Proteste Wie zuverlässig sind Teilnehmerzahlen von Demonstrationen?
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23. Januar 2024, 17:26 Uhr
Am vergangenen Wochenende haben deutschlandweit mehrere hunderttausend Menschen gegen Rechtsextremismus und die AfD demonstriert. Sozialforscher Stephan Poppe zur Frage, wie Teilnehmerzahlen ermittelt werden.
"Die weniger präzisere Angabe ist oft die zutreffendere", sagt Stephan Poppe vom Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Der Wissenschaftler beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Statistik und hat in der Vergangenheit mehrfach die Größe von Demonstrationen untersucht.
Frage: Bis zu 100.000 Menschen haben Schätzungen zufolge am vergangenen Wochenende allein in Sachsen an Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und die AfD teilgenommen. Wie realistisch sind denn solche Zahlenangaben aus Ihrer Sicht?
Stephan Poppe: Diese Angaben kommen je nach Veranstaltungsort von unterschiedlichen Akteuren. Zum Beispiel geben Veranstalter selbst Teilnehmerzahlen heraus. Da beobachten wir regelmäßig die Tendenz, dass sie den Rahmen natürlich immer großzügig nach oben ausreizen. Das ist auch verständlich, denn sie messen ja ihren Erfolg daran, wie viele Menschen kommen. Dann gibt es aber auch die staatlichen Akteure. Je nachdem, in welcher Stadt oder Bundesland das ist, können das die Ordnungsämter sein oder die Polizei, die oft auch Einschätzungen abgeben. Diese behördlichen Angaben weichen in aller Regel nicht groß nach oben oder nach unten ab und sind im zeitlichen Nachlauf oft die realistischen. Manchmal gibt es aber auch hier gravierende Abweichungen. Deswegen kann ich nicht pauschal beantworten, welche Zahlen realistisch sind. Aber nehmen wir das Beispiel von Leipzig. Dort wurden für den vergangenen Samstag anfänglich 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer geschätzt, dann stiegen die Angaben auf bis zu 70.000. Das war aber sicher stark getrieben von den Veranstaltern. Man kann jetzt versuchen, die Angaben zu plausibilisieren, indem man die Flächen schätzt. Der Marktplatz ist ziemlich genau ein Hektar groß, hat also 10.000 Quadratmeter. Nimmt man eine hohe Personendichte von zwei Menschen pro Quadratmeter an, müssten allein dort schon 20.000 Menschen gewesen sein. Dann gab es aber auch im Umfeld noch viele Menschen, die nicht mehr auf den Markt gekommen sind, weil dort kein Platz mehr war. So kann man plausibilisieren, dass es eine Untergrenze von mindestens 20.000 bis 30.000 Menschen gibt, die an der Demonstration teilgenommen haben.
Frage: Welche Daten oder Hinweise braucht man denn, um Teilnehmerzahlen wirklich einschätzen zu können?
Stephan Poppe: Bei so einer großen Demonstration ist es kaum möglich, dass man die Menschen einzeln zählt. Das ist schon selbst im mittleren Bereich von 10.000 bis 20.000 Personen sehr schwierig. Deshalb muss man auch hier auf Methoden zurückgreifen, die erlauben, eine Schätzung abzugeben. Bei einer stationären Kundgebung ist eine relativ gute Standardmethode, dass man mit Überblickbildern von oben, also vom Dach von Wohngebäuden oder meinem Drohnenbild, sehen kann, auf welcher Standfläche die Demonstranten stehen. Das können beispielsweise 20.000 Quadratmeter sein. Und dann ermittelt man, wie dicht die Menschen stehen. Nehmen wir an, da stehen ungefähr 1,5 Menschen pro Quadratmeter. Wenn diese 1,5 Mal 20.000 Quadratmeter nimmt, landet man bei einer Punktschätzung von 30.000 Personen. Dann muss man eine solche Schätzung qualifizieren: Vielleicht können wir die Fläche nicht genau abschätzen oder es gibt auch bei der Personendichte große Schwankungen. Deswegen nehmen wir einen Abweichungsfehler an und der kann bis zu 20 Prozent in beide Richtungen betragen.
Frage: Wie wichtig sind denn genaue Angaben über die Teilnehmerzahlen aus Ihrer Sicht? Was sagt diese Zahl überhaupt aus?
Stephan Poppe: Genauigkeit ist hier vielleicht ein schwieriger Begriff, denn da gibt es zwei Dimensionen. Einerseits Präzision, dass ich genau sagen kann, es waren 20.000 Menschen. Das ist präziser, als wenn ich sage, es waren ungefähr 15.000 bis 20.000 Menschen. Aber dann ist die Frage, ob diese Zahl wirklich zutrifft. Deswegen ist es paradoxerweise so, dass oft die weniger präzisere Angabe die zutreffendere ist. Und das berücksichtigen wir in der Wissenschaft auch. Wir geben zwar auch Punktschätzungen ab, kommunizieren dann aber Größen, über die wir uns nicht sicher sind, in der Form von Intervallen. Ist eine exakte Zahl wirklich relevant? Für den Diskurs ist am Ende nicht so entscheidend, ob es 21.000 oder 20.000 oder 19.000 Menschen waren. Entscheidender ist die Größenordnung, wenn wir den Bereich kennen, also zwischen 15.000 und 25.000 Teilnehmern, im Vergleich zu 5.000 bis 10.000.
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