Klimawandel Kipppunkte: Kippt jetzt die Gewissheit, wann der Golfstrom kippt?
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10. August 2024, 05:00 Uhr
Auftauende Permafrostböden in Sibirien, das Schmelzen des westantarktischen Eisschilds oder ein steigender Meeresspiegel, der den warmen Golfstrom aus dem Takt bringt: Wenn wir über den Klimawandel sprechen, dann sprechen wir auch – zuletzt häufiger – über Klimakipppunkte, ab denen es kein Zurück mehr gibt und ein System kollabiert. Eine neue Studie zweifelt die zwar nicht an – aber die Tatsache, dass man sagen könne, wann es soweit ist. Schauen wir uns an, warum das eine schlechte, aber auch eine gute Nachricht ist.
- Ein steigender Meeresspiegel könnte dazu führen, dass der Golfstrom wackelt und Europa seine Wärmepumpe verliert
- Wann das passiert, ist absolut unsicher – entgegen einer früheren Studie, die dieses Szenario für die nächsten Jahrzehnte in Aussicht gestellt hat
- Diese Erkenntnis heißt aber weder Aufatmen noch Kopf in den Sand
Auch, wer bei Klimathemen sonst nur mit den Schultern zuckt, wird bei diesem Szenario wohl ganzkörperlich zusammenzucken müssen. Ganz schnell ausgeträumt ist der heimliche feuchtwarme Traum von Kokospalmen an Nord- und Ostsee. Denn für Europa könnten eisige Zeiten anbrechen, wenn der Golfstrom ins Wanken gerät. Aus warm wird kalt – eine Studie aus dem Sommer 2023 ließ da aufhorchen: Bereits in den nächsten Jahrzehnten könnte es damit losgehen und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bis zum Ende des Jahrhunderts. Grund, der Meeresspiegel steigt und die Atlantische Umwälzzirkulation – kurz AMOC – wird gestört.
"Das heißt, das ist nicht unwichtig, was mit der AMOC passiert", sagt Gerrit Lohmann, der Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven ist und sich schon seit Jahren mit der Umwälzbewegung befasst. Denn wenn die Warmwasserzufuhr aus der Karibik ausbleibt und kein kaltes Wasser zurückfließt, werden nicht nur die nordamerikanischen Gewässer viel zu warm. Sondern der Nordatlantik büßt auch an Fähigkeit ein, CO2 aufzunehmen, was die ganze Sache noch unglücklicher werden lassen würde. Was allerdings ein Versiegen des Golfstroms bis 2100 betrifft: "Ich habe das ehrlicherweise nie geglaubt, dass man solche Kipppunkte vorhersagen kann."
Wann kippt der Golfstrom? – Kippunkte haben ihre Grenzen
Kipppunkte sind für Gerrit Lohmann eher eine Metapher komplexer Szenarien, leicht verständlich, aber zeitlich längst nicht so genau zu bestimmen. "Wenn man ein bisschen ruckelt, passiert noch nichts. Wenn man irgendwann über eine Schwelle kommt, dann kann man auch nicht mehr zurück. Das ist ein sehr intuitives Konzept." Aber es hätte eben seine Grenzen. "Also auch bei der AMOC kann ich nur sagen, aus unseren Studien, bei der großskaligen Zirkulation, da sehen wir diese Kipppunkte eigentlich nicht." Dabei sei es sinnvoll, ein großes System auch in kleinere zu zerlegen: "Wenn man regionale Zirkulationsmuster anguckt, dann gibt es in der Tat solche Art Kipppunkte."
Die Vorhersage eines Kippzeitpunktes ist eigentlich nicht möglich, auch wenn es natürlich schön wäre, wenn das ginge.
Auch Niklas Boers, Klimaforscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und der TU München war skeptisch, was eine präzise Vorhersage in Sachen Golfstrom betrifft. Er und sein Team haben nachgerechnet, im Fachblatt Science Advances: Der Golfstrom könnte wirklich schon bald kippen. Oder halt erst in 6000 Jahren.
"Was wir jetzt gezeigt haben, ist, dass diese Vorhersage eines Kippzeitpunktes eigentlich nicht möglich ist, auch wenn es natürlich schön wäre, wenn das ginge", so Boers. Die Forschenden haben dazu bestehende Unsicherheiten in die Ergebnisse der Golfstrom-Studie vom vergangenen Sommer eingerechnet und kommen zu dem Schluss: Eine Vorhersage von Klimakipppunkten ist eine mehr als heikle Angelegenheit und irgendwie auch eine sinnlose. Niklas Boers zufolge könnten daraus nämlich auch falsche Schlüsse gezogen werden: "Dann kreiert das einen Pessimismus, dass man aufgibt, CO2-Emissionen einzusparen, weil man sagt, es ist eh schon zu spät."
Ungewisse Kipppunkte: Kein Futter für Klimaskepsis, sondern ein weiteres Argument für stärkeren Klimaschutz
Trotz aller berechtigter Hoffnung machen die Erkenntnisse von Boers und Team die Ausgangslage aber auch nicht gerade entspannter. Im Gegenteil: "Unser Ergebnis ist in keiner Form, dass das Risiko kleiner geworden ist oder dass man sich darum nicht so kümmern müsste, sondern dass es noch dramatischer ist, als wenn wir solche Kippzeitpunkte sicher angeben könnten."
Auch Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut sieht in den neuen Erkenntnissen nichts, was Skeptikerinnen und -skeptikern in die Arme spielen könnte: "Klimaskeptiker können alles aufgreifen, überall in der Wissenschaft gibt es Wenn und Aber." So läuft das eben im Fachdiskurs. Und da wundert es kaum, dass Lohmann so auch eine Kritik an der Kritik, also eine Einschränkung der Studie von Boers und Team, zum Besten geben kann: So könne man nicht davon ausgehen, dass die Auswirkungen der nordatlantischen Umwälzbewegung auf die Meeresoberflächentemperatur in den nächsten tausenden Jahren gleich blieben, gerade dann, wenn die Arktis eisfrei wird und das Grönlandeis abschmilzt. "Das heißt zum Beispiel, dass bei der Umwälzbewegung sich heutige Strömungsgebiete ganz verschieben können und vielleicht auch neue Zweige der Ozeanzirkulation neu entstehen können. Das legen zumindest neue, hochauflösende Simulationen nahe."
Unsichere Zeitpunkte für Kipppunkte, sichere Chance
An der Grundaussage rüttelt das jedoch nicht. Und die lässt sich Studien-Mitautor Niklas Boers zufolge sogar als gute Nachricht auslegen – auch für den Golfstrom: "Also wir haben auf jeden Fall noch die Chance, solche Ereignisse zu vermeiden und das sollten wir auch betonen." Denn ein Kampf gegen die Erderwärmung heißt eben auch, eiskalte europäische Winter zu verhindern.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 11. August 2024 | 13:12 Uhr
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