
Und im MDR-Staatsvertrag:
"Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen."
Und im Berliner Pressegesetz:
"Die Presse hat alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Wahrheit und Herkunft zu prüfen."
Was bei Politiker-Statements meistens nicht zielführend ist: Sie in nachgereichten "Faktenchecks", also separaten Beiträgen zu prüfen. Was korrigiert werden muss, sollte in der Regel da korrigiert werden, wo es verbreitet wird. Bei Live- oder Live-on-tape-Interviews im Fernsehen oder Radio ist das gewiss am Schwierigsten, man kann sich aber auf zu erwartende Falschbehauptungen vorbereiten. Hier braucht es ein anderes Verantwortungs- und Selbstbewusstsein der Interviewenden.
Dass es Politiker-Statements gibt, für deren Widerlegung man einen Tag Recherche braucht, ist natürlich möglich, aber es dürfte kaum die Regel sein.
Inwiefern Faktenchecks grundsätzlich einen Haken haben - darüber hat Klaus Raab im Oktober im Altpapier geschrieben, ausgehend von einem Vortrag, den der Soziologe Nils Kumkar beim Frankfurter "Forum Medienzukunft" gehalten hatte:
"Es geht – zumindest bei bestimmten Triggerthemen – gar nicht unbedingt darum, dass diejenigen, die desinformiert oder vermeintlich desinformiert sind, die Fakten nicht kennen oder sich einen Bären haben aufbinden lassen (…) Stattdessen gebe es – etwa im Streit um Corona-Maßnahmen – eine Leugnungskommunikation, die 'immun gegen Faktenchecks’ sei."
Kumkar wiederum bezieht sich dabei auf Forschungsergebnisse, die er im Spätsommer 2021 in einem Arbeitsheft der Otto-Brenner-Stiftung veröffentlicht hatte (siehe Altpapier).
Dennoch: Faktenchecks haben natürlich ihren Wert, vor allem, wenn es darum geht, Falschinformationen zu den Kriegen dieser Welt zu entlarven. Dass bei der Wahl der "Journalisten des Jahres" im "Medium Magazin" in der Kategorie "Teams" Platz drei an die Faktenchecker von Correctiv ging, ist zum Beispiel nachvollziehbar.
Eine wichtige indirekte Anregung zum Umgang mit desinformierenden Inhalten lieferte im Mai die Neurowissenschaftlerin Maren Urner in einem Interview mit dem "Standard" (Altpapier):
"Die größte Aufgabe unserer Zeit ist, zu filtern. Journalismus ist ein Fokus-Business. Er muss also clever weglassen und auswählen, statt die maximale Anzahl an Mini-Snippets zu liefern, die sowieso keiner einordnen kann."
Urner fordert das aus medizinischen Gründen, es geht ihr um Krankheitsvermeidung: Journalismus, sagt sie, dürfe nicht darin bestehen, "unserem Steinzeithirn kurzfristig einen kleinen Kick zu geben und es im schlimmsten Falle zu überfordern und krank zu machen".
Der Kern ihrer Forderung ist, wie schon angedeutet, aber auch aus einer anderen, einer medienkritischen Perspektive relevant. Wenn in unserem "Fokus-Business" die zu verbreitenden Informationen strenger und mediengesetznäher ausgewählt werden würden, wäre das ein Fortschritt für die Debattenqualität.