Eingang der Höhle von Arma Veirana
Das Säuglingsgrab von Neve am Eingang der Höhle Arma Veirana. Bildrechte: Dominique Meyer

Archäologische Sensation 10.000 Jahre: Älteste Mädchen-Bestattung Europas entdeckt

20. März 2024, 13:46 Uhr

In einer Höhle in Ligurien hat ein internationales Forscherteam die älteste Bestattung eines weiblichen Säuglings in Europa entdeckt. Neve nannten sie das Kind, das vor 10.000 Jahren kurz nach der Geburt starb, aber mit großen Ehren beigesetzt wurde. Der Fund beweist nach Ansicht seiner Entdecker, dass in der Mittelsteinzeit selbst jüngste "Frauen" als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt waren.

Vor 10.000 Jahren wurde in einer Höhle in den ligurischen Voralpen im Nordwesten des heutigen Italiens das Mädchen Neve beigesetzt. Das Leben des Säuglings war hart und kurz. Bereits 40 bis 50 Tage nach der Geburt starb das Kind. Eine detaillierte Histologie seiner im Kiefer angelegten Milchzahnkronen zeigt, dass das Wachstum der Zähne 47 und 28 Tage vor der Geburt kurzzeitig stoppte. Es ist ein Beweis dafür, dass Neve bereits im Mutterleib großem Stress ausgesetzt war.

Achtung für weiblichen Säugling

Illustration der Bestattung des weiblichen Säuglings Neve mit Schädel Perlen und Muscheln
Die Illustration der Bestattung von Neve zeigt die Platzierung der Grabbeigaben mit dem Schädel des Säuglings. Bildrechte: Claudine Gravel-Miguel

Doch auch wenn Neves Leben nur von kurzer Dauer war, offenbart ihre Beisetzung doch, welche Achtung ihr von ihrer Gruppe entgegenbracht wurde. Denn in der Höhle Arma Veirana, in der die Bestattung des Säuglings 2018 ausgegraben wurde, fand ein internationales Forscherteam um die Paläoanthropologin Prof. Jamie Hodgkins von der University of Colorado Denver neben den sterblichen Überresten des Kindes auch beeindruckende Grabbeigaben. 60 Muschelperlen, vier Anhänger und eine Adlerkralle wurden dabei entdeckt.

Eine Analyse des Schmucks zeigte die Sorgfalt, die in jedes einzelne Stück investiert wurde. Viele der Schmuckstücke wiesen Abnutzungserscheinungen auf, die beweisen, dass sie von Gruppenmitgliedern an Neve weitergegeben wurden. All dies lässt die Wertschätzung erahnen, die dem verstorbenen Kind entgegengebracht wurde.

Moderne Protein- und DNA-Analysen

Dass es sich bei Neve um einen weiblichen Säugling handelte, konnten Hodgkins und Kollegen durch die Analyse des Amelogenin-Proteins und der antiken DNA ihrer sterblichen Überreste nachweisen. Demnach gehörte sie zu einer europäischen Frauenlinie, die als U5b2b-Haplogruppe bekannt ist. Neves Alter von 10.000 Jahren wurde durch eine Radiokarbondatierung ermittelt. Damit handelt es sich um die älteste dokumentierte Bestattung eines kleinen Mädchens in Europa überhaupt.

Im Moment haben wir die älteste identifizierte weibliche Kinderbestattung in Europa.

Prof. Jamie Hodgkins, University of Colorado Denver EurekAlert

Kinderbestattungen besonders selten

Forschungsleiterin Jamie Hodgkins und ihr Team am Neve-Grab
Forschungsleiterin Jamie Hodgkins und ihr Team am Neve-Grab. Bildrechte: Dominique Meyer

Aber nicht nur wegen des hohen Alters ist Neves Bestattung eine wissenschaftliche Sensation, sondern auch wegen der Epoche, in der sie stattfand. Denn Neve lebte und starb im Mesolithikum. Die auch als Mittelsteinzeit bekannte Epoche folgte auf die letzte Eiszeit und war die letzte Periode in Europa, in der Jagen und Sammeln die wichtigsten Formen des Lebensunterhalts bildeten. Bestattungspraktiken aus dieser Zeit sind nach Angaben von Hodgkins bisher weniger bekannt. Zudem seien Kinderbestattungen besonders selten, "sodass Neve wichtige Informationen beisteuert, um diese Lücke zu schließen."

Weibliche Säuglinge als vollwertige Personen

Nach Ansicht von Hodgkins dürfte die Grabpflege von Neve noch aus einem ganz anderen Grund sehr bedeutsam sein. Zusammen mit einer früher dokumentierten Bestattung eines ähnlich alten Mädchens in Alaska könnte sie darauf hindeuten, dass die Anerkennung weiblicher Säuglinge als vollwertige Personen ihre Ursprünge in einer in Europa und Nordamerika verbreiteten Ahnenkultur hatte, so die Paläoanthropologin. Neve zeige, dass selbst die jüngsten "Frauen" in ihren damaligen Gesellschaften als vollwertige Personen anerkannt wurden.

Neue Analyse-Methoden revolutionieren Archäologie

Hodgkins beklagte vor diesem Hintergrund, dass die historische Archäologie vor allem durch eine männliche Brille betrachtet wurde. In der westlichen Gesellschaft seien die Archäologen davon ausgegangen, dass große Anführer und Krieger stets männlich waren. Doch DNA-Analysen hätten mittlerweile die Existenz von weiblichen Wikinger-Kriegern und mächtigen Anführerinnen aus der Bronzezeit bewiesen.

Hodgkins verwies darauf, dass man ohne moderne Protein- und DNA-Analysen möglicherweise auch das reich ausgestattete Säuglingsgrab von Neve für das eines männlichen Säuglings gehalten hätte. Der Fund einer Bestattung wie der von Neve sei ein Grund, die Vergangenheit der Archäologie kritischer zu betrachten, so die US-Professorin.

Die Studie von Hodgkins uns ihren Kollegen aus den USA, Italien, Kanada und Deutschland ist in der Fachzeitschrift Nature Scientific Reports erschienen.

(dn)

Ausgrabungsfund in einem Erdloch 4 min
Bildrechte: Anne Sailer
4 min

Die Archäologie in Sachsen-Anhalt brütet über einem ungewöhnlichen Fund: Ein Kind, das vor knapp 4.000 Jahren mit reichen Grabbeigaben bestattet wurde. MDR-WISSEN-Reporterin Anne Sailer war vor Ort.

MDR KULTUR - Das Radio Do 26.08.2021 17:51Uhr 03:58 min

https://www.mdr.de/wissen/audios/grab-sauegling-archaeologie-bronzezeit-halle100.html

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