Wissen, was wir lesen Was hat die Mücke je für uns getan?
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27. Dezember 2020, 15:00 Uhr
"Humorvoll, leicht verständlich und wunderbar anschaulich", so beschreibt Ricarda Wenge die Herangehensweise der Autorinnen Frauke Fischer und Hilke Oberhansberg an das Thema Biodiversität. Zwei lange Zugfahrten hat das Buch die MDR WISSEN-Autorin in seinen Bann gezogen – jetzt stellt sie es als Empfehlung der Woche vor. Und berichtet, was die Mücke mit einer Wandelnden Geige oder einer Bauchwehkoralle zu tun hat.
Worum geht es?
Nicht nur um die Mücke! Wie so oft im Leben lohnt es sich auch bei diesem Buchtitel, das Klein(er)gedruckte zu lesen: Denn es geht um uns alle! Menschen, Tiere, Pflanzen, Lebensräume. Die biologische Vielfalt. Frauke Fischer und Hilke Oberhansberg beschreiben, wie wir alle voneinander abhängig sind – im Guten wie im Schlechten. Dabei lassen die Autorinnen keinen Zweifel daran, dass es uns nicht egal sein kann, wenn die Mücke auf einmal die Fliege macht.
Wir teilen uns die Erde mit schätzungsweise acht Millionen (!) weiteren Arten: Dem Schokoladen-Fruchtzwerg, der Wandelnden Geige, der Bauchwehkoralle und vielen anderen. Sie sind nicht nur unser Drumherum. Ohne sie wären wir ziemlich aufgeschmissen. Das Buch erklärt, wie Arten entstehen und wieder verschwinden, wie wir Biodiversität beeinflussen und was passieren muss, damit wir die faszinierende Vielfalt auf unserem Planeten nicht weiter, ob bewusst oder unbewusst, gefährden.
Wie schafft es das Buch, mich zu fesseln?
Deutschland hat über 83 Millionen Einwohner. Diese Zahl kann ich im Schlaf. Aber hätte mich jemand vor der Lektüre dieses Buches gefragt, wie viele (bekannte) SäugetierARTEN – nicht Säugetiere! – es hierzulande eigentlich genau gibt, ich hätte passen müssen. Genauso hätte ich die Zahl der Vogel-, Reptilien-, Amphibien-, Pflanzen- und Pilzarten nur grob schätzen können. Erst durch das Buch ist mir diese Wissenslücke überhaupt bewusst geworden. Zum Glück! Denn obwohl Deutschland aufgrund seiner geografischen Lage ein vergleichsweise eher artenarmes Land ist, tummelt sich hier viel Leben – eben nicht nur die eine Art Mensch.
Die Autorinnen schaffen es über 224 Seiten hinweg, ihre Leserinnen und Leser mit Zahlen, Fakten und Vergleichen zu verblüffen. Wissen Sie, was Ökosysteme alles für die Menschen leisten? Die Liste ist lang: Sie ernähren uns, liefern wertvolle Rohstoffe und Arzneien, reinigen Wasser und Luft, schützen uns vor Fluten, schenken Erholung für Körper, Geist und Seele. Manche dieser Services können wir teuer und aufwendig ersetzen, andere gar nicht.
Wer hat's geschrieben?
Eine Biologin und eine Umweltwissenschaftlerin: Frauke Fischer ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Hilke Oberhansberg hat Interdisziplinäre Umweltwissenschaften studiert und arbeitet heute im Bereich Umweltbildung und -beratung.
Wie ist es geschrieben?
Humorvoll, leicht verständlich und wunderbar anschaulich! So anschaulich, dass die Leser nach der Lektüre kein Problem haben sollten, Begriffe wie Parthenogenese, Hybridisierung und Zoonose anderen locker-flockig zu erklären. Oder warum nur wenige Arten keine Basis für funktionierende Ökosysteme sind – da mögen von jeder Art noch so viele Individuen existieren: "Das wäre wie eine Stadt, in der es nur Maurer und Köche gäbe – egal, wie viele unterschiedliche Maurer oder Köche dort lebten, es wäre niemand da, der Kinder unterrichtete, Fahrräder reparierte oder Kranke versorgte. Das wäre einfach zu wenig (Arten-/Berufs-)Vielfalt, um das Ökosystem ›Stadt‹ am Leben zu halten."
Ich habe das Buch auf zwei langen Zugfahrten verschlungen und dabei weder Notiz von meinen Mitreisenden genommen noch von der Schutzmaske vor Mund und Nase – und das, obwohl auch das Coronavirus zwischen den Buchdeckeln auftaucht.
Was bleibt hängen?
Dass das Tiefseeanglerfischweibchen der Art Ceratias holboelli 60-mal größer und 500.000-mal schwerer ist als das Männchen! Respekt! Wie sähe das wohl bei uns Menschen aus …?
Vergessen werde ich auch nicht, dass Europäische Hummer dank eines Enzyms nicht altern und so selbst mit über 70 noch topfit sind. Oder dass sich alle Geparde der Welt aufgrund ihrer genetischen Ähnlichkeit problemlos gegenseitig Organe spenden könnten. Oder dass sich Finn- und Blauwale nur miteinander paaren, weil sie nicht mehr genug Artgenossen finden. Oder dass die Frage ungeklärt ist, ob Amseln aus Münster tatsächlich mit all den Amseln aus München, Mailand und Manchester (vermutlich auch aus Magdeburg, Meißen oder Meiningen) fortpflanzungsfähige Jungtiere produzieren können – und folglich zu einer Art gehören.
Und zu guter Letzt natürlich: Die Mücke ist mehr als ein Plagegeist oder Krankheitsüberträger! Um auf den Buchtitel zurückzukommen: Sie hat viel für uns getan. Und tut dies noch immer. Gerade Schleckermäuler sollten ihr dankbar sein. Aber haben wir überhaupt das Recht dazu, die Natur nach ihrem Nutzen für uns zu bewerten? Ist die Mücke in der Bringschuld? "Was ist", sinnieren die Autorinnen, "wenn wir die Frage umdrehen und die Mücke mal fragt: 'Was hat der Mensch je für uns getan?‘" Hätten wir sofort eine Antwort parat? Und was würden wir anderen Fragestellern erwidern – dem Tiger, dem Feldhasen, dem Zitronenfalter?
Die Rezensentin Ricarda Wenge liebt Sprachen: Fremdsprachen, Bildsprachen, Mitsprachen.
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