Exotisch anmutende Blumen und Pflanzen im Vordergrund, steinige Fläche ohne Gletschereis im Hintergrund
Wenn das Eis geht, kommen die ersten "Pionier-Pflanzen", hier im Mont-Blanc-Massiv. Bildrechte: Jean-baptiste Bosson, Asters-CEN74

Klimawandel Gletscher: Rasanter Rückgang – und Platz für Neues?

17. August 2023, 10:17 Uhr

Forschende haben den Rückgang des weltweiten Gletschereises bis zum Ende des Jahrhunderts modelliert. Bis dahin könnte die Hälfte der jetzigen Fläche verloren gehen – und zwar ohne Antarktis und Grönland. Sie schärfen aber nicht nur den Blick für das, was verloren geht – sondern auch das, was entsteht.

Wenn es um Gletscher geht, wachsen bekanntlich die klimawandelbedingten Sorgenfalten: Zuletzt war sogar die Erkenntnis, dass Grönland schon mal vor hunderttausenden Jahren nahezu eisfrei gewesen sein könnte, keine gute. Der sonstige Kanon: Schmelze schneller als erwartet, veränderte Nährstoffversorgung im Ozean, Gefahr durch Sturzfluten, das alles auch bei "nur" 1,5 Grad. Und so richtet sich der Blick auf die Rettung der empfindlichen Eispanzer – durch Einhalten der Klimaziele und zur Abwechslung auch mal mit künstlichem Schnee. Teile des Eises sind aber bereits verloren, oder werden verloren sein, da gibt's kein Dranruckeln. Und danach?

Forschende aus Frankreich und der Schweiz haben bemerkt, dass sich niemand so recht um das Danach zu scheren scheint. Was passiert, wenn der Gletscher fort ist? Die Ergebnisse eines Gletscher-Evolutionsmodells liegen jetzt im Fachblatt Nature vor. Das Modell ist in der Lage, neben der globalen Gletscherschmelze auch die Merkmale von Ökosystemen vorherzusagen, die dann dort entstehen werden, wo mal das Eis das Sagen hatte – auch in Meeres- und Süßwassergebieten.

Unentwegte Schmelze bis 2040

Erstmal geht das Modell davon aus, dass die Gletscherschmelze bis 2040 unentwegt voranschreitet, ganz egal, wohin sich unsere Bestrebungen in der Eindämmung des Klimawandels entwickeln. Ab 2040 weichen die Schätzungen dann je nach Szenario voneinander ab. Bei einem Szenario mit hohen Emissionen (bei dem sich die globalen Treibhausgasemissionen bis 2075 verdreifachen) könnte bis 2100 etwa die Hälfte der Gletscherfläche von 2020 verloren gehen, so die Forschenden. Die Eisschmelze könnte jedoch durch ein Szenario mit geringen Emissionen (bei dem bis 2050 eine Netto-Null-Emission erreicht wird) eingedämmt werden, wodurch sich dieser Verlust auf etwa 22 Prozent reduzieren würde.

Ansicht leicht von oben: hochalpine Gebirgslandschaft mit zentralem hohen Berg, weitere im Hintergrund, davor teilweise enteistes Gestein und kleiner leuchtend türkisfarbener See.
Gletscherrückgang am Mont-Blanc-Massiv Bildrechte: Jean-baptiste Bosson, Asters-CEN74

Durch die Entgletscherung werde bis zum Ende des Jahrhunderts eine Fläche freigelegt, die in etwa der Größe von Nepal und Finnland entspreche. (Die Eisschilde Grönlands und der Antarktis sind hier ausgenommen, weil es für deren Verhalten noch keine angemessenen Modelle gibt.) Diese Lebensräume werden als 78 Prozent terrestrisch, 14 Prozent marin und acht Prozent im Süßwasser befindlich eingestuft. Möglicherweise lernen wir in diesen freigelegten Flächen Arten kennen, die bisher vom Eis unter Verschluss gehalten wurden – wie zuletzt eine Moos-Population, die vierhundert Jahre übergletschert war. In diesen Gebieten macht die Natur zudem die Not zur Tugend. Sie könnten kälteangepassten Arten, die durch die Erderwärmung an anderer Stelle verdrängt wurden, Zuflucht bieten.

Schutz neuer Ökosysteme gefordert

Die Forschenden plädieren dafür, nicht nur die Vergletscherung zu begrenzen, sondern auch diese neuen Ökosysteme im Blick zu haben. Dazu zählt auch deren Schutz. Aus gutem Grund: In einer redaktionellen Bewertung der in Nature vorgestellten Erkenntnisse wird auf das Potenzial dieser postglazialen Ökosysteme hingewiesen – für die Kohlenstoffbindung selbst und die Erforschung ihrer Rolle als künftige Kohlenstoffsenken. Die Entwicklung solcher Ökosysteme könne jedoch extrem langsam und komplex sein, heißt es im Blatt. Langsam, weil sie Jahrtausende dauern könne und damit viel länger als die Agenda jeglicher Erhaltungspläne. Und komplex, weil Arten auf Veränderungen positiv, negativ oder gar nicht reagieren können.

Die Studie ist ein erster Schritt, Glaziologen, Klimatologen und Ökologen müssen künftig an einem ordentlichen Strang ziehen, um zu verstehen, was der immense Gletscherrückgang für Folgen mit sich bringt – und was die Folgen wären, wenn man die Folgen außer Acht lässt. Gemäß dem Motto: Wenn man schon das eine kaputt macht, muss es ja nicht auch noch das sein, was daraus entwächst.

flo

Links/Studien

Die Studie Future emergence of novel ecosystems caused by glacial retreat erschien am 16. August 2023 in Nature.

DOI: 10.1038/s41586-023-06302-2

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