Spurensuche in Leipzig "Sex and Crime": Auf den Spuren von Frauenmörder Woyzeck
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16. Juni 2024, 09:00 Uhr
Georg Büchners Drama "Woyzeck" ist Weltliteratur. Das Stück beruht auf einem wahren Fall: 1824 - vor mittlerweile 200 Jahren - wurde Johann Christian Woyzeck auf dem Leipziger Marktplatz öffentlich hingerichtet. Doch wer war dieser Mann eigentlich? Und wie wurde Büchner auf diese Geschichte aufmerksam?
Es gibt einen Aberglauben in Leipzig: Wer über den Marktplatz vor dem Alten Rathaus laufe, der achte peinlich darauf, nicht über die mit Ornamentsteinen verzierte Mitte des gepflasterten Platzes zu gehen. Andernfalls folge das Unglück auf den Fuß, denn dort stand einst das Schafott und das Blut des armen Woyzeck tropfte, nachdem ihn das "hochnotpeinliche Halsgericht" für schuldig befunden und zum Tode durch das Richtschwert verurteilt hatte.
Auch jenseits des Aberglaubens ist die Erinnerung an den hier geköpften Delinquenten Johann Christian Woyzeck in Leipzig durchaus lebendig. Büchners nach ihm benanntes Drama ist Schulstoff, immer wieder mal kommt es auf eine der Theaterbühnen der Stadt und das Stadtgeschichtliche Museum veranstaltet eigene Führungen zu den originalen Orten eines tragischen Lebens. Annemarie Riemer, vom Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, erzählt: "Woyzecks Geschichte nimmt gerade Jugendliche unheimlich mit und das ist auch der Grund, warum ich diese Tour so gerne führe, denn über diese Figur lassen sich ganz viele Themen besprechen."
Im Angesicht des Todes: Schauder und Schaulust für die Massen
Aus einem schmalen Ordner zieht Annemarie Riemer die Kopie eines historischen Stichs heraus. Er zeigt den Marktplatz am 27. August 1824. Etwa 5.000 Menschen sind gekommen, um sich die Hinrichtung anzuschauen. "Wir wissen, dass es schulfrei gab und wir wissen, dass eigens ein auswärtiger Scharfrichter beordert wurde, denn dem Leipziger fehlte wohl die Übung", erläutert Eva Lusch, die Kollegin von Annemarie Riemer. Denn mehr als 30 Jahre vor dieser letzten öffentlichen Hinrichtung in Leipzig war die Todesstrafe hier nicht vollstreckt worden. Auch diesmal wieder wurde der Hieb seitlich ausgeführt. Der Leipziger Bürgerschullehrer Ernst Anschütz ("O Tannenbaum") bezeugt die Szene in seinem Tagebuch so:
Der Deliquent ging mit viel Ruhe allein auf das Schafott, kniete nieder und betete laut und mit viel Umstand, band sich das Halstuch selbst ab, setzte sich auf den Stuhl und rückte ihn zurecht und schnell und mit großer Geschicklichkeit hieb ihm der Scharfrichter den Kopf ab, sodaß er noch auf dem breidten Schwerdte saß, bis der Scharfrichter das Schwerdt wendete und er herabfiel. Das Blut strömte nicht hoch empor; sogleich öffnete sich eine Fallthür, wo der Körper, der noch ohne eine Bewegung gemacht zu haben auf dem Stuhle saß, hinabgestürzt wurde; sogleich war er unten in einen Sarg gelegt und mit Wache auf die Anatomie getragen.
Brutale Eifersucht und bittere Armut
Drei Jahre vor diesem Ende hatte der gelernte Perückenmacher Johann Christian Woyzeck seine Geliebte Johanna Christiane Woost erstochen. Sie ist Witwe, fünf Jahre älter als er und die Stieftochter seines ehemaligen Lehrherren. Als der in Leipzig geborene Woyzeck nach zwölf Jahren als Söldner 1818 völlig mittellos nach Leipzig zurückkehrt, unterstützt sie ihn offenbar, indem sie eine Schlafstube für ihn zahlt. Woyzeck schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten als Krankenwache und Bedienter eines Studenten durch, er arbeitet auf einem Wollboden und führt kleine Papparbeiten aus – das Perückenmacherhandwerk hat zu dieser Zeit längst ausgedient.
Alle kleinen Jobs aber reichen nicht, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Woyzeck hat immer wieder Phasen von Arbeits- und Obdachlosigkeit, sein Versuch, als Stadtsoldat aufgenommen zu werden, scheitert – und damit auch sein Streben, die Woost(in) zu ehelichen. Die Geliebte betrügt ihn mit anderen Männern. In der Forschung ist umstritten, ob sie als Witwe gezwungen war, sich zu prostituieren.
Frustriert beginnt Woyzeck zu stehlen und wird dafür mit Arrest bestraft. Eine weitere Arreststrafe ist belegt, weil er Frau Woost geschlagen und sie ihn angezeigt hat. Im Frühjahr 1821 ist Woyzeck wieder einmal ohne Obdach, biwakiert im Freien vor den Toren der Stadt, beginnt Stimmen zu hören, er solle die Frau erstechen. Die Woostin, so ist in den Gerichtsakten zu lesen, habe ihm für den 3. Juni ein Rendezvous versprochen, ihn aber mit dem Soldaten Böttcher versetzt. Er irrt ziellos und gekränkt herum, lässt eine abgebrochene Degenklinge in ein Heft stoßen und trägt fortan dieses Messer bei sich. In der Dämmerung begegnet er zufällig der Geliebten, die ihn erneut abweist – da habe, so ist in den Akten zu lesen – "der Gedanke an sein Messer ihn mit aller Macht ergriffen und dergestalt überwältigt, daß er darauf zugestoßen habe ohne zu wissen, was er thue."
Leipzig und das Elend der Pauper
Um Woyzecks Vorgeschichte verständlich zu machen führt Eva Lusch hinein ins Alte Rathaus. Im prächtigen Saal steht mittig ein Stadtmodell von 1825 – vieles, was man über den historischen Woyzeck weiß, lässt sich hier punktgenau verorten. Eva Lusch zeigt am historischen Stadtmodell die Häuser, die mit der Woyzeck-Geschichte verwoben sind. Die Gegend, wo vermutlich der Vater wohnte, der starb als Woyzeck 13 und nun Vollwaise war.
Wo er seine Lehre machte zum Perückenmacher und sein späteres Mordopfer kennenlernte, wo er umherstreunte vor den Toren der Stadt als obdachloser Ex-Soldat, bitterarm nach zwölf Jahren in wechselnden Heeren, auf den Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege. Woyzeck ist einer, an dem sich die Folgen des Massenelends in der Restaurationszeit zugespitzt verdeutlichen, Paupertum nannte man das damals. Und genau das ist es, was ihn für Büchner so interessant macht. "Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?" lässt er in "Dantons Tod" fragen und in einem Brief von 1834 bringt er Woyzecks Tragödie auf diesen Punkt:
Es ist keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen hat.
True Crime 1824: Verbrecher aus Verzweiflung, Mörder aus Ohnmacht?
Woyzeck ist als Soldat der Vater eines unehelichen Kindes geworden. Er konnte die Mutter des Kindes, eine Frau Wienberger in Stralsund, auf Grund der Kriegswirren nicht ehelichen – das habe ihn niedergeschlagen, er sei still und verschlossen geworden, verbittert gegen alle Menschen – und er glaubte, hinter seinem Elend steckten die Freimaurer. Auch die Woostin wollte er heiraten – auch das verhinderten die Verhältnisse, so kann man es aus den Akten lesen: "es sey, obwohl ein ausdrückliches Versprechen nicht Statt gefunden, dennoch ihr beiderseitiger Wille gewesen, sich zu ehelichen, wozu es aber, weil es mit ihm immer nicht fort gewollt habe, nicht gekommen sey."
Der Germanist Alfons Glück ordnet diesen Einzelfall in die Zeitläufte ein:
Woyzecks Schicksal ist ganz aus dem Stoff gemacht wie das der Dahinvegetierenden, des Kanonenfutters in den Kriegen, der Opfer der Epidemien (…) Der Fall Woyzeck hebt sich nur deshalb heraus, weil er als sensationeller Kriminalfall Aufsehen erregte und von der zeitgenössischen Psychiatrie diskutiert und dokumentiert wurde."
Die Frage der (Un)zurechnungsfähigkeit
Der Fall Woyzeck gilt unter Juristen als ein Musterfall für die Frage der Unzurechnungsfähigkeit. Woyzeck hörte Stimmen, hatte körperliche Symptome von Angstzuständen, ganz offenbar auch Verfolgungswahn – das führt im Gerichtsverfahren zunächst zu einer Infragestellung, ob die Todesstrafe angemessen sei.
Femizid oder posttraumatische Belastungsstörung?
Trotz einer weiteren Begutachtung wird er aber unter fragwürdigen Umständen für zurechnungsfähig erklärt, wie Annemarie Riemer vom Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig erzählt: "Dr. Clarus ist kein Richter gewesen, der war Stadtphysikus, ein sehr angesehener Arzt. Es ist auch interessant, dass er tatsächlich zweimal mit diesem Gutachten beauftragt wurde", so Riemer. "Heute würde man das wahrscheinlich anders machen. Man würde eine zweite, eine unabhängige Person hinzuziehen, aber er wird ganz eindeutig ein zweites Mal berufen, was ja vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass er dann doch auch wieder zum gleichen Ergebnis kommt. Also, man könnte es schon mutmaßen, dass er sich ja auch selber diskreditiert hätte, wenn er jetzt mit der gleichen Befragung zu einem anderen Ergebnis kommt."
Das Blut spritzt zur Abschreckung
Die Todesstrafe für einen ganz offenbar kranken Mörder aus Verzweiflung – ein Justizmord an einem hoffnungslos verarmten Mann, dem man heute vielleicht eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren würde? Um das ganze auch symbolisch bedeutsame Ausmaß dieser öffentlichen Hinrichtung zu verstehen hilft ein Blick auf das Plädoyer des Stadtphysikus Clarus:
Möge die heranwachsende Jugend bei dem Anblicke des blutenden Verbrechers, oder bei dem Gedanken an ihn, sich tief die Wahrheit einprägen, daß Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmäßige Befriedigung der Geschlechtslust, und schlechte Gesellschaft, ungeahnet und allmählich zu Verbrechen und zum Blutgerüste führen können.
Die "heranwachsende Jugend" könnte aber entgegnen: Es sind die (von euch geschaffenen) Verhältnisse, die zu Verbrechen führen. Es ist die alte Frage: bestimmt das Bewusstsein das Sein oder umgekehrt das Sein das Bewusstsein. Im Woyzeck jedenfalls steckt auch ein bisschen "Macht kaputt, was euch kaputt macht."
Und wie sieht das "die heranwachsende Jugend" heute? Annemarie Riemer führt regelmäßig Schulklassen auf den Spuren der Woyzeck-Geschichte durch Leipzig. Sie berichtet, dass spätestens, wenn es um die Beziehung zwischen Johanna Christiane Woost und Woyzeck geht, die Schüler den "Generation Z" ganz neugierig werden. Ist er der brutale Frauenschläger oder der von Verlassenheitsängsten geplagte Vollwaise? Riemer sagt, dass seien alles Themen, die junge Menschen kennen würden. "Die kennen Beziehungsdynamiken, die kennen Eifersucht, die kennen zunehmend auch psychische Probleme, die wissen, was Depressionen sind" so Riemer. "Die kennen sich vielleicht sogar schon mit Psychosen aus. Es ist ja auch Sex and Crime. Es ist ja alles drin, was so eine gute Geschichte letztendlich braucht.“