Komplexitätsforschung Bahn-Verspätung: Auf der Suche nach den frechen Influencer-Zügen
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15. Dezember 2024, 10:00 Uhr
Verspätungen und Zugausfälle sind das alles bestimmende Gefühl der Bahnreisenden in Deutschland. Das Problem ist hochkomplex. Forschende in Österreich zeigen jetzt, wie man Licht in die komplizierte Verbandelung und das Netzwerk der Verspätungen bekommt – zumindest in der Alpenrepublik.
Das Schöne an der Bahn ist ja, dass es nie langweilig wird: Im Gesamtranking also solides Mittelfeld. Mit diesem Tabellenplatz der DB in einer europaweiten Erhebung zum Zustand der Fernverkehrsbahnen hätte unter den bahnleiderprobten Deutschen wohl kaum jemand gerechnet. An der Deutschen Bahn ist also nicht alles schlecht. In Sachen Zuverlässigkeit landet sie aber auf einem verdienten vorletzten Platz, auch das zeigt die vorliegende Untersuchung der European Federation for Transport and Environment – ein Dachverband europäischer Umweltorganisationen mit Sinn für nachhaltigen Verkehr.
Drin steht außerdem, dass auch bei den europäischen Nachbarinnen und Nachbarn nicht alles rosig läuft, etwa in Österreich. Bei den ÖBB ist die Pünktlichkeit zwar nicht unterirdisch, aber allenfalls durchschnittlich. "Als Netzwerk ist ein Eisenbahnsystem ein komplexes System und diese Bahnsysteme haben sich in den letzten zwanzig Jahren in Europa stark verändert." Das sagt Stefan Thurner vom Complexity Science Hub (CSH), einer österreichischen Forschungseinrichtung für Komplexitätsfragen. Er verweist darauf, dass das mit der Eisenbahn in Europa über die Jahrzehnte komplizierter geworden ist. Früher gab es eben Strecken, die von einem Westbahnhof in Richtung Westen, von einem Nordbahnhof in Richtung Norden oder – wie in Meiningen und Leipzig – von einem Bayerischen Bahnhof in Richtung Bayern bedient wurden. (In Paris ist das heute noch so. Reisende aus Deutschland kommen immer am Nord- oder Ostbahnhof an.)
Über die Jahre hat man begonnen – zum Wohlgefallen der Kundschaft –, diese Bahnhöfe vielerorts zusammenzulegen und damit die Idee des Hauptbahnhofs geboren. "Man hat somit ein Netzwerk geschaffen", sagt Thurner. "Und nachdem das entstanden ist, gibt es jetzt plötzlich die Möglichkeit, dass ein Zug in Lissabon Verspätung hat und sich das in Hamburg auswirkt."
Eisenbahn: Komplexes Netzwerk mit vielen Einzelbausteinen
Stefan Thurner hat von Berufs wegen ein Faible für Netzwerke. Am CSH in Wien werden Systeme erforscht, die durch viele Einzelbausteine zusammenhängen – und eben sehr komplex sind, so wie die Eisenbahn. Das führt dazu, dass auch das System der Verspätungen sehr vielschichtig ist. Um herauszufinden, woran es genau liegt, könnte man etwa das Bahnsystem eines Landes komplett simulieren. "Also, dass man, so wie mit einer Spielzeugeisenbahn im Keller, ein nationales Bahnsystem im Computermodell nachbaut."
Verspätungen sind nur ein kleiner Teil des ganzen Netzes
Und zwar mit allen Faktoren, von der Personalsituation bis zur Weichenstellung. Hier ein passendes Modell zu entwickeln, wäre mit einem immensen Rechenaufwand verbunden, sagt Thurner, die nötige Rechenleistung würde nicht ohne Weiteres zur Verfügung stehen. Aber: "Die Verspätungen sind nur ein kleiner Teil des gesamten Infrastruktur-Netzes, des ganzen Logistik-Netzwerks, des ganzen Personalaufwands."
Man findet die Züge relativ leicht, die die größten Verspätungen in einer Folgewirkung erzeugen.
So ziemlich genau zeitgleich mit der Erhebung des Zustands der europäischen Bahnen, haben Thurner und Team jetzt eine Variante vorgelegt, mit der sich die Ursachen für Verspätungen viel effizienter finden lassen als bisher. Der Trick: Das Modell basiert eben nicht auf dem Netzwerk des gesamten Bahnbetriebs, sondern beschränkt sich auf die Frage, wie Verspätungen in einem Netz miteinander verbandelt sind.
Zugverspätung: Influencer. Kaskade. Domino.
"Man findet diese Züge relativ leicht, die die größten Verspätungen dann in einer Kaskade, in einer Folgewirkung erzeugen. Die nennen wir Influencer-Züge, weil sie die anderen Züge mit ihrer Verspätung anstecken." Diese Influencerzüge sind also im Grunde Dominosteine, die eine ganze Reihe weiterer Dominosteine umkippen lassen. Dabei zeigte sich: Die Züge kurz vor und während der ersten Rushhour sind dabei besonders kritisch. Das Forschungsteam führt dazu ein Beispiel an: Wenn etwa ein Zug, der um 14 Uhr abfahren soll, auf eine Lokomotive angewiesen ist, die von einem Zug benutzt wird, der um 8 Uhr abgefahren ist, kann jede Verspätung des früheren Zuges den späteren Zug erheblich beeinträchtigen.
Der Vorteil an der Netzwerksimulation der Komplexitätsforschenden in Wien ist, dass sie relativ schnell sehen können, was passiert, wenn man das System ändert – also etwa einzelne Züge hinzugibt: "Wir haben für Österreich errechnet, dass, wenn wir 37 neue Züge dazugeben würden ins System, dann können wir damit rechnen, dass die Verspätungen bis zu vierzig Prozent reduziert werden", so Thurner. Angesichts von tausenden Zügen am Tag, ist das eine Quote, die sich sehen lassen kann. Nicht eingeflossen in das Modell sind fehlende Daten zu Personalverschiebungen. Allerdings ist es so konzipiert, dass diese und weitere Faktoren später ergänzt werden können, um das Ergebnis zu verfeinern.
Verspätung-Modell auch auf andere Bahngesellschaften anwendbar
Die beste Simulation zur Verhinderung von Verspätungen nützt natürlich nichts, wenn sie eine Simulation bleibt. Die ÖBB wollten sich zum Resultat vorerst nicht äußern – in einem schriftlichen Statement heißt es aber, mit dem Modell hätte man ein zusätzliches Werkzeug, um das Pünktlichkeitsziel zu erreichen.
"Das kostet natürlich, bedeutet wahrscheinlich einen sehr großen Aufwand, aber das Potenzial ist riesig", sagt Stefan Thurner. Die größte Herausforderung in der Analyse der Daten ist es, die erstmal an Ort und Stelle zu bringen. Personenverkehrsdaten, Personaldaten, Logistikdaten, Güterverkehrsdaten – das alles seien gut verteilte Datensätze, die erstmal zusammengefasst werden müssten. Wenn das gelingt, lässt sich das effiziente Modell aus Wien lässt aber weitestgehend problemlos auf andere, auch viel größere Netzwerke anwenden – etwa das der Deutschen Bahn. Auch, um die Tabellenposition im europäischen Bahnranking ein bisschen zu bereinigen. Oder vielleicht die der portugiesischen Eisenbahn. Die schneidet hinsichtlich Verlässlichkeit nämlich noch schlechter ab.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 15. Dezember 2024 | 11:35 Uhr
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