Kulturwissenschaft Büchners Woyzeck: Die Rekonstruktion des Originals
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28. August 2024, 14:59 Uhr
Als Georg Büchner 1837 in Zürich stirbt, hat er sein heute weltweit gespieltes Drama Woyzeck noch nicht vollendet. Die Original-Fragmente liegen im Archiv in Weimar, ihre Rekonstruktion gleicht einem Forschungskrimi. Vor genau 200 Jahren, am 27. August 1824, wurde Büchners Titelfigur Johann Christian Woyzeck auf dem Leipziger Marktplatz öffentlich hingerichtet.
Silke Henke hat auf einem Rollwagen Archivmappen herangefahren. Vorsichtig öffnet sie die säurefreien Pappdeckel und wendet behutsam mit einem Spatel die Seiten um. 22 Blätter sind es insgesamt, eng beschrieben mit oftmals blasser Tinte, in winziger, schwer zu entziffernder Kurrentschrift. Schnell fallen auch dem Laien die Schwierigkeiten der Texterschließung dieser Handschrift auf:
"Büchner hat abgekürzt, er hat immer H für Herr geschrieben oder er hat Vokale ausfallen lassen. Zum Beispiel steht da nur Mssr - das heißt dann Messer, und solche Dinge erschweren die Lesarten", so Silke Henke vom Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik-Stiftung Weimar.
Das "Mssr" ist fast schon symbolisch. Denn die Stichwaffe, mit der Woyzeck seine Geliebte ersticht, ist so ein verkürztes, abgebrochenes Ding, eigentlich ein Stück einer Degenklinge. Woyzeck hat sie in ein Heft stoßen lassen um ein Messer daraus zu machen – ein sprechendes Bild für seine Armut. Aber auch jenseits dieser Interpretation kündet "Mssr" von den Problemen, mit denen die Forschung bei Büchners handschriftlichen Skizzen zum Woyzeck schon immer konfrontiert war.
Georg Büchner kürzte ab: Entziffern und lesbar machen
Als Ludwig Büchner 1850 die erste Ausgabe der gesammelten Werke seines Bruders Georg veröffentlicht, ist dessen heute bekanntestes Drama nicht dabei. Zwar hat schon er begonnen, die Fragmente zu entziffern, aber letztlich habe er keinen Versuch unternehmen wollen, die schier unleserlichen Handschriften zu edieren, sagt Silke Henke. Das hat dann zum ersten Mal 1879 Karl Emil Franzos gemacht, ein Freund der Büchner-Brüder und selbst Schriftsteller und Journalist.
"Franzos' Verdienst ist, dass er zum ersten Mal versucht hat, diese Szenen aneinanderzureihen und daraus auch einen Lesetext zu machen. Und wie schwierig das war, das zeigt uns ja schon der erste Übertragungsfehler von Karl Emil Franzos, der das ganze ja irrtümlich als "Wozzeck" gedeutet hat", so Gabriele Klunkert vom Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik-Stiftung Weimar. Diesen falsch entzifferten Titel übernimmt Alban Berg für seine Oper von 1922 (UA 1925).
"Manuskriptmord" – Im Rausch des Sichtbarmachens
Aber der Eifer von Franzos bringt noch ganz andere Folgen mit sich, wie Archivarin Gabriele Klunkert berichtet. Denn um das Problem der verblassten Tinte zu lösen, griff Franzos zu einem sehr rabiaten Mittel. Er malträtierte die Dokumente mit Schwefel-Ammoniak, um die verblasste Tinte wieder sichtbar werden zu lassen.
Diese Methode, ein Chemiker hatte sie ihm empfohlen, ließ die Schrift für einige Zeit stark nachdunkeln. Zeile für Zeile konnte Franzos sie abschreiben. Die langfristigen negativen Folgen dieser Radikalkur sieht man bis heute. Viele der chemisch behandelten Schriftzeichen sind jetzt fast unsichtbar – und die Forschung muss auf Franzos' Abschrift vertrauen.
Büchners Manuskriptseiten: Die Frage der Reihenfolge
Ein Riesenproblem für die Forschung war immer auch, dass Büchner weder die Manuskriptseiten noch einzelne Szenen nummeriert hatte. So ließ sich schwer sagen: was war ein erster Versuch, was später für die Reinfassung notiert.
Der Germanist Burghardt Dedner versuchte Anfang der 2000er Jahre Licht ins Dunkel zu bringen. Dafür musste wieder die Tinte der Originalhandschriften einer Behandlung unterzogen werden - diesmal völlig ungefährlich. Mit einer Röntgenfluoreszenzanalyse wurde die Zusammensetzung der Tinten erforscht.
Bei dieser Form der Spektroskopie wird die Materialprobe, vereinfacht gesagt, durch Röntgenstrahlen angeregt und das reflektierende Licht auf sein Spektrum hin untersucht. So ist es möglich, sehr genaue spezifische Materialanalysen vorzunehmen, ohne die Proben zu beschädigen.
Bünchers Woyzeck: In der Tinte steckt die Wahrheit
Bei den 22 Seiten (die übrigens der Leipziger Insel-Verleger Anton Kippenberg 1924 der Klassik-Stiftung geschenkt hatte) stellte sich heraus, dass sie mit zwei verschiedenen Sorten Tinten beschrieben worden waren. Vergleichsproben erlaubten dann den Schluss, dass es eine Straßburger Tinte und eine Züricher Tinte gab. Büchner hatte erste Seiten in Straßburg 1836 notiert, in Zürich 1837 weitergeschrieben. Dort raffte den gerade einmal 23-Jährigen die Tuberkulose hin und sein "Woyzeck" blieb Fragment.
Die Arbeit an einer idealen Fassung des Woyzeck hat Generationen von Germanisten und Wissenschaftlern beschäftigt. Dass dies möglich war, verdankt sich dem archivarisch erhaltenen Originalmanuskript. Das ist als digitales Faksimile einsehbar für Alle auch online auf der Seite der Klassik-Stiftung Weimar.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. August 2024 | 06:10 Uhr
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