Überschwemmungsmücken Kamikazeflieger auf Blutjagd – wieso sind die Mücken gerade so eine Plage?
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15. September 2021, 12:25 Uhr
Die Mücken machen beim Insektensterben eindeutig nicht mit, jedenfalls nicht in Halle und Umgebung, aber auch aus Leipzig und Dresden werden Attacken gemeldet. Natürlich wissen wir, dass Mücken wichtig sind fürs Ökosystem, Futter für andere Tiere, egal ob als Larve oder fertige Mücke. Das Sirren der Biester just dann, wenn man es sich gemütlich gemacht hat, treibt den Puls in die Höhe wie der Startschuss beim 100-Meter-Sprint: Der sportliche Teil des Abend ist eingeläutet. Was ist da los?
Von einer Mückenplage in Halle und Umgebung (woher die meisten Meldungen zu kommen scheinen) ist aus biologischer Sicht keine Rede: "Das ist endlich mal wieder ein normales Jahr, da ist alles im grünen Bereich in Halle", sagt Mückenforscherin Dr. Doreen Werner vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) im Gespräch mit MDR WISSEN. Also keine Mückenplage? "Von Mückenplage sprechen wir in der Mückenforschung erst ab 20 Mückenstichen pro Minute". Aber was ist da los, spinnen die Hallenser, sind es also nur gefühlt so viele Mücken in diesem Sommer?
Mücken: mehr Stiche und schlimmere Quaddeln?
Tatsächlich nicht so falsch der Gedanke. Nicht, dass die Hallenser spinnen, aber dass die vermeintliche Mückenplage in diesem Spätsommer mit der Wahrnehmung der Menschen zu tun hat. "Nach mehreren Jahren Trockenheit im Sommer mit wenig Mücken haben wir einfach vergessen, wie nervig Mücken und ihre Stiche sind. Und außerdem ist die persönliche Toleranzgrenze, ab wann Mücken beim Grillabend als nervig empfunden werden, bei jedem anders", sagt die Wissenschaftlerin. Dass die Einstichstellen schlimmer jucken als früher, die Quaddeln auf der Haut größer sind, ist das auch nur so ein gefühltes früher-waren-die-Stiche-nicht-so-schlimm? Auch dafür hat Mückenforscherin Werner eine Erklärung. Es liegt an den verschiedenen Mückenarten: "An den Proteincocktail der Hausmücken sind wir gewöhnt, weil wir ihm jedes Jahr begegnen. Auf den Proteincocktail der Überschwemmungsmücke reagiert der Körper stärker, weil er ihn kaum kennt."
Mücken und ihre Jahreszeiten
Überschwemmungsmücke? "Wir unterscheiden in der Mückenforschung grob in drei große Gruppen", erläutert Dr. Werner: "Wald- und Wiesenmücken, Hausmücken, Überschwemmungsmücken." Insgesamt haben wir es in Deutschland mit 52 verschiedenen Stechmückenarten zu tun, sagt die Forscherin, die invasiven Arten eingeschlossen. Wobei man wissen sollte: Verschiedene Mückenarten treten zu verschiedenen Jahreszeiten auf.
Mücken-Mathematik: Schwindelerregende Zahlen
Die Forschung unterscheidet in univoltine, bivoltine und multivoltine Mücken, also solche, die eine, zwei oder mehr Generationen pro Jahr hervorbringen. Die Wald- und Wiesenmücken zum Beispiel bringen pro Jahr nur eine Generation hervor, nämlich im Frühjahr. "Mit denen haben wir es im September nicht mehr zu tun, die sind univoltin", sagt Mückenexpertin Werner. Die Hausmücken dagegen überwintern und sorgen das ganze Jahr über für Nachkommen. Sie rechnet vor: "Mutter Mücke kommt nach den Frostnächten im März aus ihrem Winterquartier und legt erste Eipakete ab. Sie kann 300 Eier legen. Bei einem Geschlechterverhältnis von 1:1 haben wir dann 150 Weibchen, die sich in drei, vier Wochen entwickeln. Sie leben vier bis sechs Wochen, haben in der Zeit fünf, sechs Blutmahlzeiten und nach der Verdauung legt Mutter Mücke neue Eier ab. So kann ein Haus-Mückenweibchen in ihrem Leben 1.800 bis 2.000 Eier legen." Also eine ganz schöne Hausnummer, wenn man das weiter rechnet.
Haben Mücken zu wenig Fressfeinde?
Ein Glück, dass es in der Natur jede Menge Fressfeinde gibt – neben Fliegenklatschen, Büchern und fliegenden Kissen, die ausgewachsene Mücken beseitigen. In der Kinderstube der Mücken, also in Teichen, Tümpeln oder Wasserlöchern lauern Libellenlarven oder Moderlieschen, die Mückenlarven fressen. Wer es da rausschafft, hat längst noch keinen Tropfen Blut ergattert. Im Trockenen lauern Frösche, Salamander, Eidechsen und fliegende Insektenfresser wie Mehlschwalbe und Co. Gibt es also vielleicht zu wenig Mücken-Fresser in Halle und Umgebung? Der NABU in Magdeburg verneint: Auffällige Daten gab es in Sachsen-Anhalt nicht bei der Zählung der Sommervögel 2021. Was auch daran liegen könne, dass in Sachsen-Anhalt generell nicht besonders viele bei den NABU-Vogelzählungen mitmachen. Die Gesamtzählung in Deutschland zeigt aber, dass die Zahl der insektenfressenden Vogelarten auch im Sommer 2021 im Sinkflug bleibt, besonders bei Mauerseglern, Mehlschwalben, Trauerschnäppern und Grauschnäppern.
Was Sie über die Überschwemmungsmücke wissen sollten
Und jetzt? Biologin Doreen Werner winkt rigoros ab. "Das vergessen wir mal ganz schnell, das sind keine wissenschaftlich gesicherten Daten. Schauen wir lieber auf die Überschwemmungsmücken. Die Weibchen legen an Flussläufen, Seen, kleinen Bächen, wo der Wasserstand um Millimeter schwankt, ein paar Zentimeter über dem Wasser am Rand ihre Eier ab. Die Weibchen wissen, wo potentiell Wasser kommen könnte, da können die Eier jahrelang liegen. Und wenn dann Wasser kommt, geht die Entwicklung los." Nicht wie die langlebigen Hausmücken, die Geduld und Zeit haben, wenn es um die Blutjagd geht, Motto: Saug ich heute nicht, saug ich morgen. Überschwemmungsmücken haben Zeitdruck, sagt Doreen Werner: "Das sind die Kamikaze-Flieger unter den Mücken, die fliegen los und stechen! Wenn es immer wieder regnet, schaffen Überschwemmungsmücken auch mehrere Generationen in einem Jahr."
Auch woanders sirren mehr Mücken
Und genau das erlebt man dieses Jahr in Halle, aber auch anderen Regionen Sachsen-Anhalts, wie beispielsweise Timm Karisch vom Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Dessau berichtet. Der Biologe hat in früheren Beobachtungsreihen Mückenpopulationen in Gewässern analysiert. Im Sommer 2021 hat er beobachtet, dass sich die Zahl der fliegenden Stechmücken unterschiedlich entwickelt hat: "Es gibt Bereiche wie die Oranienbaumer Heide mit fünf bis 15 Anflügen pro Minute, in den frühen Abendstunden; am Mulderand bei Dessau dagegen maximal nur ein bis drei. Bei Massenvermehrungen hatten wir in der Vergangenheit aber zum Teil Anflüge von mehr als 100 Stechmücken pro Minute."
Mücke: Fangen, einfrieren, einschicken!
"Die Natur freut sich", fasst Mückenforscherin Werner den Sommer 2021, seine Niederschläge samt Mücken forsch zusammen, "das sollten wir Menschen auch tun." Und wenn wir eine erwischen, können wir sie ihr auch gerne schicken, fügt sie hinzu, denn "jetzt kommt der Werbeteil, deswegen rede ich so lange mit Ihnen. Kennen Sie den Mückenatlas?" Klar kennen wir den: Man kann Mücken, wenn man die zierlichen, fragilen Körper nicht mit dem Kissen erdückt hat, hier einschicken. Dann nimmt Dr. Werner die toten Stecher unter die Lupe, denn sie analysiert, registriert und kartiert Deutschlands Mücken: "Alle Mücken in dem Atlas sind durch meine Hände gegangen, ich habe jede einzelne bestimmt. Wenn Sie auffällige Exemplare finden, kommen wir hin und kartieren vor Ort. Wenn Mücken zerquetscht sind, kommt unser Kooperationspartner des Mücken-Atlas-Projekts, das Friedrich-Loeffler-Institut, ins Spiel. Die können per DNA-Analyse die Mücken-Art bestimmen," sagt die Expertin.
Wer sich die Mühe macht, eine erlegte Mücke einzuschicken, wird auf Wunsch in die öffentliche Karte der Sammler aufgenommen. "Allerdings nicht, wenn man Libellen, Käfer, Flöhe, Wanzen oder Schmetterlinge, einschickt", stellt die Forscherin klar. Solch seltsame Einsendungen seien leider gar nicht so selten. Die Ausbeute der eingeschickten Exemplare aus dem MDR-Sendegebiet ist in diesem Jahr bislang übrigens ziemlich dürftig: Bisher wurden 27 Mücken aus Sachsen, 20 aus Sachsen-Anhalt und 24 aus Thüringen eingeschickt.
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