Jährlicher Bericht: "Horizon Scan" 15 Zukunfts-Themen für den Naturschutz im kommenden Jahr
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08. Januar 2024, 13:12 Uhr
Die antarktische Eisschmelze, Saudi-Arabiens geplante ultrahohe Wolkenkratzerstadt und das Seeigel-Sterben gehören zu den 15 wichtigsten Naturschutz-Problemen, die der "Horizon Scan" der Cambridge Conservation Initiative in den Fokus rückt. Die Initiative veröffentlicht den Horizon Scan bereits seit 2009. Sie sucht nach Problemen und Themen, die uns künfitg beschäftigen könnten und sich aktuell bereits am Horizont abzeichnen.
Der Horizon Scan identifiziert jedes Jahr die wichtigen neuen Themen für den Naturschutz. In diesem Jahr waren 31 Forschende, Menschen aus der Praxis und politisch Verantwortliche an dem Projekt beteiligt. Die Probleme, die der Scan in diesem Jahr identifiziert habe, ergeben sich wieder aus den von Menschen verursachten Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und wie wachsenden technologischen Möglichkeiten, diese Folgen abzuschwächen. Das schreiben die Forschenden in dem Bericht: "In einigen Fälle ergeben sich neue Probleme direkt aus den Bemühungen, andere Probleme zu entschärfen."
Die fünfzehn Themen, die im Horizon Scan als wichtige Bedrohungen oder Chancen für den Naturschutz identifiziert wurden, sind:
1) Neue Wasserstoffquellen für die Energieerzeugung, einschließlich Meerwasserelektrolyse
Bislang wird der meiste Wasserstoff aus Erdgas hergestellt, man spricht dann von braunem oder blauem Wasserstoff. Daneben gibt es noch die Herstellung von Wasserstoff mittels Süßwasser-Elektrolyse (grüner Wasserstoff) sowie die Gewinnung aus natürlichen Quellen unter der Erdkruste (weißer Wasserstoff). Die Gewinnung von weißem Wasserstoff erfordert Bohrungen in großen Gebieten und möglicherweise die Entwicklung von Transportinfrastruktur in bislang ungestörten Ökosystemen. Das sehen die Forschenden als Gefahr für die Umwelt an. Grüner Wasserstoff hingegen könnte künftig auch via Meerwasser-Elektrolyse hergestellt werden, was den Druck auf die Süßwasservorräte in dieser Hinsicht mindert. Allerdings entstehen dabei starke Salzlösungen und überschüssiger Sauerstoff, die ebenfalls Konsequenzen für unsere Umwelt haben können.
Wenn wir künftig mehr Wasserstoff verwenden, ist es besonders wichtig, die entsprechende Wasserstoffdichte Infrastruktur dafür zu haben, betonen die Forschenden. Ansonsten können Treibhausgase wie Methan entweichen.
2) Dekarbonisierte Ammoniakproduktion
Ammoniak wird hauptsächlich als Düngemittel verwendet, die Produktion des Stoffes ist derzeit energieintensiv und nutzt fossile Brennstoffe. Ein neues Verfahren zur Ammoniakherstellung könnte das verändern: Hier werden Wassertröpfchen auf ein magnetisches, mit Eisenoxid beschichtetes Graphitnetz gesprüht. Stickstoff oder Luft werden als Vernebelungsgase verwendet. Durch diesen neuen Ansatz könnte die Ammoniakproduktion dekarbonisiert werden, was die mit dem Stoff verbundenen Emissionen erheblich reduzieren könnte.
Vorsicht sei aber dennoch geboten, betonen die Forschenden im Horizon Scan: Eine allgegenwärtige Versorgung mit Ammoniak könne erhebliche negative Umweltauswirkungen haben. Die Beeinflussung des globalen Stickstoffkreislaufs durch den Menschen trage schon jetzt zum Artenschwund sowie der Verschlechterung der Luftqualität bei.
3) Fischähnliche Nährstoffe
Die Produktion von Nahrungsmitteln ist eine der Hauptursachen für den weltweiten Verlust der biologischen Vielfalt und eine Frage für die Zukunft lautet: Woher bekommen wir unser Eiweiß? Eine wachsende Zahl an Unternehmen arbeitet aktuell daran, Proteine mit Bakterien zu erzeugen. Diese werden in Bioreaktoren gezüchtet und stellen dabei Biomasse her, die ein ähnliches Nährwertprofil wie Soja oder Fisch hat, geschmacksneutral ist und in viele Lebens- und Futtermittel integriert werden kann. In Singapur sind entsprechende Lebensmittel bereits für den Verzehr zugelassen. Die Autoren der Horizon Scan-Studie sehen in einer solchen fossilfreien Methode der Proteinerzeugung eine Möglichkeit, die steigende globale Nachfrage nach Proteinen mit weniger schädlichen Umweltfolgen zu erfüllen.
Über künstliches Fleisch haben wir hier schon einmal ausführlich berichtet:
4) Indoor-Landwirtschaft und künstliche Photosynthese
Die biologische Vielfalt leidet darunter, dass weltweit immer mehr Flächen für den Anbau von Nutzpflanzen erschlossen werden. Dazu kommt, dass die pflanzliche Photosynthese zwar ein kleines Wunder der Natur ist, aber nicht besonders effizient: Lediglich ein Prozent der bei den Pflanzen ankommenden Sonnenenergie wird verwertet. Deswegen wachsen sie teilweise sehr langsam. Mittlerweile gibt es diverse Ideen, die Photosynthese zu verbessern. Ein Ansatz, den die Autorinnen und Autoren des Horizon Scan vielversprechend finden, kommt von Elizabeth Hann: Pflanzen werden in hydroponische Gefäße mit einem Acetat gegeben. Dieses Acetat aus Wasser, Elektrizität und Kohlendioxid ersetzt die Glukose, die bei der herkömmlichen Photosynthese entsteht und verbraucht wird. Die nötige Elektrizität wird in diesem Verfahren beispielsweise über Photovoltaik generiert. Das klingt ein wenig paradox, tatsächlich ist diese künstliche Photosynthese aber 18-mal effizienter als die biologische. Die Pflanzen brauchen dann kein Sonnenlicht mehr und können in vollkommener Dunkelheit wachsen. Damit könnten sie beispielsweise auch gut und platzsparend in mehrstöckigen Gebäuden in den Städten wachsen. Erfolgreich angewendet wurde das Verfahren bislang bei Algen, Hefe und Pilzen.
Einen Bericht über die künstliche Photosynthese im Dunkeln gibt es hier auf dem Portal SciTechDaily.
5) Remineralisierung von Kohlenstoff, beispielsweise mit Basalt
Gesteinsstaub, wie beispielsweise Basalt, kann CO2 aus der Atmosphäre binden. Wird er fein vermahlen auf landwirtschaftlichen Flächen ausgebracht, kann das neueren Studien zufolge die Ernteerträge erhöhen. Die Menge an gebundenem CO2 ist nicht unwesentlich. Das könnte dazu führen, dass die Technologie in vielen Regionen angewendet wird, so die These im Horizon-Abschlusspapier. Die möglichen Nebeneffekte sind bisher kaum absehbar. Stammt der Basaltstaub beispielsweise aus Baumaterialien oder Bergbauabfällen, könnte das gesamte Ökosystem mit Schwermetallen belastet werden. Außerdem verringert sich durch den Gesteinstaub der Säuregehalt der Böden. Er könnte die Verschlammung und Trübung von Süßwasser-, Küsten- und Meereslebensräumen erhöhen und sich negativ auf Arten auswirken, die an Böden mit niedrigem pH-Wert angepasst sind.
Über die kontroverse Rolle von Basalt als Klimaschützer haben auch unsere Kolleginnen und Kollegen vom ORF berichtet.
6) Sterbende Regenwürmer
Regenwürmer spielen eine wichtige Rolle im Nährstoffkreislauf, der Bodenfruchtbarkeit und tragen so zur weltweiten Nahrungsmittelproduktion bei. In den vergangenen 25 Jahren ist die Regenwurmpopulation um 33 bis 41 Prozent zurückgegangen. Das betrifft vor allem landwirtschaftliche Flächen und Laubwälder. Schuld am Regenwurmsterben könnte der Einsatz von Pestiziden sein, detailliertere Forschung fehlt aber noch. Ein starker Rückgang der Population hätte erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Böden, die Struktur und Funktion der Ökosysteme und die Bereitstellung von Ökosystemleistungen. Das könnte sich wiederum auf Artenvielfalt und Chemie im Boden auswirken.
7) Bodenökoakustik
Akustische Technologien werden aktuell bereits routinemäßig eingesetzt, um die Anwesenheit diverser Tiere im Boden zu beurteilen. Die Bodenökoakustik ist eine vergleichsweise neuere Anwendung der Technologie. Geräusche, die im Boden ermittelt werden können, sind beispielsweise das Fließen von Wasser oder die Vibrationen verschiedener Tiere, die sich durch den Boden bewegen und miteinander kommunizieren. Die Technologie könnte dabei helfen, umfassende Informationen über wirbellose Bodentiere zu erfassen. Diese Informationen gibt es bislang noch nicht, obwohl davon auszugehen ist, dass diese Tiere (wie beispielsweise der oben erwähnte Regenwurm) einen großen Einfluss auf das Ökosystem haben. Geräuschsignaturen könnten so auch Schlussfolgerungen über die Bodenqualität ermöglichen. Das hoffen die Forschenden. Damit Bodenökoakustik im großen Stil eingesetzt werden kann, müssten die Methoden jedoch zunächst weiter verbessert und standardisiert werden.
8) Aerosole durch Waldbrände
In vielen Regionen der Welt werden Waldbrände vermutlich häufiger und größer werden. Das könnte auch Konsequenzen haben, an die wir jetzt noch nicht sofort denken: Bei der Verbrennung entstehen Aerosole, die wiederum Klimaschwankungen beeinflussen und eine Verschiebung der Positionen von Hoch- und Tiefdruckgebieten zur Folge haben können. Ein Beispiel ist das Klimaphänomen El Niño. Ein Anstieg der Aerosolkonzentration durch die Verbrennung von Biomasse (in der Landwirtschaft und durch Waldbrände) kann zur Abkühlung der Meeresoberfläche und zur Entwicklung einer La Niña-Phase führen. La Niña ist quasi das Gegenstück zu El Niño, beide Phänomene beeinflussen das Klima im Pazifik. Verändern sich diese Klimamuster durch verbrannte Biomasse, kann das schwerwiegende Folgen für diverse Ökosysteme haben. Das betrifft beispielsweise die Verfügbarkeit von Nahrung, zur Veränderung der Ausdehnung und Qualität verschiedenster Lebensräume.
9) DNA-Drucker
Ideen für DNA-Drucker gibt es bereits seit einigen Jahren. Nun sind diese Drucker so weit, dass sie doppelsträngige DNA herstellen können. In fünf Jahren könnten die Drucker damit auch Sequenzen drucken, die denen eines kleinen viralen Genoms entsprechen. Eine zentrale Regulierung oder Aufsicht gibt es für die Drucker nicht. Direkte Anwendungen könnten beispielsweise die Verwendung von Gene Drives (Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Genteile vererbt werden) oder die Verbesserung und Verringerung von Populationen sein. So könnte man mit der Technologie die Wärmetoleranz von Korallen verbessern und die Population so widerstandsfähiger machen. Eine große Gefahr bestehe darin, dass gedrucktes Material beispielsweise auf Wildpopulationen übertragen wird. Die Forschenden hinter dem Horizon Scan sehen hier eine größere Gefahr, betonen jedoch auch, dass sie davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen hier vermutlich stärkere neue Gesetze anstoßen werden.
10) Neue Methoden zur Messung der Toxizität von Chemikalien
Insektizide wie Neonicotinoide werden synthetisch hergestellt und können häufig noch Jahre nach ihrem ersten Einsatz erhebliche und unvorhergesehene ökologische Auswirkungen haben. Hier könnte man künftig früher Bescheid wissen: Neue Mechanismen können die potenzielle Toxizität neuer Chemikalien schon erkennen, bevor ihre Auswirkungen beobachtet werden. Dabei geht es darum, sämtliche unerwünschte Wirkungspfade (Adverse Outcome Pathways) für einen Stoff abzuschätzen. Dabei wird beispielsweise berücksichtigt, wie ein Stoff absorbiert wird, wie er sich verteilt und wie er auf molekularer Ebene wirkt. Fortschritte im Bereich der KI, des maschinellen Lernens und der Deep-Learning-Methoden können das Abschätzen aller unerwünschten Wirkpfade verbessern und beispielsweise verhindern, dass ein Gift auf Arten wirkt, die ursprünglich eigentlich nicht das Ziel waren.
11) Saudia-Arabiens ultrahohe Wolkenkratzerstadt
Saudi-Arabien möchte eine neue Megastadt bauen und hat ein 26.500 Quadratkilometer großes Gebiet dafür ausgewiesen. Zu dem Projekt gehört auch "The Line", eine Wolkenkratzerstadt, die neun Millionen Menschen beherbergen soll. Die Stadt wird als nachhaltiges Projekt vermarktet. Dennoch bedeuten ihre Dimensionen, ihr Design (verspiegelte Fassaden und potenzielle Windturbinen auf den Dächern) sowie ihre Ost-West-Ausrichtung an der Spitze des Roten Meeres, dass "The Line" ein erhebliches Risiko für Zugvögel darstellen wird, schätzen die Expertinnen und Experten im "Horizon Scan". Sie schätzen, dass ungefähr 2,1 Milliarden Zugvögel betroffen sein könnten. Das betrifft über 100 Arten, die jedes Jahr von Europa nach Afrika ziehen und für die dieses Gebiet einen Engpass darstellt. Die Vorbereitungen für den Bau der Stadt sind bereits angelaufen.
12) Seeigelsterben
2022 gab es in der Karibik und im Mittelmeer ein großes Massensterben, bei dem 99 Prozent der langstacheligen Seeigel abgestorben sind. Das führte dazu, dass die Korallenriffe in der Region vom Algenwachstum überwältigt wurden. Im östlichen Mittelmeer starb parallel dazu ebenfalls eine weitere Seeigel-Art ab. Auch frühere Seeigel-Sterben hatten erhebliche Auswirkungen auf die Ökosysteme. Warum es zu dem Sterben im Mittelmeer kam, ist noch nicht bekannt. Womöglich ist aber ein giftiger Einzeller daran beteiligt. Die Forschenden befürchten, dass der Seeigel-Schwund auf eine neue Bedrohung für tropische Ökosysteme hinweisen könnte. Wenn das Seeigel-Sterben mit den gestiegenen Umweltbelastungen wie Hitze im Meer zusammenhängt, wäre das ein Zeichen dafür, dass künftig schlimmere Massensterben und Krankheiten in den Ökosystemen auftreten könnten.
13) Entfernung von CO2 aus den Ozeanen
Wenn die Erderwärmung auf maximal zwei Grad begrenzt werden soll, ist eine drastische Verringerung der Emissionen notwendig. Das bedeutet zum einen, dass Kohlenstoff in der Atmosphäre selbst reduziert werden muss. Weil die Ozeane 50-mal mehr Kohlenstoff als die Atmosphäre enthalten und CO2 mit der Luft austauschen, wird ebenfalls versucht, CO2 im Meer zu reduzieren. Diskutiert werden Technologien wie Ozeandüngung oder die Injektion von Kohlendioxid in marine Felsformationen. Die Wirksamkeit der Technologien für die langfristige Speicherung von Kohlenstoff ist noch nicht erwiesen. Die möglichen Umweltfolgen sind ebenfalls noch nicht ausreichend erforscht. Regierungen erforschen bereits, wie diese Ansätze ab 2030 eingesetzt werden könnten, während private Investoren und Start-Ups bereits jetzt versuchen, unverzügliche Genehmigungen zu bekommen. Es zeichnet sich ab, dass der Markt an Kohlenstoffkompensation sehr schnell wachsen wird, was mit Umweltfolgen einhergehen könnte.
14) Steigende Temperaturen in der Dämmerungszone
Die Dämmerungszone unserer Ozeane liegt in 200 bis 1.000 Metern unter der Wasseroberfläche und macht etwa ein Viertel des gesamten Ozeanvolumens aus. Diese Zone gilt als besonders reich an Leben und beherbergt die größten Fischbestände. Dieser Teil der Meere ist auch eine Art Kohlenstoffpumpe. Biologisches Material wird durch die Dämmerungszone nach unten transportiert und Kohlenstoff gebunden. Steigen die Temperaturen in den Meeren an, erwärmt sich auch die Dämmerungszone. Parallel dazu nimmt die Effizienz der biologischen Kohlenstoffpumpe ab, was auch bedeutet, dass weniger biologisches Material in die Tiefe gepumpt wird und als Nahrung zu den Organismen der Tiefsee gelangt. Außerdem werden biologische Stoffe in den Ozeanen schneller zersetzt, wenn es dort wärmer ist. Das verringert wiederum das Potenzial der Meere, CO2 längerfristig zu binden.
15) Antarktische Eisschmelze und Umwälzung
Der Klimawandel wirkt sich in der Antarktis vorausichtlich nicht nur auf die Eisfläche aus, sondern auch auf die Umwälzung von Meeresströmungen. Eine Strömung, die in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle spielt, ist die antarktische abyssale Umwälzung. Verringert sich durch das Abschmelzen des Eises der Salzgehalt im arktischen Meerwasser, so könnte sich durch diese Veränderung die abyssale Umwälzung bis 2050 um 40 Prozent verringern. Das wiederrum würde sich auf Nährstoffflüsse, den Sauerstoffgehalt der Ozeane und das globale Klima auswirken.
Links/Studien
- Den kompletten Horizon Scan zum Nachlesen gibt es hier im Journal Trends in Ecology and Evolution.
- Die Forschung zur effizienten Photosynthese im Dunkeln ist hier verlinkt.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 29. November 2023 | 06:30 Uhr
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