Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 30. Dezember 2023 Verdächtig verdächtig
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30. Dezember 2023, 00:01 Uhr
Die Berichterstattung über Verdachtsfälle hat in diesem Jahr viel Raum eingenommen. Vor allem der Fall Till Lindemann. Was lässt sich aus ihm lernen? Ein Jahresrückblick von Ralf Heimann.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Im November trafen sich der Medienanwalt von Till Lindemann und der des Magazin "Spiegel" in Saal 143 des Berliner Landgerichts, allerdings diesmal ohne Richter. Felix Zimmermann, Chefredakteur des juristischen Fachmagazins "Legal Tribune Online", hatte Simon Bergmann und Marc-Oliver Srocke zu einem Streitgespräch eingeladen.
Eine Stunde lang sprachen die beiden, dann doch ganz gesittet, über ihren Blick auf #metoo-Fälle, die Verdachtsberichterstattung und über die Hintergründe dessen, was man im Laufe des Jahres in den Medien verfolgen konnte, aber nicht immer sofort verstand.
Vor allem ein Fall nahm hier sehr viel Raum ein. Das war der des "Rammstein"-Sängers Till Lindemann, der mithilfe eines aufwändigen Castingsystems vor Konzerten Frauen aussuchen lassen haben soll, um mit ihnen Sex haben zu können. Die Frage war, ob einige Frauen mit Drogen und Alkohol gefügig gemacht worden waren, und ob Lindemann etwas damit zu tun hatte.
Alle größeren Medien berichteten. In der Folge kam es zu kleinteiligen Auseinandersetzungen vor Gericht, deren Urteile Medien und Kanzleien wiederum mit eigenen Artikeln und Pressemitteilungen kommentierten.
Der Kampf um die Deutung
Ende Juli schrieb der "Spiegel" in einem Artikel in eigener Sache: "Das Landgericht Hamburg hat dem Unterlassungsantrag von Till Lindemann in Teilen stattgegeben, ihn aber auch in weiten Teilen zurückgewiesen, also uns recht gegeben. Der Kern unserer Berichterstattung bleibt deshalb davon unberührt."
Ende Dezember sagte Simon Bergmanns Kollege Christian Schertz im Interview mit dem Branchendienst Turi2: "Wir haben die 'Spiegel'-Berichterstattung in großen beziehungsweise entscheidenden Teilen untersagt (…)."
Ja, gut. Aber was denn nun?
Im Idealfall gelingt es einem Gericht, mit einem Urteil vollständige Klarheit zu schaffen. In der Realität ist das so einfach nicht. Oft geben Gerichte einer Seite nur teilweise recht, teilweise also auch der anderen. Die streitenden Parteien heben dann gern die Punkte hervor, in denen sie sich durchgesetzt haben, die anderen spielen sie herunter.
Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit, um den Einfluss darauf, wie etwas in der Öffentlichkeit verstanden wird. Dieser Kampf hat in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Das hat vor allem damit zu tun, dass sehr viel mehr Akteure mitmischen, seit Medien nicht mehr kontrollieren können, wer sich öffentlich äußern darf.
Wie sehr die früher so klaren Rollen verschmolzen sind, wurde in diesem Jahr deutlich, als der "Spiegel" der Kanzlei "Schertz Bergmann" eine Behauptung in einer Pressemitteilung gerichtlich verbieten ließ.
Das neue Fachgebiet nennt sich Litigation-PR, also Rechtskommunikation. In dem Streitgespräch sagt Simon Bergmann, diese Art der Kommunikation sei notwendig, weil die Redaktionen ihre Verdachtsberichterstattung schon im Vorfeld rechtfertigten. In vielen Redaktionen dürfte man das anders sehen. Wenn Kanzleien in eigenen Veröffentlichungen Urteile interpretieren, können sie das nicht einfach so stehen lassen. Wer angefangen hat, ist aber im Prinzip auch egal.
Tatsache ist: Anwaltskanzleien unternehmen heute sehr viel mehr, um Berichterstattung zu korrigieren oder sogar zu verhindern. In vielen Fällen melden sie sich schon vor der Veröffentlichung in Redaktionen, um darauf hinzuweisen, dass man über bestimmte Dinge nicht berichten dürfe.
Als das Landgericht Berlin der "Süddeutschen Zeitung" Anfang Dezember Teile ihrer Berichterstattung über Vorwürfe gegen den Tennisprofi Alexander Zverev verbot, schrieb die Kanzlei "Schertz Bergmann" in einer Pressemeldung, man habe der Zeitung vorher darauf hingewiesen, dass es rechtswidrig sei, bestimmte Dinge zu schreiben. Die Zeitung habe den Hinweis ignoriert.
Kratzer am Image
Tatsächlich ist es der Versuch, das öffentliche Bild einer Person sehr genau zu kontrollieren. Christian Schertz erklärt diese Entwicklung damit, dass sich immer mehr Menschen einen Anwalt nehmen, um die Berichterstattung zu beeinflussen, damit, dass der Ton härter geworden sei, und es sich auch bei Menschen, die nicht prominent sind, herumgesprochen habe, dass man eine Berichterstattung nicht einfach hinnehmen müsse.
Diese Professionalisierung erklärt sich auch dadurch, dass das öffentliche Bild für immer mehr Menschen ein wichtiges Kapital ist. Sie haben öffentliche Profile in sozialen Netzwerken, vielleicht verdienen sie sogar Geld damit. Bekommt ihr Bild Kratzer, verliert das Kapital schnell an Wert. Ein unbedachtes Posting oder ein falscher Medienbericht können beruflich schwerwiegende Folgen haben. Und um in Schwierigkeiten zu geraten, braucht es nicht mal ein eigenes Social-Media-Profil.
Das zeigte in diesem Jahr der Prozess um den Musiker Gil Ofarim, der in einem Instagram-Video behauptet hatte, ein Hotelmitarbeiter habe ihn antisemitisch beleidigt. In allerletzter Minute gab Ofarim vor Gericht zu, dass er gelogen hatte. Der beschuldigte Hotelmitarbeiter hatte Glück, dass sein Arbeitgeber zu ihm hielt, obwohl in den Medien anfangs vor allem Ofarims Version der Geschichte die Runde machte.
Wer den Ruf von Menschen schädigt, begeht eine Straftat. Daher ist es eine heikle Sache, Vorwürfe zu veröffentlichen, die sich schwer belegen lassen. In den #metoo-Fällen ist das fast immer der Fall. Für die meisten Vorwürfe gibt es außer den Beteiligten keine Zeugen. Es steht Aussage gegen Aussage. Und auch, wenn alles so passiert ist, wie das Opfer es öffentlich behauptet, kann es theoretisch sein, dass es am Ende wegen Verleumdung verurteilt wird.
Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre hat sich wohl auch aus diesem Grund dazu entschieden, das, was er in seiner Zeit beim Springer-Verlag erlebt hat, nicht in einem journalistischen Text zu verarbeiten, sondern in veränderter Form in einem Roman. Das Buch mit dem Titel "Noch wach?" erschien im April. Stuckrad-Barre gab sich darin keine große Mühe, das Personal zu verfremden. Der Chefredakteur gleicht dem früheren "Bild"-Chef Julian Reichelt, der Mann an der Spitze des Verlags ist eine Karikatur von Mathias Döpfner.
In den wenigen Interviews, die er gab, und bei den Lesungen wies Stuckrad-Barre mit allerlei ironischen Verrenkungen immer wieder auf sein Dilemma hin.
Im Podcast "Hotel Matze" sagte er:
"Wenn es schon für mich riskant ist, zu sagen, dann kann sich ja jeder überlegen, wie riskant das erst für die (…) betroffenen Frauen (…) ist, sich zu äußern (…). Weil das Leute sind mit Macht, mit Geld, mit ganz vielen Anwälten, da kommen ganz viele Papiere, und dann darf man das und das nicht mehr sagen, das kost’ dann 250.000 Euro, und dann fahren sie in ihrem Dienstwagen nach Hause."
Lücken, die das Gehirn füllt
Man könnte nun sagen: Wenn das die einzige Möglichkeit ist, solche Dinge ans Licht zu bringen, dann muss man vielleicht diesen Weg gehen. Doch wie gefährlich es sein kann, einem Roman alles zu glauben, zeigten später eine in den USA veröffentlichte Klageschrift einer früheren Reichelt-Geliebten, die den Springer-Verlag verklagt hatte, sowie weitere Chat-Nachrichten der Frau, die beim Magazin "Medieninsider" gelangt waren. In diesen Nachrichten ist der Ton zwischen Reichelt und der Frau eher scherzhaft. Es sieht so aus, als wenn nicht Reichelt sie drängt, sondern sie selbst sich darum bemüht, ihn zu treffen.
Es kann sein, dass die Nachrichten unvollständig sind und weitere Informationen das Bild verändern würden. Das ist ein weiteres Problem in der #metoo-Berichterstattung. Mehrere Informationen fügen sich zu einem Eindruck zusammen. Es bleiben Lücken, und die füllt bereitwillig das Gehirn.
Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat eine Regel beschrieben, nach der Menschen sich Urteile bilden. Sie schauen auf die Tatsachen, die vorliegen, alle übrigen unterschlagen sie. Kahneman nennt das Phänomen "What you see is all there is" – damit beschreibt er die Illusion: Was du siehst, ist alles, was es gibt.
Im Fall Lindemann war anfangs nur wenig bekannt. Es gab die Schilderungen der Nordirin Shelby Lynn, die erzählte, man habe ihr bei einem "Rammstein"-Konzert wohl Drogen verabreicht – eine Behauptung, die das Landgericht Hamburg später untersagte. Dann wurde das Castingsystem öffentlich, später auch, dass Lindemann in einem Gedicht darüber fantasierte hatte, Frauen mit Rohypnol zu betäuben. Es schien alles zusammenzupassen.
Aber wenn man genauer hinsah, konnte alles auch anders sein. Keine Frau erzählte, Lindemann habe sie vergewaltigt. Simon Bergmann hob in dem Streitgespräch hervor, dass mehrere Frauen gesagt hatten, Lindemann sei "wunderbar" mit ihnen umgegangen, "sehr caring" – dass sie sich das alles überhaupt nicht vorstellen könnten. Aber wenn ein Eindruck entstanden ist, tendieren Menschen dazu, eher die Dinge zu sehen, die diesen Eindruck stützen (Conformation Bias).
Bergmann kritisierte zudem, viele Berichte hätten einen Bezug zu Harvey Weinstein hergestellt, der sechs Jahre zuvor wegen Vergewaltigung verurteilt worden war, und mit dem die #metoo-Welle begonnen hatte. Lindemann stand damit in dieser Reihe, obwohl es keinerlei Belege für eine Vergewaltigung gab. Aber wenn es so scheint, als wenn Dinge sich ähnlich sind, neigt die menschliche Wahrnehmung dazu, auch andere Eigenschaften zu übertragen (Repräsentativitätsheuristik).
Das alles kann dazu führen, dass sich ein falscher Eindruck ergibt, und es gibt weitere Phänomene, die die Tendenz verstärken, falsche Eindrücke zu verfestigen. Der sogenannte Primäreffekt zum Beispiel.
Menschen merken sich besonders gut die Information, die sie zuerst erhalten. Falsche Informationen sind auch mit einer Korrektur so leicht nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Oft bekommt eine Korrektur zudem viel weniger Aufmerksamkeit als die ursprüngliche Sensationsmeldung.
Hinzu kommt eine weitere Schwäche. Der Mensch hat kein so gutes Gedächtnis. Vieles verschwimmt mit der Zeit. Später erinnert man sich zwar noch, dass da irgendetwas war, aber nicht unbedingt daran, was genau da war. Möglicherweise bleibt einfach hängen: Da war ein Vergewaltigungsvorwurf. Aber ob der jetzt stimmte? Das müsste man googeln.
Ein Vorwurf kann etwas Bleibendes sein – sogar wenn er sich hinterher als falsch herausstellt. Daher kann Verleumdung eine schwerwiegende Straftat sein.
Irgendwo zwischen Schwarz und Weiß
Medien befinden sich also immer in einer Gefahrenzone, wenn sie über Verdachtsfälle berichten. Bis zu einer Verurteilung gelten Menschen in einem Rechtsstaat als unschuldig. Und wenn Medien über Verdachtsfälle berichten, besteht immer die Gefahr, dass sie über einen Verdacht berichten, der so gar nicht stimmt.
Aber warum berichten Medien überhaupt über Verdachtsfälle? Können sie nicht einfach warten, bis ein Urteil vorliegt?
Könnten sie zwar, aber sollten sie nicht. Der Grund dafür ist ihre Aufgabe, denn auf der einen Seite steht das Recht der beschuldigten Person, nicht vorverurteilt zu werden, auf der anderen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit.
Es kann wichtig sein, schon vor der Verurteilung oder überhaupt vor Gerichtsverfahren zu berichten. Zum Beispiel, um Skandale überhaupt erst bekannt zu machen und damit Ermittlungen zu beschleunigen oder anzustoßen. Medien können öffentlichen Druck ausüben. Früh über kriminelle Machenschaften zu berichten, kann auch sinnvoll sein, um Menschen zu warnen und auf diese Weise zu schützen.
Medien legen im Idealfall das frei, was von öffentlichem Interesse ist. Ob es strafrechtlich relevant ist, spielt dabei keine Rolle. Medien leuchten eine Grauzone aus, die vom Recht nicht erreicht wird, die aber von Bedeutung sein kann – im Fall Lindemann zum Beispiel für junge Frauen, die jetzt schon vorher wissen können, was es bedeuten kann, eine Einladung zu einer "Rammstein"-Aftershow-Party anzunehmen.
Wird so ein Fall öffentlich, kann das zu einer Debatte über gesellschaftliche und soziale Normen führen. Diese Debatte kann die Normen in Frage stellen und im Zweifel verändern. Das wiederum kann dazu führen, dass Gesetze sich verändern.
Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Missbrauchskomplexe von Lügde oder Münster, die der Öffentlichkeit einen Eindruck von den Ausmaßen des Problems gaben, so ein Bewusstsein herstellten und bewirkten, dass die Bundesregierung das Sexualstrafrecht reformierte und den Besitz von Kinderpornografie zu einem Verbrechen hochstufte.
Die Berichterstattung über #metoo-Fälle hatte ebenfalls zur Folge, dass eine Debatte stattfand und die Sensibilität für Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung größer wurde. In der Folge änderte die Regierung auch hier die Gesetze so, dass sie Opfern einen besseren Schutz bieten.
Parallelprozess im Netz
Dass Netzwerke wie Instagram oder X (früher Twitter) allen Menschen eine Stimme geben, die so laut werden kann wie die eines Weltstars, hat die Sensibilität ebenfalls verstärkt. Menschen können sich finden und zu Gruppen zusammenschließen, die man so leicht nicht mehr zum Schweigen bringt.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen nennt diese neue Ordnung, in der alle Menschen senden können, die redaktionelle Gesellschaft. In ihr kann jeder Mensch Journalist sein. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten, allerdings auch solche, die viel Schaden anrichten können. Damit diese Ordnung weiterhin funktioniert, müssten Menschen die Regeln befolgen, die sich in der alten Ordnung bewährt haben.
Dazu gehört, dass Medien sich bei der Berichterstattung über Verdachtsfälle an sehr restriktive Regeln halten müssen. Es braucht zum einen ein öffentliches Interesse, um einen Verdacht öffentlich machen zu dürfen. Es ist ein Mindestbestand an Beweisen notwendig. Und: Medien müssen darauf achten, Betroffene nicht vorzuverurteilen. Sie müssen von ihnen vor der Veröffentlichung eine Stellungnahme einholen. Und sie sind an die journalistische Sorgfaltspflicht gebunden. Wenn sie ihre Informationen also nicht gründlich prüfen, kann das vor Gericht böse enden.
In der Netzöffentlichkeit kennen nur wenige diese Regeln. Wenn Menschen sich in Tweets, Postings oder Videos äußern, spielen juristische Prinzipien und Grundsätze bei ihrer Bewertung meist keine so große Rolle. Wichtigere Bezugspunkte sind das eigene Gerechtigkeitsempfinden, moralische Vorstellungen und Emotionen.
Diese Mischung kann leicht Empörungswellen in Gang setzen, die durch Bestätigungsrückkopplungen schnell anschwellen. Und wenn sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt haben, lassen sie sich auch von Wellen aus Unterlassungsklagen kaum noch aufhalten.
Dann findet im Netz eine Art Parallelprozess zum Gerichtsverfahren statt. Das war in vielen #metoo-Verdachtsfällen so, etwa bei Luke Mockridge. Die Unschuldsvermutung kommt dann schnell unter die Räder.
Warum keine "Jetzt rede ich"-Geschichte?
Im Fall Lindemann ist das Ergebnis eine komplizierte Gemengelage. Da ist einerseits das inzwischen eingestellte strafrechtliche Verfahren, in dem es um die Frage ging, ob Lindemann eine Straftat begangen hat. Dann ist da die presserechtliche Auseinandersetzung, in der Lindemanns Anwälte mit Medien darüber streiten, was in der Öffentlichkeit behauptet und berichtet werden darf.
Da ist der Kampf um die Deutungshohheit über die Gerichtsurteile, in der beide Seiten versuchen, die Öffentlichkeit von der eigenen Interpretation zu überzeugen. Und da ist die öffentliche Debatte über alles, was in der Sache bekannt geworden ist.
Lindemanns Anwälte greifen im Wesentlichen nur dort ein, wo es um den Vorwurf geht, ihr Mandant habe eine Straftat begangen. Die Berichterstattung über das Castingsystem lassen sie unberührt.
Hier sind die Vorwürfe eher moralischer Art. Sie sind gut dokumentiert und durch Aussagen belegt. Berichte darüber hätten Lindemanns Anwälte schwer verbieten lassen können. Doch das bedeutet nicht, dass sie nichts hätten unternehmen können.
Auch hier wäre es unter Umständen möglich gewesen, Details korrigieren zu lassen. Lindemann hätte auch eine Stellungnahme abgeben können, um sich zu erklären. Er hätte versuchen können, dem entstandenen Eindruck, er habe etwas Verwerfliches getan, etwas entgegenzusetzen.
Doch auf all das verzichtet er. Diese Auseinandersetzung ignoriert Lindemann vollkommen. Nur auf der Bühne macht er eine Ausnahme, da macht er sich über die Vorwürfe lustig.
Das alles ist Teil einer medialen Strategie, die das Ziel verfolgt, die Angriffsfläche zu minimieren. Mit jeder Erklärung würde Lindemann sein Verhalten in irgendeiner Weise rechtfertigen. Das könnte man auch so verstehen, dass er die Vorwürfe anerkennt.
Mit einem Interview würde er einen neuen Anlass geben, über die Vorwürfe zu berichten. Er würde womöglich Dinge sagen, die neue Interpretationen zulassen und damit eine neue Angriffsfläche bieten. In dem Turi2-Interview sagt Christian Schertz: "Nicht selten müssen wir den Mandanten auch davon überzeugen, nicht an die Presse zu gehen und eine 'Jetzt rede ich'-Geschichte zu machen. Denn das geht meistens nach hinten los."
Keine Beweise, keine Straftat oder beides?
Die Wahrscheinlichkeit, auf diesem Feld zu verlieren, wäre groß. Lindemann lässt sich auf diesen Kampf gar nicht erst ein. So können seine Anwälte und er am Ende alles auf den Satz herunterbrechen: Das Verfahren wurde eingestellt.
Nur was bedeutet das?
Zuallererst heißt es: Die Staatsanwaltschaft hat keine ausreichenden Beweise gefunden, auf deren Grundlage der Beschuldigte verurteilt werden könnte. Dafür kann es mehrere Gründe geben. Entweder: Es gibt keine Straftat und damit auch keine Beweise. Oder: Es gibt eine Straftat, aber keine Beweise. Oder: Es gibt eine Straftat, aber die Staatsanwaltschaft kennt die Beweise nicht (oder kann sie nicht verwenden).
Auch aus diesem Grund sind Vergewaltigungsvorwürfe nicht so leicht aus der Welt zu bekommen. Wenn Aussage gegen Aussage steht, bleibt in den Köpfen immer der Gedanke: Wer weiß schon, was da wirklich passiert ist? Vielleicht gibt es einfach keine Beweise.
Im Fall von Till Lindemann ist zwar nicht klar, wie er die Situationen erlebt hat, aber es gibt die Berichte mehrerer Frauen. Daniel Drepper, der Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, hat im Oktober in einem Artikel erklärt, warum er die dritte Möglichkeit – die Beweise liegen einfach nicht vor –, für durchaus möglich hält.
Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte in einer Pressemitteilung geschrieben: "Die Möglichkeit, etwaige Tatvorwürfe ausreichend zu konkretisieren, bestand daher ebenso wenig wie die, einen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Geschädigten und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Rahmen von Vernehmungen zu gewinnen." Drepper fasst das mit dem Satz zusammen: "Die Presseberichte konnten wir nicht einsehen."
In diesem Zusammenhang ist noch etwas anderes wichtig: Medien müssen nicht aufhören, zu recherchieren und zu berichten, sobald die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kommt, dass kein Verdacht besteht. Genau das kann erst der Beginn einer Recherche sein. Medien haben auch die Aufgabe, über Justizirrtümer oder Versäumnisse von Ermittlungsbehörden zu berichten. Es kann also sein, dass sich hinterher herausstellt: Die Staatsanwaltschaft lag falsch. Oder es kann sich eine neue Beweislage ergeben. Und dann können Ermittlungen wieder aufgenommen werden.
Warum berichten Medien?
Aber auch ohne Ermittlungen oder den Verdacht einer Straftat kann ein Bericht gerechtfertigt sein. Und hier sind wir wieder in der Grauzone, die von Medien ausgeleuchtet wird. Dass es das Castingsystem bei "Rammstein"-Konzerten so offenbar nicht mehr gibt, scheint eine Folge der Berichterstattung zu sein.
Das kann verschiedene Gründe haben. Es kann sein, dass die beteiligten Menschen das System eingestellt haben, weil die öffentlichen Reaktionen ihnen deutlich gemacht habe, dass dieses System ein Fehler war. In anderen Fällen gab es solche Entwicklungen. Anfang Dezember erzählte der Rapper Cool Savas im Interview mit dem "Spiegel" über die Entwicklung seines eigenen Bewusstseins. Er sagte:
"Ich habe viel zu spät verstanden, dass man nicht mit Groupies schlafen darf und finde es heute fahrlässig, überhaupt mit seinen Fans intim zu werden. Auch, wenn sie volljährig sind. Ganz einfach, weil es immer ein Machtgefälle gibt. Früher war einvernehmlicher Sex für mich einvernehmlicher Sex. Heute würde ich sagen, auch was für beide Seiten einvernehmlich ist, kann trotzdem moralisch nicht okay sein. Weil der eine einfach berühmt ist und der andere nicht. Am Ende ist es eine Illusion, zu sagen, dass Sex zwischen einem Star und einem Groupie gleichberechtigt sein kann."
Es ist aber auch möglich, dass es das Castingsystem bei "Rammstein"-Konzerten nicht mehr gibt, weil die daran beteiligten Menschen denken: Jetzt verbieten sie einem auch noch diesen Spaß.
In der Bevölkerung gibt es beide Positionen. Der eine Teil sieht in der Berichterstattung über Machtmissbrauch, Grenzüberschreitungen und sexuelle Belästigung eine progressive Entwicklung, die Missstände ans Licht bringt und beseitigt. Ein anderer Teil kann die Aufregung nicht verstehen, hält die Berichterstattung für überzogen und erkennt darin eher den Versuch, alles Mögliche verbieten zu wollen, was bestimmten Moralvorstellungen widerspricht.
Auf die zweite Position trifft man zum Beispiel bei "Rammstein"-Konzerten, die auch weiterhin ausverkauft sind. Und weil die Skepsis vieler Menschen die Berichterstattung betrifft, richtet sie sich auch gegen die Medien selbst.
Eine Frage ist: Warum berichten die Medien denn überhaupt?
Berichten sie, weil Menschen ihnen von Missständen erzählt haben und sie nach einer möglichst objektiven Recherche zu dem Ergebnis gekommen sind: Die Öffentlichkeit sollte davon erfahren?
Oder berichten sie, weil sie selbst ein Motiv haben? Stand ihr Urteil also vorher schon fest? Haben sie nur nach Stimmen gesucht, mit denen sie ihre These belegen können?
Diesen Eindruck hat der Lindemann-Anwalt Simon Bergmann. In dem Streitgespräch unterstellt er Daniel Drepper und Lena Kampf, die den Fall Lindemann zusammen für die Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung recherchiert haben, sie hätten schon in einem Aufruf, mit dem sie betroffene Frauen suchten, unterstellt, es seien Straftaten passiert.
Hier werde nicht ergebnisoffen recherchiert, sondern gezielt nach Frauen gesucht, die Beschuldigungen erheben könnten. "Und da ist einfach der Punkt erreicht, wo die Berichterstattung und auch die Recherche unzulässig wird", sagt Bergmann.
Man könnte hier einwenden: Wenn die Recherche rechtlich unzulässig ist, dann sollte es einem Medienanwalt doch möglich sein, etwas gegen sie zu unternehmen. Passiert das nicht, entsteht der Verdacht, es könnte auch einfach darum gehen, die Glaubwürdigkeit eines Mediums in Zweifel zu ziehen.
Daniel Drepper schreibt im Oktober in seinem Text: "Der Fall Rammstein macht deutlich, dass Verdachtsberichterstattung immer stärker als Teil eines Kulturkampfs gesehen wird."
#metoo-Fälle, Klicks und Abos
Die Strategie, Medien als Partei und ihre Darstellung damit einfach als die Position eines politischen Gegners abzutun, ist durch Donald Trump weltweit bekannt geworden und inzwischen gängig, vor allem in der rechtspopulistischen Sphäre.
Auch dafür gab es in diesem Jahr weitere Beispiele. Als die "Süddeutsche Zeitung" kurz vor der Bayern-Wahl die Flugblatt-Affäre öffentlich machte, nannte Hubert Aiwanger das eine "politische Kampagne".
Dabei ist es nicht so, dass Medien in der Verdachtsberichterstattung immer alles richtig machen. Sie arbeiten nicht wissenschaftlich nach Karl Poppers Prinzip der Falsifizierung und versuchen, Belege zu finden, die ihrer These widersprechen. In der Regel schauen sie nach Informationen, die ihre These stützen.
Das hat mit fehlender Zeit und fehlenden Ressourcen zu tun – aber auch damit, dass Journalismus eine Gratwanderung zwischen Information und Unterhaltung ist.
Das größte Publikum erreichen Medien mit einer interessanten These, möglichst überzeugenden Belegen und einem klaren Urteil. Abwägende Geschichten, die Widersprüche aufzeigen, mögen einen größeren Informationsgehalt haben, aber sie finden schwerer ein großes Publikum.
Simon Bergmann warf Medien im Oktober vor, sie skandalisierten #metoo-Fälle gezielt, um so Klicks und Abos zu generieren. Das kann in Einzelfällen tatsächlich so sein.
Aber dazu muss man auch sagen: Verlage haben verschiedene Interessen. Eines ist, ihren Journalismus zu verkaufen, um ihn zu finanzieren. Anwälte wiederum haben ein Interesse daran, Mandanten zu finden. Aufmerksamkeit ist dabei sehr hilfreich. Auch die bekommt man mit möglichst interessanten Thesen. Und eine wirklich interessante These ist: #metoo-Berichterstattung ist einfach eine gewinnbringende Unternehmensstrategie.