Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 2. Januar 2024 Viel Sendezeit für Demokratiefeinde
Hauptinhalt
02. Januar 2024, 00:01 Uhr
Auch 2023 sind einige Redaktionen daran gescheitert, Rechtsextremismus konsequent zu entlarven. Die AfD-Umfragewerte steigen. Geht das jetzt immer so weiter? Ein Jahresrückblick von Annika Schneider.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Keine Partei wie jede andere
"Ich weise dieser Partei einen langen und entbehrungsreichen Weg. Aber es ist der einzige Weg, der zu einem vollständigen Sieg führt, und dieses Land braucht einen vollständigen Sieg."
(Björn Höcke, Januar 2017)
"Ich sage diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz ganz klar: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und zwar nur für das Volk gemacht, denn wir sind das Volk, liebe Freunde."
(Markus Frohnmaier, Oktober 2015)
"Wir werden auf den Gräbern tanzen."
(Andreas Kalbitz, September 2017)
Diese Zitate von (ehemaligen) AfD-Politikern finden sich in der "Zeit" und in dem Buch "Tatworte" des Journalisten Michael Kraske. Schon im Juni forderte die Cemas-Psychologin Pia Lamberty auf Twitter, dass die AfD-Berichterstattung öfter in den Vordergrund stellen solle, welche Folgen ein erstarkender Rechtsextremismus habe. Im vergangenen Jahr ging es aber immer noch viel zu oft um küchenpsychologische Analysen des "typischen AfD-Wählers" (dem Klischee nach alt, ostdeutsch und frustriert) und das Bestaunen immer neuer Umfragerekorde.
Anfang 2023 gaben bei der "Sonntagsfrage" 15 Prozent der Deutschen ihre Stimme der AfD (laut infratest dimap). Damals lagen die Union, die Grünen und die SPD in Umfragen noch vorne. Inzwischen ist die AfD auf über 20 Prozent und damit auf den zweiten Platz geklettert. Das heißt: Eine für die Demokratie brandgefährliche Partei ist für Wählerinnen und Wähler attraktiver als fast alle anderen Parteien – und das, obwohl der Verfassungsschutz gerade erst den dritten AfD-Landesverband als rechtsextrem eingestuft hat.Keiner will’s gewesen sein
Die für eine Medienkolumne relevante Frage lautet natürlich: Was hat das mit uns Journalistinnen und Journalisten zu tun? Die einfachste Antwort lautet: Nicht viel. Die Politik macht eben Politik und wir Medien berichten darüber. In dieser Logik ist die AfD "eine Partei wie jede andere", sollte in Sachen Sendezeit und Interviews fair behandelt und inhaltlich genauso befragt werden. Dafür, die AfD in die Schranken zu weisen, sind die anderen Parteien zuständig. Das ist die naive Antwort.
Die Bequeme lautet: Meine Güte, was können wir Medien denn schon tun? Ob wir AfD-Politiker nun interviewen oder nicht, ob wir ihre Provokationen nun ignorieren oder anprangern – Kritik hagelt es in jedem Fall, wir können es also gar nicht richtig machen. Dahinter steckt eine gewisse Denkfaulheit. Denn für die Strateginnen und Strategen der AfD ist es Teil ihres Plans, Medien für ihre Zwecke einzuspannen. Wenn es für sie gut läuft, setzen sie Themen und dominieren Debatten, dirigieren Gefühlslagen, generieren Aufmerksamkeit und erschaffen ein mediales, verharmlosendes Zerrbild ihrer selbst.
Um sich nicht auf diese Weise zum Lautsprecher degradieren zu lassen, gibt es durchaus Ideen, was Journalistinnen und Journalisten "richtig" machen können im Umgang mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus – eine Herausforderung, die im vergangenen Jahr viel und klug diskutiert wurde. Bevor die AfD 2024 mit den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg womöglich neue Höhenflüge einleitet, sollten "wir Medien" uns also noch einmal auf paar Dinge verständigen.
Plaudern mit Rechtsextremen
Der Blick ins vergangene Jahr macht erst einmal wenig Hoffnung. Es war das Jahr, in dem der "Stern" im Juni ein Interview mit der AfD-Spitzenpolitikerin Alice Weidel auf den Titel hob, das schon in der ersten Frage versuchte, dem Menschen hinter der Politik näher zu kommen und sie später nach ihren Plänen als mögliche Bundeskanzlerin befragte.
"Spiegel"-Journalistin Ann-Katrin Müller, seit einigen Jahren schwerpunktmäßig mit der AfD beschäftigt, war eine der vielen, die das Interview kritisierten. Es reiche nicht, Aussagen zu kontern oder kluge Nachfragen zu stellen, twitterte sie damals:
"Schriftliche, also autorisierte, Interviews funktionieren bei Menschen, die lügen, einfach nicht. Da kann man dann noch so hoffen, dass es sich 'entzaubert' oder selbst erklärt, wenn Weidel einfach lügt, dass es keine Rechtsextremen in der AfD gibt."
Im Fernsehen lief es nicht unbedingt besser: Das Sommer-Interview im MDR mit Björn Höcke nannte der Kommunikationsberater Johannes Hillje im "Tagesspiegel" einen "lebhaften Plausch mit einem Rechtsextremen". Als bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen Alice Weidel in der ARD kurz nach der Wahl ans Mikro trat, lautete die erste Frage: "Sie haben kräftig mitgejubelt, oder?" Und das ZDF betitelte einen Text nach der Wahl tatsächlich mit: "Die AfD kann jetzt auch Westen: Die Gründe".
All das trägt dazu bei, eine Partei zu normalisieren, die in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Oder wie der Journalist Michael Kraske es in einem Text im DJV-Magazin "Journalist" im Oktober ausdrückte:
"Dass die AfD demokratisch gewählt ist, macht sie nicht per se zu einer Partei mit demokratischen Inhalten und Personen. Das wird oft verwechselt und hat fatale Beschwichtigung zur Folge."
Ebenfalls Anlass zu flächendeckender Berichterstattung war im Juni die Wahl des ersten AfD-Landrats in Sonneberg in Thüringen, kritisiert unter anderem von Andrej Reisin bei "Übermedien":
"Jahrelang interessiert sich kein überregionales Medium für die permanente Auseinandersetzung zivilgesellschaftlicher Kräfte mit der AfD und dem Rechtsextremismus – aber sobald die Partei einen neuen Erfolg zelebriert, sind alle Kameras auf sie gerichtet. Denn davon lebt das Narrativ des 'rechten Ostens', das damit gleichsam zementiert wird."
Es komme zu einer doppelten Verstärkung von Vorurteilen: Auf der einen Seite grusele sich das Publikum vor den "Nazis im Osten", während die Menschen vor Ort sich als "Ossis, Provinzdeppen und Nazis" abgestempelt sähen. Aus Reisins Sicht fehlt vor allem die Perspektive der Zivilgesellschaft vor Ort – aber natürlich lässt sich eine Geschichte mit krawalligen O-Tönen besser verkaufen.
Routinierte Vermeidung
Auch zehn Jahre nach Gründung der AfD scheinen viele Redaktionen keine Routine im Umgang mit rechtspopulistischen Strategien entwickelt zu haben. Bei den meisten Journalistinnen und Journalisten, die sich nicht explizit mit dem Thema beschäftigt haben, finden sich weiterhin Ratlosigkeit, Unwissen, Zurückhaltung und Unsicherheit – und da nehme ich mich selbst nicht aus.
"Die Lernkurve ist erstaunlich flach", sagte WDR-Journalist Georg Restle im Oktober über die AfD-Berichterstattung in seinem eigenen Haus. "Wir waren schon mal weiter", befand "Spiegel"-Journalistin Ann-Katrin Müller (beides nachzulesen in der "Kontext Wochenzeitung"). Ganz ähnlich drückt es auch eine Wissenschaftlerin aus: "Ich habe das Gefühl, dass das Handwerk verloren gegangen ist", sagte mir die Populismus-Forscherin Paula Diehl, die ich für diesen Text angerufen habe.
Der Kommunikationsberater Johannes Hillje bilanzierte in einem "Tagesspiegel"-Interview im August, dass es bisher drei Phasen in der AfD-Berichterstattung gegeben habe. Bis zu ihrem Einzug in den Bundestag 2017 habe die Partei dank ihrer Provokationen viel Aufmerksamkeit und somit mediale Verstärkung bekommen. Danach sei weniger und dafür kritischer berichtet worden. Nun seien wir in der dritten Phase angelangt:
"Der mediale Umgang ist derzeit von Orientierungslosigkeit geprägt, Medien berichten wieder mehr über die AfD, fallen in der Art und Weise aber auf Verhaltensweisen der ersten Phase zurück."
Noch immer würden erschreckend naive Interviews mit AfD-Politikern geführt. Einige Medien würden weiterhin daran scheitern, den Extremismus und seine Selbstverharmlosung einzuordnen.
Ein Beispiel: Sobald gerichtlich geklärt war, dass Björn Höcke als "Faschist" bezeichnet werden darf (eine Tatsache, die sich schnell ergooglen lässt), griffen viele Redaktionen gerne darauf zurück. Auch die Einstufung als "rechtsextrem" durch den Verfassungsschutz wird dankbar als Formulierungshilfe angenommen. In anderen Fällen sind Journalistinnen und Journalisten mit den Labels vorsichtiger, weil ihnen die Zeit für Recherche fehlt, sie sich bei der Einordnung unsicher sind oder sie rechtliche Konsequenzen scheuen – und das gilt für Freie einmal mehr.
Recherche, Kontext, Einordnung
Es gibt zum Glück auch gute Beispiele, wie berichtet wurde. In seinem Podcast "Extrem rechts" zeichnete der MDR die Geschichte des Rechtsextremisten Sven Liebich nach, gegen den es mehr als 340 Ermittlungsverfahren gab, aber kaum Urteile. Die Recherchen beleuchteten anhand dieser einzelnen Figur den Rechtsextremismus insgesamt – was nicht unmittelbar mit der AfD zu tun hat, aber ihren Erfolg doch in einen wichtigen Kontext rückt.
In der "Zeit" listete Maximilian Sepp im September auf einer ganzen Seite Zitate von AfD-Politiker Björn Höcke auf und zeigte Bezüge zur Sprache der Nationalsozialisten auf. Er setzte damit um, was Michael Kraske im "Journalist" gefordert hatte:
"Radikalen Klartext reden Höcke oder Weidel bevorzugt vor eigenen Anhängern. Da lohnt es, hinzuhören. Man kann das AfD-Personal also auch ohne Interview zu Wort kommen lassen."
Die ZDF-Sendung "Die Anstalt" deklinierte in einer ganzen Sendung durch, wie die AfD bei geltender Gesetzeslage mit vergleichsweise kleinen Mehrheiten immense Macht erlangen könnte. So tief taucht Journalismus selten in die Paragraphen des Verfassungsrechts ein. Die Satireshow endete mit der Aufforderung, eine Petition für ein Parteiverbot zu unterschreiben.
Letzteres kann und darf sich in klassischer Politikberichterstattung natürlich nicht wiederfinden. Aber auch für diese gilt: Strategien, Ziele und Potential einer Partei zu entlarven ist weder Aktivismus noch Einmischung in Politik, sondern ganz normales journalistisches Handwerk – auch bei jeder PR-Mitteilung aus einem Unternehmen versuchen gute Reporterinnen schließlich, hinter die glitzernd-perfekten Kulissen zu schauen.
Die vierte Gewalt ist gefordert
Im Falle der AfD ist das nicht nur wünschenswert, sondern ein Muss: Der Pressekodex verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, "für die Freiheit der Presse einzustehen". Ann-Katrin Müller bezeichnet die AfD als "eine Partei, die die Demokratie und uns Journalist:innen alle abschaffen würde, wenn sie könnte" (Kontext Wochenzeitung). Anträge, den Rundfunkbeitrag zu beerdigen, hat die Partei in mindestens einem Landtag in Ostdeutschland bereits gestellt.
Speziell die Öffentlich-Rechtlichen sind gefordert: Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, um die junge Demokratie zu schützen und zu stärken – das ist ihr immanenter Auftrag. Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, fand dazu in einem SZ-Podcast mit der Publizistin Carolin Emcke im Oktober deutliche Worte:
"Mich wundert, wie unreflektiert der Begriff von Neutralität im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gebraucht wird. Weil es geht nicht um Neutralität. Wir haben eine Verfassung und diese Verfassung hat die Dimension von Normativität. Dieser normative Charakter des Grundgesetzes, der müsste sich eigentlich in der Praxis gerade eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks viel stärker wiederspiegeln. Das heißt, die Leitplanken der Werte, auf die sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft geeinigt hat. […] Das ist ein ähnliches Problem, wie wir es in der politischen Bildung haben: Uns wird gerade von Seiten der AfD in geradezu aggressiver und offensiver Seite vorgehalten: Ihr seid ja nicht mehr neutral! Als wären wir irgendwann neutral gewesen oder als wäre Neutralität in dem Zusammenhang etwas Wünschenswertes."
Ein paar tiefergehende medienrechtliche Betrachtungen dazu sind im Verfassungsblog nachzulesen. Aber nicht nur für die Öffentlich-Rechtlichen, auch für private Medienhäuser gilt: Wenn es um Privilegien und Finanzierung geht, stellt man sich gerne als unverzichtbare Säule der Demokratie dar. Umso mehr müssten Medien nun auch bereit sein, die Demokratie zu schützen, wenn eine Partei Zulauf gewinnt, die der Verfassungsschutz auf dem Schirm hat.
Wie Weiterbildung hilft
Halten wir also fest, dass es für Journalistinnen und Journalisten zum Handwerk und Ethos gehören sollte, sich über ihre AfD-Berichterstattung ganz besonders Gedanken zu machen. Was sind nun die Strategien, die helfen? Unter anderem in der Wissenschaft gibt es dazu eine Reihe von Erkenntnissen, die noch nicht alle im journalistischen Alltag angekommen sind.
Wer zum Beispiel bei der Kieler Politikprofessorin Paula Diehl anruft, die sich auf Populismus spezialisiert hat, kommt beim Schreiben kaum mit, so viel hat sie zu dem Thema zu sagen. Vieles davon betrifft nicht einzelne Medienschaffende, sondern die Ausrichtung von Redaktionen und Medienhäusern. Aus ihrer Sicht sind vor allem Ressourcen wichtig, also Geld für Recherche. Es gebe zwar gute Fernsehdokus, aber in aktuellen Nachrichtensendungen werde die AfD oft noch zu oberflächlich abgehandelt – hier brauche es mehr investigativ recherchierte Inhalte. Der Trend zum "Politainment" ist dabei aus ihrer Sicht keine Hilfe.
Die AfD bringe manche Zitate bewusst in die Welt, um inhaltliche Positionen zu besetzen. Solche performativen Aussagen müssen aus Sicht von Paula Diehl entlarvt werden. Statt dann eine AfD-Politikerin mit ihrer Sicht zum Beispiel zu Migration zu Wort kommen zu lassen, wende man sich besser direkt an die relevanten Akteure – also an Bürgermeisterinnen, Geflüchtete, Integrationsmanager. (Lesenswert dazu der Versuch des "Zeit Magazins", eine "überlastete" Gemeinde in Deutschland zu finden.) Auch die Neuen deutschen Medienmacher hatten schon im August gefordert, in der Berichterstattung über die AfD öfter die Leute zu fragen, die von ihren politischen Vorschlägen betroffen sind.
Es würde Paula Diehl zufolge auch helfen, wenn Interviews mit AfD-Abgeordneten öfter von Personen geführt werden, die vorher schon lange zu der Partei recherchiert haben und rhetorisch speziell dafür geschult sind. Statt aggressiv oder suggestiv zu fragen, sollten sie lieber penetrant in neutraler Sprache nachhaken.
Pia Lamberty vom Cemas hat Hinweise zu guter AfD-Bereitschaft in einem Thread zusammengetragen. Wichtig sei es unter anderem, einzelne Aussagen oder Ereignisse immer in einen Kontext einzubetten. Auch irreführende Bildsprache ist für sie ein Thema: Nazis haben eben nicht immer Springerstiefel an. Dann erwähnt sie noch, dass vor allem Lokaljournalistinnen und -journalisten, die über das Thema berichten geschützt werden müssen. Ihr Fazit:
"Blickt man auf den Beginn der AfD, Pegida oder die Corona-Krise gab es jedes Mal viele Debatten über die Medienberichterstattung. Wichtig ist, dass die 'Lessons Learned' nicht einfach versanden und die gleichen Fehler wieder gemacht werden."
Regelmäßige Weiterbildungen in Redaktionen (die es in manchen Häusern schon gibt) müssten eigentlich längst Standard sein, um diese und andere Erkenntnisse in die Fläche zu bringen. Nicht mehr lange, dann beginnt in Thüringen, Sachsen und Brandenburg der Wahlkampf. Redaktionen sollten sich darauf schon jetzt vorbereiten.